Sozialpsychologin Pia Lamberty: „Rechte bedienen das Narrativ: Erst die Coronadiktatur, jetzt die des Klimas“

Pia Lamberty beobachtet und erforscht als Sozialpsychologin und Geschäftsführung des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) rechtsextreme und verschwörungsideologische Strukturen. (Bild: Imago/dts Nachrichtenagentur)

In Thüringen käme die AfD nach aktuellen Umfragen auf 34 Prozent, in Sachsen sieht es ähnlich aus. Sehen wir da immer mehr Protest?

Meine These: Nein. In Umfragen antworten viele: Sie würden die AfD nicht aus Überzeugung wählen, sondern, weil ihnen die anderen Parteien nicht zusagen. Das wird häufig als Argument dafür genommen, dass es eine Protestwahl sei. Aber es könnte ebenso sein, dass einige Menschen denken: Ich wähle AfD, weil mir die Flüchtlingspositionen der anderen Parteien nicht zusagen – die wollen alle nicht abschieben. Da ist es also eine politische Übereinstimmung, kein Protest. Der Politologe Marcel Lewandowsky hat das Bild der Zwiebel bemüht: Ein harter Kern von zehn, zwölf Prozent findet die AfD super. Dann gibt es die, die noch nicht so stark an die Partei gebunden sind, aber trotzdem ideologische Überlappungen haben. Die müssen nicht zu Aufmärschen gehen oder sich mit dem Ku-Klux-Klan identifizieren können. 

Und diese zweite, nicht ideologisch gebundene Gruppe: Denen geht es nicht um Protest?

Wenn wir immer nur über eine Protestwahl sprechen nach zehn Jahren mit der AfD, ist das verharmlosend. Man muss die Augen aufmachen und radikal ehrlich eingestehen: In gewissen Räumen, insbesondere ostdeutschen, ist die Demokratie zumindest lokal viel instabiler, als wir gehofft haben. Die Mehrheit wählt zwar auch dort nicht AfD, aber ein Drittel ist dazu bereit. Auch in Bundesländern, wo die AfD als gesichert rechtsextrem eingeordnet wird. Das Problem ist manifest. Blickt man auf Umfragen wie die Autoritarismusstudie, ging der Anteil an Personen mit manifester Verschwörungsmentalität im Osten seit 2012 stetig zurück und glich sich dem Westen an. Seit 2020 hat sich dieser Effekt wieder gedreht und die Unterschiede sind stark sichtbar.

Warum hat der Verschwörungsglaube im Osten zugenommen?

Das lässt sich über solche Studien natürlich nicht endgültig feststellen, und es gibt sicher viele Gründe, die hier zusammen kommen. Ich vermute, dass es im Osten eine andere Reaktion auf Krisen gibt. In der Pandemie griff der Staat ja notwendigerweise deutlich stärker in den Alltag der Menschen ein. Dies wiederum könnte gerade bei Menschen, die Erfahrungen mit einem übergriffigen System gemacht hatten, verstärkt Gefühle von Ärger und sogar Trotz hervorrufen. In der Psychologie wird dies als Reaktanz beschrieben, eine Reaktion auf das Gefühl von wahrgenommener Unfreiheit, das Gefühl, man hätte nicht wirklich Wahlmöglichkeiten. Warum sagt mir der Staat jetzt, was ich machen soll? So was kann im Nachgang genommen und gezielt von Rechtsextremen genutzt werden. Diese Gefühle besser zu verstehen, ist daher aus meiner Sicht wichtig, weil es auch in aktuellen Debatten um die Klimakrise eine große Rolle spielt. Dinge werden als angeblicher Freiheitsverlust eingeordnet und aufgebläht. Damit werden Gefühle auf destruktive Art bedient und politisiert.

„Wenn Menschen ausgelaugt sind, haben sie weniger Energie, sich demokratisch zu engagieren“

Die Rolle von Gefühlen ist also größer als die von Fakten.

