Die Zahlen sind nicht spektakulär: Von 350.000 Asylanträgen im Jahr 2023 in Deutschland stammten gerade mal 1.500 von marokkanischen Staatsbürgern. Laut Bundesinnenministerium wurden im vergangenen Jahr rund 270 Marokkaner abgeschoben, davon gut die Hälfte nach Marokko selbst. Zugleich benötigt Deutschland dringend gut ausgebildete Fachkräfte, laut Bundesentwicklungsministerium 400.000 im Jahr, um den Bedarf zu decken. Die wiederum gibt es in Marokko, und nicht wenige von ihnen sind arbeitslos.
Um dennoch ein Zeichen zu setzen, ein Beispiel zu demonstrieren und obendrein ein positives, ist Entwicklungsministerin Svenja Schulze zusammen mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, nach Rabat gereist. Sie will ein weiteres Zentrum für Migration und Entwicklung eröffnen. Einen Ort der Beratung, der Hilfe, für Rückkehrer und Auswanderer gleichermaßen. Einen Ort, wie es davon mehrere in Tunis, Lagos, Kairo oder Accra schon gibt.
Eine dankbare Aufgabe für die Ministerin, denn auch die Marokkaner haben ein Interesse an Austausch und vertieften Beziehungen. Die Arbeitslosenquote im Land ist hoch, selbst unter den gut Ausgebildeten liegt sie bei gut 20 Prozent. Nicht zu unterschätzen: Acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind Rücküberweisungen der Diaspora. Soll heißen: Die Marokkaner im Ausland tragen erheblich zur Stabilisierung der heimischen Wirtschaft bei. Zugleich soll ein Braindrain, also der Abzug von Experten, die das Land selbst benötigt, möglichst vermieden werden. Mediziner etwa werden deshalb in Marokko nicht angeworben. In Ghana, wo ein ähnliches Zentrum steht, verzichtet man auf Pflegekräfte.
Ein Allheilmittel sind die Zentren nicht. Schulze dämpft allzu hohe Erwartungen. „Wir können damit nicht 400.000 Fachkräfte im Jahr nach Deutschland holen“, sagt sie. „Aber wir wollen zeigen, wie es gehen kann.“ Ein Zeichen setzen, Dinge ausprobieren, neue Partner finden.
Wie zufällig hat Joachim Stamp, der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen, parallel einen Erfolg vermeldet. Er hat mit den Marokkanern ein Paket verabredet – in Fragen der Schleuserbekämpfung, Grenzsicherung, legaler Arbeitsmigration – bei der es nicht nur um Fachkräfte gehen soll – und der Abschiebungen, wozu etwa auch die Ausstellung von Pass-Ersatzpapieren zählt.
Die Marokkaner sind kooperationswillig, so scheint es. Und sie halten Deutschland für einen seriösen Partner. Aber wie entgegenkommend ist die Regierung bei der Rücknahme abgelehnter Asylbewerber? Druck auf Regierungen jedenfalls, wie es in Deutschland am Stammtisch oder auf dessen Niveau gerne mal gefordert wird, hilft wenig. Schulze sagt es so: „Es ist eine verrückte Vorstellung zu glauben, Druck bei der Rücknahme würde helfen.“ Man müsse „respektvoll und als Partner“ mit der Gegenseite umgehen.
Die hat ihre eigene Sicht der Dinge. „Wir nennen es nicht Migration“, sagt Arbeitsminister Younes Sekkouri. Was in Deutschland irreguläre Migration genannt wird, verbucht man in Marokko unter dem Begriff „labour mobility“. Man macht sich auf den Weg, um einen Arbeitsplatz zu finden. Egal, ob nach europäischen Vorstellungen legal oder illegal. Die Arbeitsplätze im Ausland sind eine Menge wert. Wegen der Rücküberweisungen, wegen der gesammelten Erfahrungen im Gepäck, aber auch, weil Rückkehrer oft neue Arbeitsplätze schaffen.
Ja, Deutschland braucht Fachpersonal. Auch aus Marokko. Aber nur in beiderseitigem Interesse. Nur solche, deren Abwanderung in Marokko keine Schäden hinterlässt. Kein Braindrain. „Wir wollen keine ausgebildeten Ärzte, die hier selbst knapp sind“, sagt Schulze.
