Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Juni 2025

Vor dem SPD-Parteitag: Eine Partei auf der Suche nach sich selbst

Der starke Mann der SPD, Lars Klingbeil, steht vor seinem wohl schwierigsten Parteitag. Er muss sich selbst und die vergangenen Monate erklären. Vor allem aber: Schafft er es, einer tief verunsicherten Partei wieder eine Perspektive zu vermitteln?

Es herrschte zwischendurch dicke Luft, als Generalsekretär Tim Klüssendorf in der vergangenen Woche in einem Video-Call auf Hunderte von Parteimitgliedern traf. „Ich kann meinen Unmut kaum in akzeptable Worte fassen“, schleuderte ihm eine Genossin entgegen. Bisweilen würden die Mitglieder angesprochen „wie Sechsjährige, die nicht wirklich begabt sind“. Andere Zugeschaltete äußerten sich nur bedingt höflicher. Längst hat Klüssendorf, der sich am Freitag zum Generalsekretär wählen lassen will, die sozialdemokratische Wirklichkeit ereilt. Und die lässt sich so beschreiben: Die Stimmung schlecht, die Perspektive mau, die Programmatik nicht auf der Höhe der Zeit – und die Umfragen stagnieren auf anhaltend niedrigem Niveau.

Zwei Tage später bekam auch Co-Parteichef Lars Klingbeil beim Parteitag der sächsischen SPD in Dresden sein Fett weg. „Billige Machtmanöver“ und „Taschenspielertricks“ warfen ihm Delegierte vor. Eine Juso-Vertreterin rief: „Nach diesem Wahlergebnis wäre radikale Selbstkritik erforderlich gewesen.“ Tapfer stellte sich der Parteichef dem Zorn. Es war nicht der erste Landesparteitag in den vergangenen Wochen, der ihn so empfing. Es war zugleich ein Vorgeschmack dessen, womit er auf dem Parteitag rechnen muss, der an diesem Freitag in Berlin beginnt.

Und auch wenn das Willy-Brandt-Haus die Unruhe eifrig herunterzuspielen versucht: Es herrscht Nervosität in der Parteizentrale. Denn vieles ist kaum vorauszusehen: Mit welchem Ergebnis werden die beiden Parteivorsitzenden bedacht? Kommt Klingbeil an die 80 Prozent heran? Und wie groß wird der Unterschied zu Mitbewerberin Bärbel Bas ausfallen? Bei welchem Thema werden die Unzufriedenen ihren Frust artikulieren? Wie überschattet der Mindestlohn den Konvent, nachdem die Kommission für Freitagmittag zu einer Pressekonferenz eingeladen hat? Was ist, wenn keine Einigung zustande kommt? Gibt es heikle Initiativanträge zu Gaza oder zum Iran-Konflikt? Und wie tritt der Landesverband NRW in Erscheinung, der immer noch ein Viertel der Delegierten stellt, die zwischen Selbst-Appellen zur Geschlossenheit und Frust-Aufwallungen hin- und herschwanken? An Rhein und Ruhr herrscht wenige Wochen vor der Kommunalwahl erhöhte Nervosität.

Denn trotz der Erfolge, die die SPD-Unterhändler in den Koalitionsverhandlungen unstrittig erzielt haben, eine tief sitzende Unzufriedenheit hat weite Teile der Partei erfasst. Das Thema Verteilungsgerechtigkeit ist im jahrelangen Bemühen um Regierungsfähigkeit auf der Strecke geblieben, der Bundeswehretat explodiert, der BMZ-Etat schrumpft, das 0,7-Prozent-Ziel ist gecancelt, der Familiennachzug ebenso, die Unternehmen werden aus Sicht vieler Genossen gestreichelt, Bürgergeldempfänger geschurigelt.

Auf fundamentale Fragen wie die Migration, das Klima, Rente, Pflege, Gesundheit oder das Megathema Gerechtigkeit hat die Partei keine schlüssigen Antworten. Jedenfalls empfinden das viele Genossen so, die an Infotischen und in den Fußgängerzonen kaum mehr argumentationsfähig sind. Und über allem schwebt deshalb die ungeklärte Frage: Wofür steht die Partei eigentlich noch? Und wie wird sie trotz der undankbaren Rolle als Juniorpartner in einer Koalition wieder erkennbar?

Der Parteitag soll nun eine Wende einleiten. Laute Töne und vollmundige Versprechen wird es kaum geben. Eher Selbstkritik, viele Fragen und den Versuch einer Standortbestimmung. Der Vertrauensverlust sei nun mal tief „und betrifft die Partei insgesamt“, heißt es demütig im Leitantrag.

„Wir haben uns zu sehr auf die Regierungspolitik zurückgezogen“, bekennt auch Tim Klüssendorf. Teilweise hätten die Verhandler in den Koalitionsgesprächen „extrem schmerzhafte Kompromisse mit der Union“ eingehen müssen. Und er räumt auch Defizite in der Kommunikation ein: „Wir sind da immer wieder zu stark an der Regierungspolitik dran.“ Unter seiner Regie soll sich gerade in dieser Hinsicht einiges ändern in der Positionierung der Partei. Könnte sein, dass der Vizekanzler dem Koalitionspartner demnächst das eine oder andere erklären muss.

