Wer dabei war, wird die Szene nie vergessen, die Videosequenz davon ist auch fast zehn Jahre danach ein Dokument seltener politischer Brutalität: CSU-Chef Horst Seehofer kanzelt auf dem CSU-Parteitag 2015 die neben ihm auf der Bühne stehende Angela Merkel wie ein Schulmädchen ab. Fast 15 Minuten lang muss die CDU-Vorsitzende mit verschränkten Armen und versteinerter Miene die Strafpredigt Seehofers wegen ihrer Flüchtlingspolitik über sich ergehen lassen. Genützt hat Seehofer die Machtdemonstration bei seinen eigenen Leuten damals nichts. Bei seiner Wiederwahl zum CSU-Vorsitzenden erhält er nur 87,2 Prozent – für CSU-Verhältnisse ein schwaches Ergebnis. Und ein Zeichen dafür, dass Seehofers Macht in der CSU zu erodieren begann.
In der Geschichte der oft komplizierten Gemengelage zwischen CDU und CSU ragt Seehofers Affront gegenüber Merkel heraus. Aber einfach waren die Besuche von CDU-Vorsitzenden auf den Parteitagen der kleineren Schwesterpartei nie. Immer wieder spiegelten sie die persönlichen Rivalitäten, aber auch die Kräfteverhältnisse in der Union wider. CSU-Parteitage mit ihren über 1000 Delegierten haben sich sehr oft als zuverlässiges Stimmungsbarometer erwiesen.
Helmut Kohl und Franz Josef Strauß etwa verband eine tiefe Männerfeindschaft. Strauß hielt von Kohl nichts, wie er 1976 in seiner legendären „Wienerwald-Rede“ deutlich machte, in der er Kohl als „total unfähig“ bezeichnete. Kohl wiederum erwies sich nach dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 als gewiefter Machtpolitiker und verweigerte Strauß seinen Traumjob als Außenminister. Der blieb zunehmend verbittert in München und attackierte die schwarz-gelbe Koalition unentwegt, obwohl seine CSU ihr selbst angehörte. Auf CSU-Parteitagen hatte Kohl trotzdem nichts zu befürchten. Auch zu Lebzeiten von Strauß wurde der CDU-Kanzler, wenn er kam, freundlich empfangen. Nach dem Tod von Strauß hielt Kohl dort oft regelrecht Hof und genoss den Applaus der Bayern in vollen Zügen. Es war, als ob der Padrone zu Besuch kam. Die CSU-Delegierten spürten ganz genau: Der starke Mann der gesamten Union ist Kohl. Und Theo Waigel, der Strauß-Nachfolger als CSU-Chef, war klug genug, sich nicht für den Besseren zu halten. Eine Klugheit, die Edmund Stoiber später nicht besaß – und die auch Markus Söder heute nicht besitzt.
Wie schnell sich Kräfteverhältnisse verschieben können, zeigte sich ganz deutlich nach dem Sieg von Rot-Grün im Jahr 1998. Kohl hatte viel zu lange an seinem Sessel geklebt und seinen Kronprinzen Wolfgang Schäuble hingehalten. Als Schäuble nach der Wahlniederlage endlich CDU-Chef wurde, übernahm er eine ausgelaugte und ermattete Partei. Bei der CSU war das ganz anders. Dort hatte der ehrgeizige Ministerpräsident Edmund Stoiber zwei Wochen vor der Bundestagswahl die bayerische Landtagswahl fulminant gewonnen und damit deutlich gemacht: mit dem Niedergang der Regierung Kohl hatte er nichts zu tun.
Als Stoiber Anfang 1999 von Waigel auf einem CSU-Sonderparteitag den Vorsitz übernahm, strotzte er vor Selbstbewusstsein. Schäuble trat als Gast dagegen fast unterwürfig auf, während Stoibers Rede saß er meist regungslos da. Wenige Monate später, beim regulären CSU-Parteitag, hatte sich die Schlachtordnung komplett umgedreht. Die CDU hatte eine Reihe von Landtagswahlen gewonnen, während Stoiber mit der Affäre um eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft zu kämpfen hatte, bei der er kein gutes Bild abgab. Jetzt trumpfte Schäuble auf, der nie ein Stoiber-Freund war. „Inzwischen ist die CDU für die CSU wieder eine ganz ansehnliche Schwester geworden“, sagte er.
