Analyse
Erscheinungsdatum: 02. Oktober 2023

Podcaster Ulf Buermeyer: „Auch die Politik wird schlauer“

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Der Jurist Ulf Buermeyer produziert seit 2016 mit dem Journalisten Philip Banse den Podcast „Lage der Nation“. In einem neuen Buch haben sich die Beiden Politikfelder angeschaut, in denen Deutschland Nachholbedarf hat.

Wie ist die Lage der Nation?

Normalerweise haben wir bei vielen Themen eine Diskurskultur, die konstruktiv nach vorne schaut. Momentan wird das aber von der Migrationsdebatte überlagert, die völlig irrational geführt wird.

Wie meinen Sie das?

Man müsste den Menschen in Deutschland zunächst mal sagen: Migration ist ein Faktum. Es werden jedes Jahr Hunderttausende Menschen nach Deutschland kommen, und daran lässt sich auch wenig ändern. Die Frage ist nicht, wie wir sie abhalten, sondern die Frage ist, wie wir diese Migrationsbewegungen zu einem Erfolg machen. Das ist der entscheidende Perspektivwechsel, der in Deutschland fehlt. Aber darüber haben wir in unserem Buch ganz bewusst nicht geschrieben, weil wir eben finden, dass dieses Thema schon zu viel Raum einnimmt.

Ist die Überlastung vieler Kommunen kein legitimes Argument dafür, die Aufnahme von Flüchtlingen zu begrenzen?

Natürlich muss man den Kommunen helfen, und da sehe ich auch den Bund viel stärker in der Pflicht. Aber letztlich lässt sich Migration ohnehin nicht wirksam begrenzen, insbesondere nicht auf nationaler Ebene. Daher wollten wir zeigen, dass es auch noch ganz andere Baustellen gibt, wo die Politik in Deutschland wirklich etwas tun kann.

Hat sie bei diesen acht „Baustellen der Nation“, von der Energiewende bis zum Bildungssystem, auch etwas positiv überrascht?

Ja, für viele der Baustellen gibt es schon eine ganze Menge an Lösungen. Jetzt wäre es die Aufgabe der Politik, sich darüber zu informieren und sie umzusetzen. Denken wir zum Beispiel an die Bahn: Jeder weiß, wir müssen Geld in die Infrastruktur investieren. Was aber viel zu wenig bekannt ist: die völlig dysfunktionale Unternehmensstruktur der Deutsche Bahn AG. Das ist ein Konzern mit über 600 einzelnen Firmen – mit eigenen Vorständen, eigenen Satzungen, eigenen Bilanzen. Ein unfassbarer bürokratischer Aufwand. Das alles müsste wieder in ein Unternehmen mit nur einigen wenigen Sparten integriert werden.

Lernt die Politik aus vergangenen Fehlern?

Bei den Feldern, die wir beleuchtet haben, ist mir aufgefallen, dass es häufig an der Demut fehlt, Fehler einzugestehen. Die Fragmentierung der Bahn etwa hat die Politik in den Neunzigern aktiv gefördert. Heute trauen sich nicht viele, zu sagen: Das war Quatsch. Das hat aber auch mit unserer politischen Kultur allgemein zu tun: Wir neigen in Deutschland nicht dazu, Menschen dafür zu loben, wenn sie Fehler einsehen. Wenn zum Beispiel Robert Habeck oder Nancy Faeser in einer Sachfrage ihre Meinung ändern, wird das schnell als „Schwäche“ oder „Einknicken“ wahrgenommen. Schon diese Sprachbilder weisen in die falsche Richtung.

Warum?

Natürlich schreitet Erkenntnis voran und auch die Politik wird schlauer. Deswegen sollten wir Politikerinnen und Politiker eher dafür belohnen, wenn sie sagen: Ich bin jetzt schlauer als noch vor einem Jahr.

Sie schreiben, unser politisches System belohne langfristige Investitionen nicht – weil etwa oft auf den nächsten Wahltermin geschielt werde. Wie könnte man das ändern?

