Frank Werneke war zufrieden, als er am Freitagabend von Leipzig nach Berlin zurückrollte. In Dutzenden Städten waren Busse und Bahnen im Depot geblieben, 60.000 Arbeitnehmer in sieben Bundesländern hatten sich laut Verdi beteiligt, die Bilder waren in allen Nachrichtensendungen. Die Dienstleistungsgewerkschaft hatte zu Warnstreiks aufgerufen, Werneke in Leipzig die Streikfront selbst besucht und von einer „Wahnsinnsbeteiligung“ geschwärmt. Der Gewerkschaftschef gab sich zuversichtlich, allerdings auch entschieden in der Sache: Von einem „extrem harten Kampf“ sprach er im Interview mit Table.Media.
Die vergangene Woche war mutmaßlich nur der Auftakt für eine der möglicherweise härtesten Tarifauseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte. Während die Verhandlungen in der Chemie-, Metall- und Elektrobranche Anfang des Jahres nahezu geräuschlos vonstattengingen, deutet sich im öffentlichen Dienst, für den Beamtenbund und die Bahn ein turbulentes Frühjahr an.
Mit der Post hatte es begonnen. Eine Einigung ist nicht in Sicht, ein unbefristeter Streik dagegen wahrscheinlich – in dieser Woche endet die Urabstimmung darüber. Im öffentlichen Dienst haben erste, aus Verdis Sicht erfolgreiche Warnstreiks stattgefunden. Und auch die Gewerkschaft der Eisenbahner (EVG) rüstet sich für einen harten Arbeitskampf.
Lange galt die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Verdi, als Sorgenkind unter dem Dach des DGB. Zersplittert, mitglieder- und organisationsschwach. Zu viele Berufsgruppen mit zu vielen unterschiedlichen Interessen unter einem Dach, so hieß es. Im Frühjahr 2023 könnte sich das nun ändern. Denn wenn es ausgerechnet Verdi als zweitgrößter Gewerkschaft im Land gelingt, in großem Maßstab zu mobilisieren, könnte das ein Signal sein. Dafür, dass sich Zugbegleiter und Krankenschwestern, Busfahrer und Erzieherinnen zu wehren beginnen. Gegen Personalmangel und Spardruck, gegen Überstunden und schlechte Bezahlung. Vor allem aber gegen leere Versprechen und fehlende Wertschätzung.
Ihnen war während der Pandemie und mit dem Neun-Euro-Ticket viel zugemutet worden. Wer stand ihnen zur Seite, als röchelnde Covid-Patienten die Stationen füllten und gereizte Passagiere in vollgestopften Zügen Dampf abließen? Wo blieb die angekündigte bessere Bezahlung? Und was folgte auf den Abendapplaus zu Corona-Zeiten? Niemand. Nirgendwo. Nichts: So ist das vorherrschende Gefühl.
Noch zeichnet sich nicht ab, ob es sich nur um einen besonders hitzigen Arbeitskampf handelt oder sich damit womöglich ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel verbindet. Mit einem neuen Blick auf die Arbeitsgesellschaft, mit grundlegend veränderten Arbeitsbedingungen und einer besseren Bezahlung für all diejenigen, die das Räderwerk im wahrsten Sinne des Wortes am Laufen halten.
Schon fühlen sich ältere Jahrgänge an die Auseinandersetzung im Februar 1974 erinnert, als der mächtige ÖTV-Chef Heinz Kluncker zum unbefristeten Streik aufrief, in vielen Städten der Müll liegen blieb, die Busse stillstanden und Rathäuser und Kindergärten geschlossen blieben. Der Arbeitskampf damals brannte sich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Wegen der hohen Forderungen, wegen der Härte, mit der Kluncker damals auftrat – und weil der Arbeitskampf zum Ende von Willy Brandt beigetragen haben soll. Dabei war er schon nach drei Tagen vorbei – mit elf Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten. Eine Tariferhöhung von historischem Ausmaß.
Damals ging es vor allem um einen angemessenen Ausgleich zu einer grassierenden Inflation, die den Lohn wegschmelzen ließ. Heute geht es um mehr. Vor allem aber: Die Arbeitgeber sind in einer anderen, für sie schlechteren Situation. Sie müssen etwas bieten, damit ihnen die Arbeitnehmer nicht weglaufen. Die Gastronomie, die Luftfahrt, Krankenhäuser oder auch die Bahn haben es in der Folge von Corona zu spüren bekommen: Hunderttausende haben gekündigt – und sind nicht mehr zurückgekommen. Der Arbeitsmarkt hat sich in einen Arbeitnehmermarkt verwandelt. Zunehmend diktieren inzwischen die Beschäftigten die Bedingungen.
Ein Streik der Müllfahrer, Kindergärtner oder Busfahrerinnen ist in Deutschland nicht populär – und war es noch nie.Doch auch eine aktuelle Umfrage deutet darauf hin, dass sich die Zeiten geändert haben. 50 Prozent der Deutschen halten die Gewerkschaftsforderung in immerhin zweistelliger Größenordnung für angemessen oder gar für zu niedrig, vermeldete die Forschungsgruppe Wahlen.