Die Beschreibung von Emotionen im öffentlichen Diskurs ist sowieso einen Blick wert. Meistens dominiert der Fokus auf Angst: die scheinbar besorgten Bürger, die angebliche Angst vor Geflüchteten. Gerade wenn es um antidemokratische Agitation geht, spielt Angst aus meiner Sicht aber eher eine nachgelagerte Rolle. Angst und Trauer führen erstmal eher zu Rückzug. Ärger und Wut sind dagegen nach vorne gerichtete Emotionen, die eher Aggressionen und Ablehnung von Demokratie erklären. Die Rolle von Ärger und Wut wird im öffentlichen Diskurs oft ausgeklammert. Das hat damit zu tun, dass man mit Angst und Enttäuschung besser umgehen kann, indem man zuhört. Wer wütend ist, macht uns hilflos. Was mach‘ ich mit dem? Die AfD weiß genau: Mit Angst allein kriegt man Leute nicht agitiert. 

Viele sehen Ampel-Streit und Heizungsgesetz als Grund für das Erstarken der AfD. Sie auch?

Ich glaube, dass die Gründe multikausal sind und nicht nur in einzelnen Debatten liegen. Ein Punkt fällt aus meiner Sicht oft hinten unter: Die Pandemie spielt keine Rolle mehr in der Diskussion. Auf Social Media sieht man dagegen noch viel Pandemiebezug bei Leuten mit rechtsgesinnter Haltung. Oft wird davon gesprochen, dass man von einer „Corona-Diktatur“ in eine „Klima-Dikatur“ gehen würde, viele antidemokratische Akteur:innen bespielen das Thema Corona immer noch sehr stark. Die Impf-Ablehnung hat in vielen europäischen Ländern zugenommen, nicht nur gegenüber der Corona-Impfung. Es gibt wenig Forschung, die sich mit dem Einfluss von Pandemien nach ihrem Ende auseinandersetzt. Die wenigen Studien, die es gibt, zeigen einen destabilisierenden Effekt. Und zwar gerade da, wo soziale Ungleichheit eine große Rolle spielt. Für ostdeutsche Bundesländer kommt das Erstarken daher wenig überraschend.

Studien haben gezeigt, dass Krisen wie Flutkatastrophen, die Corona-Pandemie oder der Angriffskrieg auf die Ukraine von ähnlichen Phasen gezeichnet sind. Pia Lamberty analysiert, dass die Gesellschaft wegen der Multikrisen nicht ausreichend zum Aufarbeiten gekommen ist – ständig steht schon die nächste Krise an. Die Folge ist, dass Gefühle wie Wut bleiben. Unaufgearbeitete Krisen eignen sich für Rechtsextreme und Verschwörungsideologen besonders, um Menschen zu gewinnen.

Warum haben wir es versäumt, die Pandemie aufzuarbeiten?

Weil so viel obendrauf kommt, diese Multikrisen, können wir die eine Krise gar nicht richtig evaluieren. Man ist froh, wenn man es wegschieben kann. Gleichzeitig bleibt ein Ausgelaugt-Sein. Wenn Menschen ausgelaugt sind, haben sie weniger Energie, sich demokratisch zu engagieren. Gesellschaften werden unruhiger. 

Zu der Corona-Unruhe kam der Angriffskrieg auf die Ukraine. 

Die AfD zementiert da Feindbilder, nutzt den Antiamerikanismus, der in Teilen der Gesellschaft vorhanden ist, in ostdeutschen besonders. Da war er Teil der Staatsdoktrin, und das wurde auch nie richtig bearbeitet. Jetzt haben wir nachgelagerte Reaktionen, in deren Folge es größere autoritäre Sehnsüchte gibt. 

Nutzen diese autoritären Sehnsüchte jetzt auch Sahra Wagenknecht?

Sahra Wagenknecht bedient das. Westliche Demokratien werden zu Kriegstreibern, Putin verharmlost. Da steckt der Wunsch nach einem autoritären System, nach Ordnung. „Die da oben“ als Feindbild. Sie nutzt ganz viele dieser Elemente in ihrer Rhetorik und reichert das noch mit vermeintlich sanfteren Tönen an. Der Wunsch nach Frieden klingt ja erstmal toll. 

