Silke Borgstedt, Sinus-Geschäftsführerin: „Der bürgerliche Kern sehnt sich nach den neunziger Jahren zurück." (Bild: privat)
Was ist eigentlich die gesellschaftliche Mitte?
Es gibt die rein sozioökonomische Beschreibung, wir gehen in der Milieuforschung aber eher von einem kulturellen Selbstverständnis der bürgerlichen Mitte aus. Natürlich spielt die materielle Situation dabei eine wichtige Rolle. Aber darüber hinaus geht es um das Selbstverständnis als Normalbürger, also das zu repräsentieren, was die gesellschaftlich geteilten Werte repräsentiert.
Was heißt das konkret?
Dieses Milieu strebt nach geordneten Verhältnissen, nach Harmonie und Sicherheit – beruflich wie privat: ein ausreichendes Einkommen haben, moderaten Wohlstand und einen angemessenen Status in der Gesellschaft erreichen. Man ist, nicht übereilt, aber durchaus bereit zu Veränderung und Modernisierung. Früher nannten wir diese gesellschaftliche Gruppe „aufstiegsorientiertes Milieu“ – leistungs- und anpassungsbereit und überzeugt davon, dass es den Kindern besser gehen wird als einem selbst. Verbreitet ist immer noch der Glaube, wenn wir uns anstrengen, an die Regeln halten und an den gelernten Biographiemustern dran bleiben, wird es uns kontinuierlich besser gehen. Allerdings besteht aktuell Sorge, dass die Zeit der automatischen Wohlstandsgewinne vorbei ist.
Ist die bürgerliche Mitte immer noch ein Stabilisator der Gesellschaft? Man hat nicht immer den Eindruck….
Die Mitte hat sich insgesamt sehr verändert. Vor zwei Jahren, nachdem es über Jahre dynamische Binnenentwicklungen in dieser Gruppe gegeben hat, haben wir festgestellt, die bürgerliche Mitte als Einheit und Rückgrat der Gesellschaft gibt es nicht mehr. Wir beobachten diese Entwicklung seit ungefähr zehn Jahren. Inzwischen haben wir zwei sehr unterschiedliche Submilieus.
Welche?
Wir nennen sie nostalgisch-bürgerliche und adaptiv-pragmatische Mitte. Die Nostalgisch-Bürgerlichen fühlen sich weiter als Mitte der Gesellschaft, sind aber verunsichert und fühlen sich durch die permanenten Veränderungsappelle bedrängt. Sie bemühen sich, mitzuhalten, merken aber, dass die Zeit der Wohlstandsgewinne vorbei ist. Sie spüren den Verlust vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, halten aber an vertrauten Regeln fest, um sie gegen Zumutungen der Transformation zu verteidigen.
Und die Adaptiv-Pragmatischen?
Das sind die, die wir vor Jahren als junge, nachwachsende Mitte bezeichnet haben; mit relativ hoher Bildung, leistungsorientiert, veränderungsbereit. Bis vor zwei Jahren waren die noch positiv unterwegs. Das erste Mal fiel uns bei Fragestellungen rund um die Digitalisierung auf, dass die zwar mitgemacht haben, aber zunehmend angestrengt wirkten – innovationsmüde. Jetzt sind sie vor allem gestresst.
Warum?
Sie dürfen vermeintlich alles frei wählen: Was sie werden wollen, wo sie leben wollen, wohin sie reisen wollen. Dann spüren sie Hindernisse und fragen sich: Wie finde ich den richtigen Weg? Dieser Zwang, sich entscheiden zu müssen, die Unübersichtlichkeit – sie fragen sich: Wer kann mir berufliche Orientierung geben? Was kann ich? Wer braucht das? Das betrifft alle jüngeren Menschen; aber die Adaptiv-Pragmatischen sind inzwischen ziemlich krisengeschüttelt und übrigens auch nicht mehr ganz jung, eher Ende 30, Anfang 40. Die Träume dieser Gruppe sind sehr bürgerlich, Familie, Eigenheim, Besitz. Sie sind selbstverständlich bereit, berufliche Umwege zu gehen, zum Beispiel den Arbeitgeber zu wechseln oder neue Qualifikationen zu erwerben. Aber die klassischen Wohlstandsindikatoren sind in Frage gestellt: Schaffe ich das, obwohl ich doch im Ausland war, so viele Praktika gemacht habe? Es wird sehr spannend werden, wie sich dieses Milieu entscheidet.
