Nur wenige Details dringen aus den Verhandlungen. Über genaue Zahlen oder konkrete Summen hört man erst recht nichts. Eines aber zeichnet sich immer stärker ab: Wollen Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Markus Söder wirklich besser und stabiler regieren als die Ampel, dann müssen sie und ihre Leute auch über Jahrzehnte gewachsene Haltungen und Blickwinkel überdenken. Ist das Diktum „Keine Steuererhöhungen“ in derartigen Krisenzeiten selbst für die Reichsten noch zu halten? Und: Sollte man im Bemühen um ein wehrhafteres Europa auf eine Rückkehr zur Wehrpflicht verzichten? Hinter diesen Fragen stehen gewachsene Überzeugungen. Ihre Überwindung könnte zur schwersten und wichtigsten Aufgabe werden. Ein Überblick.
Warum Steuerfragen mehr sind als Steuerfragen. Es gibt für die Union in der Finanzpolitik keinen Leitspruch, der tiefer wirkt als das Versprechen, dass es auf keinen Fall Steuererhöhungen geben werde. Merz hat ihn im Wahlkampf oft zitiert; Söder hat ihn zum Start der 19er-Runde wiederholt. Und doch stellt sich die Frage, und die stellen jetzt die Sozialdemokraten, warum nicht zumindest Superreiche, deren Vermögen nicht an einen Betrieb gebunden ist, in derart krisenhaften Zeiten eine höhere Last tragen sollen. Zugleich müssen sich die Sozialdemokraten die Frage der Union gefallen lassen, ob es angesichts der Wirtschaftskrise nicht doch sinnvoll wäre, die Unternehmen zu entlasten, mit niedrigeren Steuern und gebremsten Sozialabgaben. In beiden Fällen geht es um fundamentale Überzeugungen; beide zu überwinden, könnte enorme Veränderungen bringen.
Die Rolle des Sozialstaats: einig im Ziel, uneinig in der Lösung. In der Beschreibung des Problems sind sich Union und SPD einig: Eine Familie, in der beide Eltern arbeiten, aber nicht über ein hohes Einkommen verfügen, leidet besonders unter steigenden Lebenshaltungskosten und der Herausforderung, Familie und Beruf zu vereinbaren. Sie soll spürbar entlastet werden. Die SPD schlägt ein „Familienbudget für Alltagshelfer“ vor, aus dem diese Familien etwa Reinigungskräfte oder Babysitter bezahlen können. Eine typisch sozialdemokratische Idee – mit einer direkten staatlichen Sozialleistung. Die Union aber ist bislang dagegen – aus der Überzeugung, dass der Staat nicht noch eine Sozialleistung tragen kann. Ihr Gegenvorschlag: Der Staat unterstützt nicht direkt, sondern entlastet bei der Steuer mit einer höheren Absetzbarkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen. Das wäre unkomplizierter, würde jedoch alle entlasten. Auch die, die es gar nicht brauchen. Welche Idee siegt? Offen.
Eine wehrhaftere Gesellschaft, aber keine Rückkehr zur Wehrpflicht? Auch diese Frage rührt an mehr als nur den Rekrutierungszahlen. Als die AG ihre Gespräche aufnahm, war es Boris Pistorius, der darauf bestand, mit einer Lagebeschreibung zu beginnen. Aus Sicht vieler Unionsvertreter galt sein Vortrag nicht ihnen, sondern Pistorius‘ eigenen Parteifreunden. Sein Ziel, so wurde es gelesen: Er wollte vor allem den Sozialdemokraten den Ernst der Lage unmissverständlich klar machen. Trotzdem wollten die SPD-Vertreter von einer Rückkehr zur Wehrpflicht nichts wissen, sondern schlugen vor, in den nächsten Jahren eine Debatte über eine freiwillige Dienstpflicht anzustoßen. Von Unionsseite wurde das mit Unverständnis aufgenommen. Man könne nicht hunderte Milliarden Schulden für die Ausstattung machen, aber auf die Wehrpflicht verzichten, hieß es. Da liegen noch Welten dazwischen.
Abgrenzung und Einladung: Beim Thema Migration ist es besonders schwer. Hier prallen tiefsitzende Unterschiede aufeinander. Die Sozialdemokraten sind noch immer aufgebracht über die Wahlkampfrhetorik der Union; dabei wissen auch viele SPDler, dass die illegale Migration und die auch mit ihr verbundene Kriminalität vor allem vieler jüngerer zugewanderter Männer ein nicht mehr zu ignorierendes Problem geworden ist. Umgekehrt hat es die Union bis heute nicht geschafft, auf das einzugehen, was die SPD seit Jahren beim Anwerben und Einladen von Facharbeitern und Spitzenkräften für zwingend hält. Ein Beispiel: das von der SPD propagierte, liberalere Staatsbürgerschaftsrecht. Beide Seiten ahnen, dass ihr bisheriges Denken Bewegung blockiert; beide stehen vor der Frage, ob sie den Mut haben, neue Schritte zu gehen.
Gesellschaftliche Veränderungen: Wenn Werte und Weltanschauungen aufeinanderprallen. In Zeiten russischer Bedrohung und großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten wirken Debatten über das Selbstbestimmungsgesetz nicht sonderlich wichtig. Trotzdem haben sie immer wieder besonders hohes spalterisches Potenzial. Auch für ein neues schwarz-rotes Bündnis, wenn SPD und Union nicht mehr Verständnis füreinander aufbringen. Hat der Schutz des ungeborenen Lebens oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau mehr Gewicht, wenn eine Schwangere ihr Kind abtreiben möchte? Oder auch: Sollten Frauen, die miteinander verheiratet sind, von Behörden automatisch beide als gesetzliche Mütter angesehen werden, wenn eine von ihnen ein Kind zur Welt bringt? Für manche mögen diese Themen aktuell Nebensächlichkeiten sein. Und doch könnte eine Überbrückung der Gräben an dieser Stelle dem gegenseitigen Verständnis und dem Gemeinschaftsgefühl erheblich helfen.