„Das Versprechen lautet: Es wird gut, du musst dein Leben nicht ändern“

Den Krieg können weder Wagenknecht noch die AfD beenden. Wie gelingt es denen, die mit Frieden werben, trotzdem, Menschen zu gewinnen?

Das Versprechen lautet: Es wird gut, du musst dein Leben nicht ändern. Auch beim Klima. Du musst nicht überlegen, ob du den Pool aus dem Prospekt überhaupt noch kaufst, weil es wegen der Klimakrise vielleicht kein Wasser mehr gibt, um ihn zu füllen. Iss weiter dein Fleisch, fahr weiter deinen SUV. Alles wird gut.

Auf der einen Seite also Verharmlosung. Auf der anderen ein massives Erstarken rechtsextremer Positionen. Wie gehört das zusammen?

Rechte bedienen das Narrativ: Erst die Coronadiktatur, jetzt die des Klimas. „Ihr habt bei Corona nur geübt, jetzt kommt erst die richtige Diktatur.“ Da geht es um die Maßnahmen, gegen die man sich wehrt. Es gab wenig Proteste mit der Parole: „Ihr habt euch ein Virus ausgedacht.“ Es ging gegen die Maßnahmen. Da sehe ich verstärkte Schulterschlüsse zwischen extremen Rechten und verschwörungsideologischem Milieu. Da spielen auch Lobbyverbände eine Rolle, die aus wirtschaftlichen Interessen Klimamaßnahmen ablehnen. In Deutschland gibt es den Verein Eike (Europäisches Institut für Klima und Energie), der den menschengemachten Klimawandel leugnet; in den USA den Thinktank Heartland Institute, das den Klimawandel leugnet und Falschinformationen zu Corona verbreitet hat. Tabak-, Kohle- und Erdölindustrie gehören zu den wichtigsten Geldgebern. 

Kann man sagen, dass Rechtsextreme grundsätzlich durch Krisen profitieren?

Ein AfD-Bundesvorstandsmitglied sagte 2022 im Glauben, das Mikro sei schon aus, dass es hoffentlich „dramatisch genug“ werde im Winter. Alles, was als Krise wahrgenommen wird, instrumentalisiert man, dreht es um, um gegen die Demokratie und marginalisierte Gruppen zu hetzen. 

Die rechtsextremen „Freien Sachsen“ haben es 2021 und 2022 durch Corona geschafft, die Polizei mit ihren Protestmärschen regelmäßig zu überfordern. Was lehrt uns ihr Beispiel?

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in den letzten 25 Jahren so flächendeckend so viele Proteste gleichzeitig über einen so langen Zeitraum stattgefunden haben wie mit den sogenannten Spaziergängen der Freien Sachsen. Pegida war größer, aber nicht so dezentral. Die „Freien Sachsen“ haben eine Lücke in der Demokratie für sich genutzt, in Sachsen. Die Abonnenten in ihrem Kanal liegen seit Anfang 2022 relativ konstant bei 150.000. Sie sind ein Gradmesser, einer von vielen. Nachdem Wirtschaftsthemen für die AfD nicht so gut funktioniert haben wie erhofft, folgt stumpfer Rassismus. Das machen jetzt auch die „Freien Sachsen“ mit Slogans wie „Asylflut stoppen“. Linke Gewalt wird hochstilisiert, was in Sachsen auch ganz gut funktioniert, mit Leipzig als Gegenpol zum Rest des Bundeslands. Für die Rechten hat sich erwiesen: Es lohnt sich, vor allem die kleineren Orte mit Protesten zu bespielen. 

Viele Protestbewegungen sind floriert und wieder eingegangen. Narrative bleiben. Was machen wir falsch?