Warum gerade dieses Milieu?
Weil sie Mehrheitsmacher sind und Kipppunkte auslösen können. Die nehmen das nostalgisch-bürgerliche Milieu mit, wenn sie sagen, wir interpretieren bürgerliche Werte neu. Im Bereich Wohnen versucht man Bauprojekte genau für diese Gruppe zu entwickeln, weil die einerseits eine Art Meinungsführerschaft entwickeln, andererseits auch andere schwer erreichbare Gruppen mitnehmen. Sie sind Brückenbauer. Allerdings: Wenn die sich in Richtung Rechtspopulismus bewegen, wird es bedrohlich.
Und über der Mitte gibt es die Elite, der es noch ein bisschen besser geht?
Natürlich gibt es immer welche, die mehr haben – aber Geld allein macht nicht glücklich. Das weiß die Mitte und geht ihren eigenen Weg und der läuft in einer bestimmten Reihenfolge. Man lernt, hat irgendwann ausgelernt, dann ist man wer – es gibt dieses Normalverständnis, dem Staat etwas zu geben, aber auch etwas zurückzubekommen.
Aber irgendwann gab es einen Bruch?
Vor zehn Jahren begann sich etwas einzuschleichen. So ein Gefühl „Wir sind die Melkkuh der Nation“, wir fühlen uns unter Druck, wir zahlen immer drauf und andere profitieren.
Seit wann macht sich die Erkenntnis breit, dass es für die nächste Generation schwieriger wird?
Das lässt sich nicht genau datieren, vor 15, vielleicht 20 Jahren. Die bürgerliche Mitte heute ist nicht mehr das aufstiegsorientierte Milieu von einst. Heute gilt eher, wir müssen die Ressourcen zusammen halten.
Ist bürgerliche Mitte per se konservativ?
Wenn damit gemeint ist, dass es eine gewisse Reserviertheit gegenüber Neuem gibt, ja. Prägend ist aber eher die Unsicherheit, verbunden mit der Frage: Warum muss ich mich verändern, ohne die Gewissheit zu haben, dass es besser wird? Der klassische Konservatismus ist eher mit selbstbewusster Wohlstandsbewahrung verbunden, weniger mit Unsicherheit.
Und heute?
Heute weiß man, wenn es erwartet wird, muss ich mich verändern. Lebenslanges Lernen und in den 90ern auch die Digitalisierung waren schon etwas Bedrohliches. Vielen ist dieses Postulat des Fort- und Weiterbildens in der Mitte des Berufslebens begegnet. Sie nahmen es hin, aber gewünscht haben sie sich das nie. Auch bei der Digitalisierung hat man das gesehen. Wer Mitte 50 war, hoffte um MS Office und Windows irgendwie herum zu kommen, ohne sich noch mal hineinknien zu müssen.
Und merkte dann, dass es doch nicht ohne Veränderung geht?
Lebenslanges Lernen hatte diese Gruppe eher auf ihre Kinder bezogen. Nach dem Motto, ich selbst mache noch zwei Fortbildungen und dann reicht es. Zugleich war klar, die Zeiten ändern sich, und die Kinder werden weiter lernen müssen. Aber sie werden sich anstrengen, und es wird ihnen besser gehen als uns. Und das ist der stärkste Downer in dieser Gruppe: Dass sich genau das nicht mehr erfüllt.
Und dann kam die Transformation noch dazu?
Wir hatten 2014 schon beobachtet, dass die permanenten Leistungsappelle Reflexe auslösten. Das war nicht mehr das Gefühl von früher, dieses oder jenes wird erwartet, man macht es und gibt es weiter, sondern da entstand bereits eine latente Abwehrhaltung.
Das waren nicht nur Reflexe an den Rändern?
Nein, da war die Mitte schon kein homogenes Milieu mehr. Normalerweise finden Leute mit ähnlichem sozialem Hintergrund und vergleichbarer Werthaltung in unseren Fokusgruppen einen Konsens. Aber die harmonieorientierte Mitte, das Teil-Milieu, das wir nun nostalgisch genannt haben, zeigte da erste Rückzugstendenzen. Das wurde 2015 durch die Flüchtlingskrise verstärkt, mit populistischen und auch medienkritischen Tendenzen. Das war ein Kipppunkt. Von da an haben wir nicht mehr von der reinen bürgerlichen Mitte gesprochen. Der bürgerliche Kern wurde stark nostalgisch, wollte festhalten, was er hat. Inzwischen sehnt er sich nach den neunziger Jahren zurück.
