Analyse
Erscheinungsdatum: 02. Mai 2023

Preis des Bundespräsidenten: Schüler machen Geschichte

Preisverleihung Geschichtswettbwerb 1974

1973 gründeten Präsident Gustav Heinemann und der Stifter Kurt A. Körber den größten deutschen Geschichtswettbewerb. Kinder und Jugendliche schreiben die jüngste Geschichte neu – und werden Teil von ihr. Ein ganz persönlicher Rückblick.

Sven Beckert war 14, als er sich auf die Spuren der Nazi-Zeit seiner Heimatstadt Offenbach begab. Er suchte Überlebende der einstigen Hitlerjugend. Erfuhr, dass die Jungs seines Alters Sport zur „Wehrertüchtigung“ betrieben hatten. Lernte, wie HJ-Führer sie dabei indoktrinierten. Wühlte im Archiv, befragte Zeitzeugen, schrieb alles auf. Wochenenden und Nachmittage eines halben Jahres gingen dabei drauf. Viel Zeit im Leben eines Neuntklässlers.

Heute ist Beckert Professor für Geschichte in Harvard. „Alles, was ich bin, verdanke ich diesem Schülerwettbewerb“, sagt er. „Ich habe gelernt, dass es lohnt, Geduld aufzubringen. Dass es Spaß macht. Und dass Geschichte keine brotlose Kunst sein muss. Ohne den Wettbewerb hätte ich niemals den Mut gehabt, meine Neugier zum Beruf zu machen.“

Mir geht es ähnlich. Durch meine Spurensuche als Jugendliche fand ich auf verschlungenen Wegen zu meinem heutigen Traumberuf. Mein Thema war vergleichsweise harmlos: „Feierabend und Freizeit im Wandel“. 1980 habe ich einen von 102 5. Bundespreise bekommen.

In den 50 Jahren seines Bestehens hat der „Geschichtswettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten“ im doppelten Sinne Geschichte geschrieben: Er hat etliche Kapitel der jüngeren deutschen Historie neu ausgelotet. Nationalsozialismus, Migration, die Umweltbewegung. Und er hat das Leben der 156.212 Teilnehmenden seit 1973 geprägt. Schülerinnen und Schüler taten sich in ihrer Freizeit zusammen oder gingen alleine los, fragten, staunten, empörten sich. Bildeten Thesen und verwarfen sie wieder. Wie mühsam das war!

Für viele wurde es der Beginn eines lebenslangen Schaffens, als Historiker, Wissenschaftlerinnen, Lehrer, Journalistinnen, Publizisten. Früh erfuhren sie, dass ihre Stimmen zählen. Dass Fragen zu Antworten führen. Und Antworten zu neuen Fragen. Manche davon so unbequem für die Umwelt, dass die Fragenden selbst Ziel von Attacken wurden.

Sven Beckert meldete sich damals gleich nochmal an. 1982 ging es um den Alltag in den Kriegsjahren. „Über die erste Arbeit war ich auf eine Gruppe von Zeitzeugen gestoßen, die sich in der Volkshochschule traf. Ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter, die dem Widerstand angehört hatten, als Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten.“ Diesmal gewann der Zwölftlässler den 1. Preis und durfte zum damaligen Bundespräsidenten, Karl Carstens. „Zur Verleihung trug ich eine Friedenstaube am Revers. Carstens deutete darauf und sagte scherzhaft: Da werden wir uns nicht einig.“

Beckerts Schule, das Leibniz-Gymnasium in Offenbach, feierte den Preisträger des Bundespräsidenten nicht. Sie beschwieg die Ehrung des Zwölftklässlers und dessen Werk. Zu nah, zu wenig vergangen war da noch die Vergangenheit.

Die Preisträgerin Anna Elisabeth wurde offen angefeindet. Rosmus hatte als Abiturientin über die Juden von Passau geforscht. Danach wollte sie tiefer in die tiefbraune Geschichte ihrer Heimat einsteigen. Zu tief, wie manche Zeitzeugen fanden. Es kam zum Eklat, drei Jahre lang sperrte das Stadtarchiv Rosmus aus, sie klagte, gewann, schrieb ein Buch: „Widerstand und Verfolgung am Beispiel Passaus“. Und wanderte schließlich in die USA aus; weil sie daheim als Nestbeschmutzerin galt, wie sie sagte. Ihr Fall diente reihenweise Dokus und Filmen als Vorlage. Der berühmteste: „Das schreckliche Mädchen“ von Elmar Verhoeven.

Sven Beckert und ich haben uns mit Anfang 20 kennengelernt, in Hamburg. Weil wir Stellung beziehen wollten im damals tobenden Historikerstreit. Und weil uns die dort ansässige Körber-Stiftung, die den Preis des Bundespräsidenten ausrichtet, weiter begleitete.

Während der Zeit meiner Recherche hing der Haussegen schief. Ich war gerade 13 geworden, ich sollte draußen spielen, statt am Schreibtisch zu hocken. Keine meiner Freundinnen mache so einen Blödsinn, bekam ich zu hören. Ich berief mich auf den Bundespräsidenten, diese ferne, mächtige Autorität. Herr Zickelbein, mein Geschichtslehrer, redete meiner Mutter gut zu. Er sorgte auch dafür, dass mein prämierter Aufsatz im „Harburger Kreiskalender“ abgedruckt wurde. Was für eine Ehre! Und was für ein Erlebnis, die Alten in meinem Dorf aufzusuchen. Kichernd gestanden sie mir, wie sie als Kind bei Poch und anderen Spielen geschummelt hatten.

Fast zehn Jahre später, 1988, bekam ich ein Herbert-Weichmann-Stipendium der Körber-Stiftung, für eine journalistische Recherche. Ich begab mich auf die Spuren von Umweltverschmutzern in Barcelona. Eine ehemalige Tochterfirma von Bayer hatte dort ihren Sondermüll illegal entsorgt, so dass hexavalentes Chrom ins Grundwasser geraten war. Hochmögende Experten des Umweltbundesamtes erklärten mir, dass der Stoff so giftig sei wie Arsen.

Das Archiv des „Spiegel“ kaufte das Ergebnis der Recherche ein. Erst da fasste ich den Mut, Journalistin zu werden; ich, das Mädchen aus der Provinz, das eigentlich Lehrerin werden sollte. Über meinen Werdegang bin ich genauso überrascht wie Sven Beckert. Und genauso dankbar wie er bin ich dem Schülerwettbewerb, mit dem alles anfing. Für uns und für Tausende andere Kinder und Jugendliche in Deutschland.

„Dass wir so ernst genommen wurden, das war das Besondere“, sagt der heutige Harvard-Professor. „ Dieter Galinski, der damalige Geschäftsführer, hat mich sogar zu Hause besucht. Da war ich 19!“ Wenn heute ein junger Student zu ihm käme, werde ihm bewusst, wie wenig wahrscheinlich es sei, in dem Alter für voll genommen zu werden. „Daran denke ich immer, wenn heute Schülerinnen zu mir kommen. Zuzuhören. Antworten zu geben. Offen zu sein.“

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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