Und noch etwas ist der Ministerin wichtig: Die Debatte in Deutschland um rechtsextreme Verschwörungsgruppen im Umfeld der AfD richtigzustellen. Die Diaspora in Deutschland ist besorgt und meldet die hasserfüllten Umtriebe in die Heimat zurück. „Was Sie da hören mussten“, sagt sie in Richtung der Gastgeber, „ist nicht das, was die große Mehrheit in Deutschland denkt“. Jeden Tag gebe es große Kundgebungen gegen Fremdenfeindlichkeit. In vielen Branchen würde die deutsche Volkswirtschaft ohne fremde Arbeitskräfte nicht mehr funktionieren. Deshalb, so Schulze: „Wir brauchen die Marokkaner, sie sind Teil unserer Gesellschaft“.
Und die wollen kommen. Für viele ist Deutschland, ganz anders als Frankreich, immer noch Sehnsuchtsland. Respekt, Zielstrebigkeit und Korrektheit sind die Vokabeln, die immer wieder fallen. Und die Frage, wo die deutschen Industriestandorte sind. Aus deutscher Perspektive eher erstaunlich – aber Arbeitsplätze in der Industrie sind in einem Land fast ohne industrielle Arbeitsplätze offenbar eine Verheißung.
Man kann sie beim Goethe-Institut in Rabat treffen, wo sie intensiv Deutsch büffeln und sich auf deutsche Riten, Sitten und Gebräuche vorbereiten.Houda Sefriani, 35, ist eine von ihnen, Abteilungsleiterin im Finanzministerium. „Ich will mich entwickeln“, sagt sie, „aber das geht hier nicht“. Sie hofft in Deutschland auf eine Karriere in der Finanzbranche. Oder Said Addine Mellouke, 18 Jahre alt, gerade das Abitur bestanden. In flüssiger Syntax erklärt er, warum es ihn nach Berlin oder Frankfurt zieht, dass er Karriere im Hotelgewerbe machen will. Bei seinen Sprachkenntnissen – Französisch, Arabisch, Englisch und demnächst Deutsch – dürfte er gute Chancen haben. Dass sie ein gewisses Arbeitsethos mitbringen müssen, wissen sie alle.
„Es geht ein Schub durchs Land“, haben sie auch bei den politischen Stiftungen registriert. „Die Botschaft ist angekommen, dass Deutschland Fachkräfte sucht.“ Insbesondere für junge Leute sei Deutschland ein Zielland geworden.
Nebenbei macht die Ministerin, zuständig für Entwicklungszusammenarbeit, natürlich auch Außenpolitik. Erkennbar wird das bei ihrem Besuch im Arbeitsministerium. Eine Vielzahl marokkanischer Medien hat sich eingefunden, deutsche Minister ziehen Interesse auf sich. Noch ein bisschen mehr, seitdem Annalena Baerbock im August 2022 eine deutsch-marokkanische Erklärung unterzeichnete und Frankreich kurz zuvor seine Visapolitik verschärfte. Seither sind Frankreichs Beziehungen zu Marokko und vielen anderen afrikanischen Staaten getrübt. Von einem „massiven Imageverlust für Frankreich“ sprechen westliche Diplomaten, und umso interessanter ist Deutschland als Partner geworden.
Es ist nicht zu übersehen: Deutschland sammelt Punkte auf dem afrikanischen Kontinent. Weil sich der Ansatz geändert hat. Weil das Belehrende zurückgefahren wurde. „Wir müssen auf Augenhöhe miteinander reden“, sagt Schulze. Und das ist für sie keine Floskel. Druck beim Thema Rückführung abgelehnter Asylbewerber sei eher kontraproduktiv. „Mit der Haltung, wir erklären euch die Welt, geht gar nichts“, sagt sie. Ein Marokko-Kenner sagt: „Wenn wir hier jemandem mit der Streichung der Entwicklungszusammenarbeit drohen, amüsieren die sich.“ Umso mehr, als auch in Marokko deutsche Innen- und Außenpolitik mit großem Interesse verfolgt wird.
Doch es ist noch einiges zu tun. Noch immer warten auch in Marokko Fachkräfte, die nach Deutschland wollen, lange auf ein Visum. Vor drei Jahren hat das Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten in Brandenburg (Havel), das die konsularischen Abteilungen im Ausland unterstützen soll, seine Arbeit aufgenommen. Der Kanzler, die Innenministerin, der Arbeitsminister – sie alle haben dem Amt schon ihre Aufwartung gemacht, seine Bedeutung unterstrichen. Doch wirklich schneller geworden sind die Verfahren nicht. In Marokko sollen die deutsch-affinen Fachkräfte die Wartezeit mit Sprachkursen überbrücken. Staatsministerin Alabali-Radovan sagt deshalb in aller Deutlichkeit in Richtung Konsularbereich und Ausländerbehörden in den Ländern und Kommunen: „Es wird noch einiges passieren müssen.“