Die Parteitagsstrategen haben einiges unternommen, um die Risiken zu minimieren. Sie haben die mutmaßlich heikelsten Punkte – Wahl der Vorsitzenden, Aufarbeitung der Wahlniederlage, Generalaussprache – gleich in den ersten Tag gepackt, um sich den Ärger unter den Delegierten gar nicht erst aufstauen zu lassen. Sie haben vorsichtig die Autoren des umstrittenen Russland-Manifests kontaktiert, um deren Pläne für den Parteitag auszuloten, sie sind gewappnet, um mit Textpassagen und eigenen Anträgen heiklen Spontanvorstößen zu begegnen. Auch die Wehrpflicht dürfte Debatten auslösen, weil beträchtliche Teile der Partei auf absolute Freiwilligkeit setzen. Der Verteidigungsminister wiederum braucht 60.000 Soldaten zusätzlich.

Besonders im Blickpunkt wird allerdings der Auftritt von Parteichef Lars Klingbeil stehen. Er hat das schlechteste Wahlergebnis seit 140 Jahren zu verantworten – und sich dennoch noch am Wahlabend zum starken Mann der Partei aufgeschwungen. Immerhin, noch einmal hat er die SPD in eine Große Koalition gerettet. Noch einmal darf sie sieben Ressorts besetzen – deren Hauptaufgabe allerdings bis auf den Verteidigungsminister vor allem darin bestehen, den Mangel zu verwalten.

Viel wird von seinem Auftritt abhängen. Kann er sein Agieren vom und seit dem Wahlabend überzeugend erklären? Wie verhält er sich zu Kollegin Saskia Esken? Vor allem aber: Kann er den Delegierten die Idee einer Zukunft vermitteln, die über ein überzeugendes Regierungshandeln hinausgeht? Kann er einen Pfad skizzieren, der eine inhaltlich-ideelle Erneuerung der Partei beschreibt und bei den wundgeriebenen Delegierten doch nochmal einen Hoffnungsüberschuss anstößt?

Klingbeil hat länger an seiner Rede gefeilt. Er wird sich bemühen, der SPD als Partei der Arbeit wieder Konturen zu verschaffen. Er wird seine Personalpolitik zu erklären versuchen, sein Bemühen, die Wahlniederlage aufzuarbeiten, einen Generationenwechsel einzuleiten und vor allem Genossinnen und Genossen zu promoten, die volksnah unterwegs und in der Lage sind, ihren Wahlkreis direkt gewinnen. Und er wird wohl das Russsland-„Manifest" der Parteilinken nutzen, um sein Selbstverständnis zu erklären. Ob das reicht?

Denn im Grunde sind die Rahmenbedingungen für die frühere Volkspartei beängstigend: Im Osten hat sie kaum noch Strukturen. Die Mitglieder sind in ihrer Mehrheit massiv überaltert, das gültige Parteiprogramm ist von 2007, ein neues noch Jahre entfernt, die Parteikasse ist leer, und weil die Wahlergebnisse zuletzt schlecht wie nie waren, hat der Schatzmeister gerade einen der undankbarsten Jobs in der Organisation. Keine guten Aussichten also.

Auch sonst warten undankbare Aufgaben auf den Parteichef: Er muss den Ex-Kanzler verabschieden, dem immer noch viele wegen seiner Dickköpfigkeit bei der Kandidatenaufstellung das desolate Wahlergebnis anlasten. Und noch schwieriger: Er muss Saskia Esken aus dem Amt geleiten, die ihn jahrelang mit maximaler Loyalität begleitet hat. Sie hat das Wahlergebnis genauso zu verantworten wie er – aber er schwang sich zum Vizekanzler auf und sie stieg zur Vorsitzenden des Bundestags-Bildungsausschusses herab.

Esken hat es ihren Kritikern oft leicht gemacht, aber noch keine SPD-Führungskraft ist mit so viel Missachtung aus den eigenen Reihen bedacht worden. Klingbeil hat sich nicht daran beteiligt – aber am Ende hat er sie fallen lassen. Begründung: Erneuerung und Verjüngung der Partei. Noch einmal wird sie bei ihrem Abschied gute Miene zum bitteren Spiel machen, auch sie wird ein Adieu-Video bekommen, aber die würdevolle Verabschiedung, die sie sich eigentlich gewünscht hätte, wird ihr nicht zuteil werden.

So wird es am Wochenende offen und indirekt immer wieder um die Frage gehen, wer diese Traditionspartei SPD eigentlich noch ist. „Wofür die SPD im Kern steht, an wessen Seite sie kämpft und welche Ziele sie dabei verfolgt, das scheint ihr selbst nicht mehr klar zu sein“, notierten soeben in den „blättern“ der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Thorben Albrecht und das Mitglied der Grundwertekommission, Christian Krell. Diese Unklarheit werde „auch nicht allein durch Regierungshandeln überwunden“. „Ein taugliches Narrativ weist über den Tag hinaus“, schreiben sie.

Daran fehlt es der Partei seit langem. Vertieft hatten sich im vergangenen Jahr in einem Buch auch die SPD-Kenner Gerd Mielke und Fedor Rose mit der Malaise beschäftigt. Die Partei müsse sich „mit dem weit verbreiteten Gerechtigkeitsempfinden der Menschen auseinandersetzen“, hatten sie empfohlen. Zu lange habe die Partei sich nicht mit sich und ihren Entwicklungsmöglichkeiten befasst, sondern: „Das Regieren oder – in der kurzen Oppositionszeit – die Regierungsfähigkeit stehen stets im Mittelpunkt.“ Auch so sind die letzten Wahlergebnisse zu erklären.

Zumindest der Sonntag dürfte für die dann neue Parteiführung einigermaßen spannungsfrei verlaufen. Auf der Tagesordnung steht eine Debatte über ein AfD-Verbotsverfahren. Auf den Kampf für Demokratie und Nationalismus können sich alle verständigen: Grundlegend strittige Auseinandersetzungen sind bei diesem Thema kaum zu erwarten.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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