Die Forschung zeigt: Wenn man sich nicht abgrenzt, stärkt man extreme Rechte. Die Psychologie spricht von sozialen Normen, Regeln des Zusammenlebens. Wenn du im Restaurant Pizza mit der Hand isst, und alle anderen Messer und Gabeln nutzen, wirst du dich unwohl fühlen. Wenn dauernd durch einen Ort Corona-Proteste laufen und alle das akzeptieren, wird es dort zur sozialen Norm, Corona als Lüge oder den Staat als Verbrecher zu betiteln. Wenn der Bürgermeister mit dem AfD-Kandidaten eine Fahrradtour macht, hat das einen Einfluss auf soziale Normen. Es erfordert dann immer mehr Mut, sich abzugrenzen. 

Investitionen gegen Rechtsextremismus günstiger als dessen Folgekosten für Regionen

Und wie können wir uns wehren?

Die AfD geht übers Lokale. Ähnliche Dynamiken sieht man auch in den USA. Vor Ort sind Menschen, die sich gegen die Rechten engagieren, teilweise nicht gut vernetzt und nicht gut finanziert. Die müsste man stärken. Viele Menschen haben jetzt Angst, wenn sie sehen, wie hoch die Umfragewerte der AfD sind. Fragen sich, wie sie überhaupt in Sachsen oder anderen ostdeutschen Bundesländern leben können. Denen sollte man jetzt den Rücken stärken. Monetär und mit Anerkennung. Das kann Inspiration für andere sein. Dann trauen sich Leute vielleicht eher, dagegen anzusprechen, wenn der Bäcker im Ort gegen Geflüchtete hetzt.

Das Finanzministerium verweist nachdrücklich darauf, dass wir sparen müssen.

Unsere demokratische Gesellschaft ist unser Grundpfeiler. Wenn der bröckelt, funktioniert auch der Rest nicht richtig. Das in örtliches Engagement investierte Geld wäre deutlich geringer als der Schaden durch Rechtsextremismus. Ein erstarkter Rechtsextremismus führt zum Beispiel zur Abwanderung von Fachkräften. Das hat sich etwa in Dresden und Chemnitz gezeigt. Es ist kurzsichtig, an der Demokratiebildung und an der psychosozialen Unterstützung junger Menschen zu sparen. 

Kann die Psychologie, Ihre Profession, auch im größeren politischen Kontext helfen?

Die Psychologie kann eine gute Rolle spielen, um die Auswirkung von Maßnahmen abzuschätzen. Im Corona-Expertenrat saß eine wunderbare Kollegin, aber ihr Fokus war die Gesundheitspsychologie. Überhaupt nicht abgedeckt wurde der ganze Bereich von Falschinformationen, Gerüchten. Ich sitze gerade an einem Paper über Naturkatastrophen. Da gibt es so viele Gerüchte und auch absichtlich gestreute Desinformation. So etwas muss man früh einfangen. Wenn eine Katastrophe vorbei ist – das kann Pandemie sein, eine Überschwemmung, ein Krieg – dann kommt es zu einem Moment der Wut, der Verachtung. Das können Rechtsextreme total gut für sich nutzen. 

„Für regierungskompetent halten die AfD der letzten Umfrage zufolge fünf Prozent“

Und das lässt Deutschland derzeit geschehen?

Mein Fachbereich – Verschwörungserzählungen, Falschinformationen – kommt erst zum Zug, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. In Schweden und anderen Ländern gibt es staatliche Stellen, die sich mit Desinformationen auseinandersetzen, und zwar nicht als Wahrheitsministerium, sondern als Stellen, die Resilienz, die Wissenssteigerung herstellen. 

Halten Sie es für möglich, dass die AfD bis zu den nächsten großen Wahlen wieder schrumpft?

Wir wissen, dass es zwischen Einstellung und Wahlverhalten einen Spalt gibt. Viele entscheiden sich erst an der Urne, was sie wählen. Jetzt haben wir Zeit zu handeln, damit die AfD nicht stärkste Partei bei den ostdeutschen Landtagswahlen wird. Da sind alle in der Verantwortung. Politik, Medien, Förderungsmittelgeber in den Ministerien. Die AfD sieht sich schon den nächsten Kanzler stellen. Für regierungskompetent halten die AfD der letzten Umfrage zufolge fünf Prozent. 

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