Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Juni 2024

SPD: Die Partei drängt – und die Schonzeit für den Kanzler ist vorbei

Olaf Scholz konnte sich der Loyalität seiner Partei zweieinhalb Jahre lang sicher sein. Jetzt beginnt sie zu schwinden. Die Erwartungen an den Kanzler werden jetzt konkret formuliert – auch an diesem Sonntag in der Sitzung des Präsidiums.

Die Sitzung des SPD-Präsidiums am Sonntagabend war außerplanmäßig, und sie dauerte länger als veranschlagt. Ein Beleg für den Diskussionsbedarf? Ganz offensichtlich, denn auch die Ministerpräsidenten waren dabei oder zugeschaltet. Die Granden der Partei sollen dem Kanzler noch einmal in aller Eindringlichkeit die triste Stimmung dargelegt, mehr Führung und mehr Empathie angemahnt haben. Und zum Forderungskatalog einer Mehrheit der Parteiführung gehört auch: Sie trägt ein Festhalten an der Schuldenbremse nicht mehr mit. Da wird auch ein gutes Abschneiden der deutschen Elf bei der Fußball-EM nicht helfen.

Eines der Kernprobleme: Manche Milieus erreicht die SPD schlicht nicht mehr. Die Erkenntnis ist nicht neu, aber Schlüsse haben Kanzler und Partei daraus bisher nicht gezogen. Bei der unteren Mittelschicht, bei den Mindestlohn-Beziehern und den Bürgergeld-Empfängern haben die Sozialdemokraten den Anschluss völlig verloren, wie hausinterne Analysen ausweisen. Nicht erst seit der Wahl am vergangenen Sonntag. Bisher verwiesen führende Genossen gerne auf die immer noch stabilen Werte bei den Senioren. Das aber reicht nicht mehr.

Die Sorgen sind groß bei den führenden Genossen. Auch in der Sitzung der Fraktion am Dienstag hatte der Kanzler alles andere als überzeugt. Drei Dutzend Abgeordnete hatten sich gemeldet, darunter die Anführer von Parlamentarischer Linker, Seeheimern und Netzwerkern. Ihre Beiträge waren ganz überwiegend kritisch. Zur Europawahlkampagne, zur Performance des Kanzlers, zur Haushaltsdebatte. Und auch zur Koalition, die die ersten nun offen und öffentlich in Frage stellen. Für die Parlamentarische Linke ergriff der Lübecker Tim Klüssendorf das Wort, der inzwischen in aller Öffentlichkeit klarstellt: „Wir kämpfen um diese Koalition, aber nicht um jeden Preis.“

Und der Kanzler? Hörte zwar zu und blieb auch länger als geplant, verzichtete aber auf Gedankenstützen und Notizen – und ging am Ende der Debatte nur flüchtig auf die Kritik ein. Eine überzeugende Perspektive lieferte er nicht. „Ich war entsetzt“, bekannte ein führender Fraktionär, und er sei nicht der einzige gewesen. Selbst einer der moderaten Netzwerker-Sprecher, der Frankfurter Armand Zorn, sagt: „Beim Haushalt müssen wir einen großen Schritt nach vorn machen – ohne das geht es nicht.“

Zum ersten Mal ist es die Partei, die den Kanzler unter Druck setzt. Generalsekretär Kevin Kühnert steht wegen seiner Europa-Kampagne in der Kritik. Wenn die Parteivorsitzende Saskia Esken in der Fraktion das Wort ergreift, verlassen reihenweise Abgeordnete den Saal. Die Geschlossenheit, die die Partei lange ausgezeichnet und auch den Weg ins Kanzleramt geebnet hat, beginnt wegzuerodieren. Offen kritische Stimmen in Präsidium und Fraktion sowie ein Mitgliederbegehren gegen Kürzungen und für Investitionen im Haushalt, das die linksorientierte DL-21 auf den Weg bringen will, wie der Spiegel berichtet, lassen schwierige Wochen für den Kanzler erahnen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!