Ein paar Monate später hatte sich das Bild wieder gedreht. Schäuble musste wegen seiner Verwicklung in die CDU-Parteispendenaffäre zurücktreten, und nun war Stoiber der starke Mann der Union, was am Ende auch in seine Kanzlerkandidatur mündete. Zu spüren bekam das Schäubles Nachfolgerin Angela Merkel besonders deutlich auf dem CSU-Parteitag im Oktober 2001. Viele CSU-Delegierte brachten während Merkels Grußwort noch nicht einmal das Minimum an Höflichkeit auf, sondern lasen ungeniert Zeitung oder plauderten miteinander. Und auf der Bühne führten hinterher die vier stellvertretenden CSU-Vorsitzenden bei einer nachgeholten Feier zu Stoibers 60. Geburtstag einen Sketch auf, bei dem sie darüber sinnierten, was sie Stoiber schenken könnten. Man müsse Stoiber etwas Großes schenken, sagte Barbara Stamm an ihren Vizekollegen Horst Seehofer gewandt, „warum schenken wir ihm nicht die Kanzlerkandidatur“? Monate vor der endgültigen Entscheidung über diese Frage war das für Merkel eine öffentliche Demütigung.
Manchmal war es allerdings auch umgekehrt. Stoiber, der auf dem Dresdner CDU-Parteitag im Dezember 2001 noch viel Applaus geerntet hatte, stieß nach seiner Niederlage gegen Gerhard Schröder beim Leipziger CDU-Parteitag im Dezember 2003 auf eisige Ablehnung der Delegierten. Eine zweite Chance auf die Kanzlerkandidatur, das hätte Stoiber damals schon klar sein müssen, würde ihm die CDU nicht gewähren.
Wie wenig offizielle Treueschwüre mit der Wirklichkeit zu tun haben, musste Armin Laschet 2021 nach dem erbitterten Duell um die Kanzlerkandidatur erleben. Laschet war zwar der Kandidat und Markus Söder versprach treuherzig seine volle Unterstützung, doch auf dem CSU-Parteitag kurz vor der Wahl war davon nichts zu spüren. Die Parteitagsregie musste verzweifelt darum kämpfen, bei den Delegierten wenigstens einen Höflichkeitsapplaus für Laschet zu organisieren.
Das muss Friedrich Merz an diesem Wochenende in Augsburg nicht befürchten. Merz werde den CSU-Parteitag gut überstehen, sagte ein CSU-Vorstandsmitglied Table.Briefings: „Es gibt keinen Anlass, Merz unfreundlich zu behandeln“, er werde dort „eher gefeiert“ werden. Söder hingegen dürfte nicht unfroh sein, dass es kein Wahlparteitag ist. Denn nach dem für ihn wenig ersprießlichen Ende seiner Kandidatenträume hätte er womöglich einen Dämpfer kassiert, die kollektive Intelligenz eines CSU-Parteitages kann für sorgsam ziselierte Wahlergebnisse sorgen. Und dann wäre noch deutlicher geworden, dass der starke Mann in der Union im Augenblick Friedrich Merz ist.
Das muss freilich nicht so bleiben. In den Monaten bis zur Wahl kann noch viel passieren. Insbesondere die Strategie gegenüber den Grünen ist eine tickende Zeitbombe für die Union. In der CDU wird mit wachsendem Unverständnis registriert, wie die CSU ständig auf die Grünen einprügelt, obwohl die Frage, welche Koalition es nach der Wahl geben könnte, im Moment überhaupt nicht relevant ist. Aus der CSU hingegen heißt es, der Kampf gegen die Grünen sei elementar für den eigenen Wahlkampf.
Dabei spielt angesichts der Grünen-Aversion vor allem in der konservativen Landbevölkerung die Angst vor den Freien Wählern und der AfD eine entscheidende Rolle. Vor allem der populistisch versierte Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger könnte in den Bierzelten die Angst vor Schwarz-Grün schüren und die CSU um wichtige Stimmen bringen, heißt es. Die CSU steckt hier in einem Dilemma, das sie sich selbst eingebrockt hat, indem sie sich ohne jede Exitstrategie an die Freien Wähler gekettet hat. Im Rest der Republik spielen die Freien Wähler hingegen keine Rolle. Und die Wahlen im Osten haben der CDU Probleme beschert, die es geradezu absurd erscheinen lassen, die Grünen zum Hauptgegner zu erklären.