Da spielen viele Akteure zusammen – zum Beispiel bei der Frage, ob Investitionen in Infrastruktur als lohnenswert angesehen werden. Heutzutage bekommt man viel Beifall, wenn man eine neue Ortsumgehung bauen lässt. Wenn man hingegen eine Autobahnbrücke sanieren lässt, die es schon gibt, eher weniger. Dabei ist es natürlich sinnvoll, das zu machen, was die Menschen auch mit ihren eigenen Häusern tun: erst einmal zu erhalten, was schon steht, damit es nicht durch das Dach tropft. Meine Hoffnung ist aber, dass sich hier mit politischer Kommunikation viel erreichen lässt.

Inwiefern?

Stellen wir uns einen Bundesverkehrsminister vor, der sagt: Wir verpflichten die Autobahn GmbH dazu, mit dem Geld, das der Bund ihr zur Verfügung stellt, zunächst die Infrastruktur zu erhalten: Erhaltung first, Neubau second. Außerdem sollte der Bund der Autobahn GmbH ermöglichen, Investitionen in die Infrastruktur mit Krediten zu finanzieren. Die GmbH hat eine Satzung und beruht auf einem Bundesgesetz, da könnte man das hineinschreiben. Außerdem könnte man Bundesmittel entsprechend zuweisen. Ich glaube, dass man den Schwerpunkt auf dem Erhalt bestehender Strecken den Menschen erklären könnte, sie sind ja nicht dumm.

Ist es nicht manchmal ein Ablenkungsmanöver, wenn es heißt: „Unsere Inhalte sind gut, wir müssen sie nur besser kommunizieren“?

Natürlich berufen sich Politiker:innen schnell auf Kommunikationsfehler, wenn sie im Gegenwind stehen. Aber schaut man sich die Ampel an, dann ist schon etwas dran: Manchmal braucht es eben mehr als einen halben Satz, um zu erklären, warum die Politik, die man macht, richtig ist. Dafür muss man zunächst mal natürlich von ihr überzeugt sein. Kommunikation kann Fehler verschleiern, aber auch helfen, Menschen mitzunehmen bei Entscheidungen, die vielleicht komplexer sind. Ich es sehe es übrigens dann wiederum als Aufgabe der Medien, langfristig kluge Politik auch zu belohnen.

Sie sind Vorstand der Gesellschaft für Freiheitsrechte und beurlaubter Richter am Landgericht Berlin. Was ist juristisch die größte Baustelle im Land?

Der Föderalismus in Deutschland. Die dysfunktionale Rolle des Bundesrats macht unser Land viel träger, als es sein müsste. Er war mal gedacht als Repräsentation der Länder, um die Weisheit aus ihrer Verwaltungserfahrung auf Bundesebene einzubringen. Es ging nicht um eine Kontrolle der politischen Agenda der Bundesregierung, sondern darum, zu verhindern, dass der Bund beispielsweise massiv Steuereinnahmen von den Ländern auf sich selbst verlagert. Also um eine Missbrauchs-, keine Agenda-Kontrolle. „Das führt zu einem krassen Reformstau."

Und das ist heute anders?

Ja. Der Bundesrat wird benutzt als ein Instrument, mit dem die Opposition ihre politischen Vorstellungen in die Bundespolitik einbringt. Das ist deswegen ein Problem, weil es im Ergebnis zu einer ganz breiten Koalition im Bund führt – von den Grünen bis zur CSU! Man kann auf Bundesebene ohne die Zustimmung aller demokratischen Parteien de facto kein Gesetz mehr machen. Das führt zu einem krassen Reformstau. So ist Demokratie nicht gedacht, sie lebt vom Wettbewerb unterschiedlicher Konzepte. Und wenn es im Bundestag eine Mehrheit für eine bestimmte Agenda gibt, dann muss sich diese auch durchsetzen können. Es ist dann die Rolle der Bürgerinnen und Bürger, bei der nächsten Bundestagswahl zu entscheiden, ob das so bleibt.

Also fordern Sie eine neue Föderalismusreform?

Es bräuchte noch nicht mal eine Verfassungsänderung. Es würde reichen, dass sich die Koalitionen auf Landesebene darauf einigen, dass sie einem Gesetz im Bundesrat zustimmen – sofern sich nicht alle Parteien der jeweiligen Regierung einig sind, dass sie es ablehnen. Bislang ist es ja so: Wenn nur eine Partei Nein sagt, muss sich das Land enthalten. Das wird im Bundesrat aber wie ein Nein gewertet. Das heißt, jede noch so kleine Koalitionspartei hat ein Vetorecht im Land. Und damit kommt im Bundesrat sehr schnell eine Blockademacht zustande.