Auch die AfD rekrutiert sich in Teilen aus der bürgerlichen Mitte?
So ist es. Auch das haben wir 2015 zum ersten Mal beobachtet, 2021 hat sich das verstärkt. Das ist ein neues Phänomen, das haben wir vorher eher in bildungsbenachteiligten Milieus beobachtet.
Was ist das Motiv für diese Leute? Frust? Angst abgehängt zu werden?
Es ist eine Mischung. Wir versuchen gerade, das noch weiter aufzuschlüsseln. Es ist der Veränderungsdruck, es ist das Gefühl, alles wird verboten. Man darf nichts mehr sagen, nicht mehr essen, was man immer gegessen hat. Und wenn man genau nachfragt, heißt es, stimmt, es ist nichts verboten, aber das Gefühl ist immer öfter da. Die meisten wissen genau, dass ihnen gar nichts verboten wird. Aber der Eindruck, sich permanent verändern zu müssen, strengt sie enorm an.
Und überfordert?
Noch wichtiger aber ist das Gefühl der permanenten Marginalisierung und der Entwertung all dessen, was immer als Ausweis von Erfolg galt: Haus, Auto, ein oder zwei Urlaube im Jahr. Jetzt wäre die Zeit des Erntens gewesen. Stattdessen heißt es jetzt bei allem, es übersteige die Grenzen des Planetaren. In den USA gibt es den Begriff „fear of replacement“. Es beschreibt das Gefühl derer, die sich immer als Rückgrat gesehen haben. Und nun meinen sie, nicht mehr wichtig zu sein und fühlen sich zunehmend abgelehnt von den sogenannten Eliten.
Woher kommt die emotionale Aversion gegen die Grünen?
Mit denen stand die Mitte immer eher auf Kriegsfuß. Die Grünen wurden lange nicht ernst genommen. Das war eher ein Angebot für die Jüngeren, für eine Minderheit. Es kommt dazu, dass man gerne mit der Mehrheit wählt, man ist halt lieber bei den Siegern. In unseren Fokusgruppen sagte mal einer: „Ich kann gar nicht verstehen, wie man Grün wählen kann. Die gewinnen doch gar nicht.“ Man möchte nicht zu den „Losern“ gehören. Das ist überhaupt das Gefährliche, wenn sich neue Mehrheiten bilden: Da wird gar nicht mehr nachgefragt, viele verändern ihre Wahlpräferenz eher nach Gefühl.
Wie konnte es passieren, dass auch Teile des Bürgertums in die Querdenker- und Reichsbürgerszene abgedriftet sind?
Das betrifft ja nur Teile des Bürgertums. Aber: 2021 haben aus dem nostalgisch-bürgerlichen Milieu 19 Prozent AfD gewählt. Insgesamt kam die AfD nur auf zehn Prozent. Man hätte eigentlich damals schon genauer hinschauen müssen. Der bürgerliche Anteil der AfD liegt jetzt bei knapp 30 Prozent. Die Querdenker-Szene ist schwer zu erfassen. Die ist recht disparat und speist sich aus mehreren Milieus.
Was verbindet Bürgertum und Querdenker inhaltlich?
Das verbreitete Gefühl, von oben will jemand etwas diktieren. Wir müssen uns alle impfen, wir müssen alle der Ukraine beistehen. Und eine andere Meinung ist nicht geduldet. Sie fragen: Warum ist keine Friedensbewegung mehr möglich? Warum müssen alle mit der Ukraine sympathisieren? Warum müssen sich alle wegen des Klimaschutzes einschränken? Verbreitet ist auch ein fatalistisches Gefühl: was ich mache, hat eh keinen Effekt.
Das nennt man Politikverdrossenheit, oder?