Dafür, dass sich der Streik hinziehen könnte, spricht auch ein anderes Kalkül. Für Gewerkschaften geht es dabei nur vordergründig um Arbeitszeiten und -bedingungen. Streiks sind darüber hinaus immer auch die hohe Zeit der Mitgliedergewinnung, der Selbstvergewisserung und der Verortung innerhalb der Gesellschaft. Und nicht selten – wie häufiger schon bei den Eisenbahnern, beim Flugpersonal oder gerade bei der Post – ein Ringen konkurrierender Einzelgewerkschaften um die Organisationshoheit: Wer gibt den Ton an in einer Branche, wer ist erster Tarifpartner, wer wird von den Arbeitgebern akzeptiert?
Nicht ohne Stolz vermeldet Verdi-Chef Werneke deshalb 45.000 neue Mitglieder seit Anfang des Jahres. Je länger sich der Arbeitskampf hinzieht und je härter er ausgetragen wird, umso mehr könnten dazu kommen. Eine aktuell wuchtige Verhandlungsmacht attestiert denn auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich den Arbeitnehmern. Doch ist das eine Power auf Dauer? Es lasse sich noch nicht absehen, sagt Mützenich, „ob sich die Gewerkschaften wieder als starkes Kollektiv formieren können oder ob es weiterhin eine zu große Zahl von Arbeitnehmern gibt, die meinen, sie könnten ihre Arbeitsbeziehungen allein regeln“. Natürlich wollten die Gewerkschaften „in dieser Situation auch dokumentieren, dass sie unverzichtbar sind“.
Für Mützenich wäre es freilich nur dann ein Fortschritt, wenn am Ende auch der Niedriglohnsektor profitiert. Denn es liegt auf der Hand, dass der Niedriglohnbereich einer fast zweistelligen Inflationsrate immer hinterherhinkt. Immerhin verdienen rund 20 Prozent der Beschäftigten in Deutschland ihren Lohn in schlecht bezahlten Berufen.
Wernekes Verdi-Vorgänger Frank Bsirske, heute für die Grünen im Bundestag, sieht die Regierungskoalition in der Verantwortung. Die seit Jahren abnehmende Tarifbindung sei ein enormes Problem und müsse angegangen werden – was die Ampel, so verspricht Bsirske, „im nächsten Halbjahr mit einem Bundestariftreuegesetz und der kollektiven Nachwirkung von Tarifverträgen tun wird“. Dabei geht es auch um ein im Koalitionsvertrag verankertes Ziel: Betriebsausgliederung „zum Zwecke der Tarifflucht werden wir verhindern, indem wir die Fortgeltung des geltenden Tarifvertrags sicherstellen“.
Und doch treffen die Lohnforderungen die politischen Entscheider in Berlin und den Landeshauptstädten eher unvorbereitet. Der befürchtete „Wutherbst“ 2022 ist ausgeblieben, und auch die Tarifauseinandersetzungen in den Industriegewerkschaften Anfang des Jahres verliefen eher moderat. Für die Konzertierte Aktion, im vergangenen Sommer von Olaf Scholz wiederbelebt, sah der Bundeskanzler zuletzt keine wirkliche Notwendigkeit mehr. Sie ist seit Oktober nicht mehr zusammengetreten. Nur, ein derart grundsätzliches Problem in diesen Zeiten zu früh abzuhaken, könnte sich noch als Fehler erweisen.
Denn die Stimmung in der Bevölkerung ist eher pessimistisch. So sieht es jedenfalls der Kölner Psychologe Stephan Grünwald, der seit Jahren mit seinem „Rheingold-Institut“ die Gefühlslage der Deutschen ausleuchtet – und seine Beobachtungen an diesem Sonntag auch bei der Kabinettsklausur in Meseberg vorträgt. Er berichtet seit Monaten von diffusen, dabei zunehmenden Sorgen vieler Bürger; von dem Gefühl der Überforderung, gesellschaftlichen Verkarstungen und einem Rückzug ins Private. Eine gefährliche Mischung, die sich nun in Protest entladen könnte. Das Kanzleramt wirkt bisher nicht wirklich vorbereitet auf diese gesellschaftliche Gefühlslage und die Bereitschaft zum Streik. Immerhin ein Kanzleramt, dessen Chef im Wahlkampf das Wort Respekt zur Lieblingsvokabel kürte. Und er meinte damit nicht zuletzt die arbeitende Bevölkerung.
Zusätzlicher Druck kommt aus Brüssel. Dort hat die EU Ende 2022 eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne verabschiedet: Länder mit einer tarifvertraglichen Abdeckung von weniger als 80 Prozent sollen einen „Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen“ erstellen. Zwei Jahre hat Deutschland Zeit für die Umsetzung. Aktuell liegt die Quote bei 43 Prozent.