Was schlagen Sie vor?

Eine Ministerpräsidentenkonferenz, bei der man vereinbart: Wir ändern alle unsere Koalitionsverträge, damit die Bundestagsmehrheit mehr Spielraum hat. Als Stichtag könnte man sich auf den Termin der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages einigen. Denn ich kann natürlich nachvollziehen, wenn eine aktuelle CDU-Landesregierung der Ampel jetzt nicht mehr Macht geben will. Aber wer weiß, wer die nächste Bundestagswahl gewinnt? Ab dann sollte gelten: Im Zweifel nicht mehr für das Nein, sondern das Ja.

Ihr Buch ist zur Halbzeit der Legislaturperiode erschienen. Was erhoffen Sie sich von der zweiten Hälfte?

Ich sehe zwei Baustellen, auf denen eine Menge passiert. Das eine ist der Ausbau vor allem von Fotovoltaik, aber auch von Windkraft. Da hat die Ampel eine ganze Menge an Weichen richtig gestellt. Ich mache mir auch Hoffnungen, dass der Infrastrukturstruktur-Ausbau besser funktioniert. Das sogenannte Planungsbeschleunigungsgesetz hat einige Stellschrauben richtig gestellt, insbesondere nach den Beratungen im Bundestag. Der ursprüngliche Entwurf aus dem Bundesjustizministerium war eine Katastrophe. Aber das ist ein Beispiel für gute Fehlerkultur, da möchte ich Marco Buschmann ausdrücklich loben.

Wie kommt’s?

Sein Gesetzentwurf war nach einhelliger Meinung der Expertinnen und Experten in der Anhörung eher kontraproduktiv. Aber Buschmann war dann Gott sei Dank nicht so eitel, zu sagen: Das peitsche ich jetzt durch. Stattdessen hat der Bundestag den Entwurf in den Ausschussberatungen völlig umgekrempelt, und Buschmann hat diese Änderungen offenbar stillschweigend mitgetragen, denn gegen sein Votum hätte die FDP-Fraktion dem geänderten Entwurf kaum zugestimmt. Noch besser wäre es natürlich gewesen, er hätte gleich einen guten Entwurf vorgelegt.

Sie fordern allgemein eine aktivere Rolle des Staates. Auf welchem Weg sehen Sie da die Ampel-Koalition?

Ein Beispiel, wo ich eher optimistisch bin, ist die Rolle des Bundes im Bereich Digitalisierung. Viele der Probleme beruhen darauf, dass es an Standards fehlt. Da muss der Bund klare und verpflichtende Vorgaben machen. Das hat er 20 Jahre lang nicht gemacht, aber so langsam wacht er auf. Außerdem bietet er mit der „BundID“ einen Weg an, mit dem die Verwaltung die Menschen erreichen kann, ohne Briefe schreiben zu müssen. Und mit dem elektronischen Personalausweis gibt es eine einheitliche Identifikationsmöglichkeit – die jetzt noch in die Anwendungen der Verwaltung eingebaut werden muss. Aber es geht in die richtige Richtung.

Gab es schon mal einen Moment, in dem Sie mitgelitten haben mit jemandem aus der Politik?

Ich leide vor allem mit den vielen Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich Tag für Tag für unsere Demokratie einsetzen, aber einem unglaublichen Ausmaß an rechtsextremem Hass ausgesetzt sind – vor allem in sozialen Netzwerken. Ich hoffe zugleich, dass der Bund hier bald eine gesetzliche Grundlage für Accountsperren schafft, um wenigstens die schlimmsten Hassprediger zum Schweigen zu bringen.

Ihr Buch ist ein Rundumschlag. Haben Sie schon mal überlegt, in die Politik zu gehen, um es besser zu machen?

Ich denke, dass ich meine Expertise am besten einbringen kann, indem ich gemeinsam mit Philip Banse in der Lage der Nation die Bundespolitik kritisch, aber stets konstruktiv begleite, denn so können sich alle Parteien von unseren Ideen inspirieren lassen. Mehrheiten organisieren können andere viel besser als ich, dazu fehlt mir nicht zuletzt der parteipolitische Stallgeruch.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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