Die bürgerlichen Milieus interessieren sich relativ wenig für Politik und den politischen Betrieb, jenseits von Personalien oder tagesaktuellen Dingen, die sie persönlich betreffen. Demokratie ist halt da, die EU nervt ein bisschen, ist mit viel Bürokratie verbunden. Alles ist ein bisschen anstrengend, nichts wird entschieden. Die wertvollen Elemente einer Demokratie werden von dieser Gruppe kaum geschätzt, oder sind unbekannt.
Funktioniert die urbane Mitte ähnlich wie die Mitte auf dem Land?
Das Grundmuster des Denkens ist ähnlich. Natürlich gibt es Unterschiede, etwa in der Frage der Mobilität. Verkehr ist überhaupt ein Riesenthema. Die Adaptiv-Pragmatischen sind offen für Modernisierung, PV und Ladesäule am Haus, solche Dinge. Die haben aber einen massiven Infrastrukturbedarf, sie brauchen Kitas, weil sie eine moderne Familie sind und sind dann gefrustet, wenn der Mann doch Vollzeit arbeitet und sie mit den Kindern zu Hause sitzt. Vieles was die an Motivation mitbringen, wird durch die fehlende Infrastruktur erstickt.
Politik könnte das ändern.
Durchaus. Insbesondere die Adaptiv-Pragmatische Mitte ist ja bereit sich anzustrengen. Denen fällt auf die Füße, dass ihr Modernisierungswunsch in die Zeit einer abgewirtschafteten Infrastruktur und eines abflachenden Wirtschaftswachstums fällt. Dieser Stau, die hängende Digitalisierung, die Bürokratie, der Lehrermangel – die sind in der Rushhour ihres Lebens, es muss etwas abbezahlt werden, die Kinder haben Ansprüche, und dann werden sie im Alltag permanent ausgebremst.
Gilt das auch für das nostalgisch-bürgerliche Milieu?
Da sind die Kurzschlusshandlungen ausgeprägter. Die unterstellen den Politikern, die wollen uns was Böses, die wollen uns was wegnehmen. Weil die uns schon immer spießig fanden. Einer hat bei uns mal gesagt, die strapazieren uns „aus lauter Schlechtigkeit“. Transformation als Boshaftigkeit - da ist offen, wie man das gut wieder einfangen kann.
Und die urbane Mitte?
Die kämpft eher mit den Mieten und mit knappem Wohnraum. Wohnraum ist ein maximal wichtiges Thema. Sie ist mehrheitlich zwar für qualifizierte Zuwanderung, hat aber auch Sorge vor einem neuen Wettbewerb: Wie kriegt man die ganze Diversität zusammen? Sie wollen das eigentlich, merken aber auch, dass die unterschiedlichen Kulturen für jeden Betrieb eine Herausforderung sind, aber häufig nicht so benannt werden. Das wird oft unterschätzt und ist doch im Alltag sehr anstrengend.
Woher kommt die Sehnsucht nach einfachen Lösungen und Antworten?
Das ist besonders ausgeprägt im nostalgisch-bürgerlichen Milieu. Sie sagen mittlerweile: Wenn viele vor der Tür stehen und nach Deutschland wollen, muss ich die Tür besser abschließen. Dahinter steckt vor allem die Frage, wie lässt sich das lösen, ohne dass es mir wirtschaftlich schlechter geht? Oft sind das dann Lösungen, von denen sie wissen, dass sie nicht umsetzbar sind. Die Adaptiv-Pragmatischen wissen meistens, dass die Dinge komplizierter sind. Die sind durch leichte Wendungen auch durchaus zurückzuholen. Wenn ein Konflikt gut gelöst wird, rutschen die sofort wieder in Richtung Modernisierung. Die sind nicht verloren.
Aber sie reagieren auf mediale Überzeichnung?
So könnte man sagen. Man will ja in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land leben, das ist man gewohnt. Man ist stolz, wenn im Urlaub Deutschland gelobt wird. Umso mehr schmerzt jetzt, wenn Deutschland schlecht geredet wird. Der Mitte ist unser Image im Ausland total wichtig.
Die meisten wissen, dass etwas für das Klima getan werden muss. Sobald aber das eigene Verhalten herausfordert wird, ist man dagegen. Wie ist das Paradoxon zu erklären?
Die Nimbys – not in my Backyard – gibt es schon lange. Besonders in der Mitte ist das Gefühl verbreitet, ausgerechnet wir sind jetzt wieder dran. Die haben auch immer das Gefühl, die da oben reden schlau, aber wieviel die Wärmepumpe am Ende kostet, ist denen egal. Die ganz unten kriegen eh alles bezahlt, aber wir in der Mitte sind doch die, die zu kämpfen haben. Sie glauben, dass sie unter Veränderungen, von denen sie nicht unmittelbar profitieren, am meisten leiden.
Ist das ein verbreitetes Gefühl in der Mitte?
Ja, durchaus. Die investieren ja in Solaranlagen, kaufen sich E-Autos. Aber genau so schnell stellen sie Dinge auch in Frage, wenn sich Probleme ergeben. Häufig ist es auch nur die Sorge, dass etwas nicht klappt. Sie agieren allerdings auf hohem Bestands-Niveau. Sie haben mit eineinhalb Jobs Eigenheim, Auto und vielleicht ein kleines Erbe – und stellen sich die Frage: Warum ging das damals und heute nicht mehr?
Wo ist in der Mitte eigentlich der Wert von Demokratie geblieben?
Der ist tatsächlich ein bisschen verloren gegangen. Zwar wollen alle irgendwie Demokratie, glauben aber, Demokratie ist nur, wenn in ihrem Sinne entschieden wird.
Was ist da passiert – ein Mangel an politischer Bildung?
Ja. Jetzt sind wir, mit drei Regierungsparteien, natürlich besonders herausgefordert. Aber uns fällt auf die Füße, dass die demokratische Grundbildung nicht mehr so vorhanden ist wie sie es mal war. Auch die Haltung, man könne fast alles über direkte Abstimmungen lösen, haben wir nicht nur in der pragmatischen Mitte oder AfD-nahen Milieus, sondern auch bei den Neo-Ökologischen. Die haben ganz andere partizipative Vorstellungen. Man kann sich aber schon fragen, ob alles so bleiben muss, wie es immer war. Oder ob man nicht den neuen Wünschen nach Mitbestimmung mehr Rechnung tragen müsste?
Aber hat sich nicht viel getan in Sachen Beteiligung?
Stimmt einerseits, andererseits wird auch das als anstrengend empfunden. Die Wahrnehmung ist: Meistens kriegt man nichts mit, es wird gebaut, mit meinem Geld als Steuerzahler. Und wenn man fragt, wo würdet ihr denn mitmachen – nee, mitmachen nicht unbedingt, ich kenne mich doch gar nicht aus. Man möchte detailliert auf dem Laufenden gehalten werden, aber man möchte auch nicht Experte sein.
Zum ersten Mal geht von der Mitte der Gesellschaft eine Veränderung aus. Sonst beginnt das eher an den Rändern. Wie ist das zu erklären?
Normalerweise haben gesellschaftliche Gruppen, oft auch Minderheiten Veränderungen eingeleitet, etwas Neues bewegt– Frauenrechte, mehr Ökologie, Klimaschutz, all diese Dinge. Die werden dann immer mehr zu Selbstverständlichkeiten, und so entwickelt sich die Gesellschaft weiter. Jetzt gibt es Erschütterungen von außen, Pandemie, Krieg, Dinge, zu denen man sich verhalten muss. Wir haben halt auch Luxusjahrzehnte hinter uns. Wir hatten die Möglichkeit, aus uns selbst heraus Dinge zu entwickeln. Jetzt sind wir getrieben, wir laufen allem hinterher. Wie sich das auf Veränderungen im gesellschaftlichen Zusammenhang auswirkt, wird sich noch zeigen.
Müsste der Kanzler nicht mehr vermitteln, wie er sich Land und Leute im Jahr 2030 vorstellt?
Das wäre der Wunsch der adaptiv-pragmatischen Mitte. Wie sieht das Ergebnis am Ende der Transformation aus? Und was passiert auf dem Weg dahin? Wie leben wir dann? Diese Zielbilder kennt keiner. Das ist eines der Hauptprobleme. Bei der Finanzkrise wusste man: Es ist schwierig, aber es gibt Lösungen und am Ende kommen wir da raus.
Und dieser Optimismus ist jetzt weg?
Ja, zur Zeit schon. Die Frequenz der Krisen ist einfach zu hoch und sie scheinen kaum lösbar. Es ist für viele schwer, da noch resilient zu bleiben.