Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Juni 2023

Pflege in Not: Arbeitgebernahe Initiative fordert mehr Eigenverantwortung und Vorsorge

Bewohner im Rollstuhl in einem Pflegeheim Themenfoto vom 14.03.2023. EDITORIAL USE ONLY *** Resident in a wheelchair in a nursing home themed photo taken 14 03 2023 EDITORIAL USE ONLY Copyright: epd-bild/WernerxKrueper Pflegeheim_230314_164

Immer mehr Pflegebedürftige, immer weniger Personal: Das sind die düsteren Aussichten. Eine Initiative der Privatkrankenkassen, Altenheimbetreiber und Pflegedienste hat mit Fachleuten zusammen Wege erarbeitet, wie Deutschland mit weniger Pflegekräften Betroffene versorgen könnte – und was wir tun müssten, damit Ältere möglichst lange auf eigenen Beinen stehen.

Deutschland droht der Pflegenotstand – und zwar noch in diesem Jahrzehnt. Das zeigen Zahlen der „Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform“, ein Zusammenschluss des Verbands der Privaten Krankenversicherung (PKV) mit fünf weiteren Organisationen, darunter der Arbeitgeberverband Pflege und der Bundesverband der Betreuungsdienste (BBD). Allein bis 2030 werden 130.000 zusätzliche Pflegekräfte ambulant und in Heimen nötig für dann prognostizierte 5,7 Millionen Pflegebedürftige (heute: fünf Millionen).

Doch diese Pflegekräfte kann und wird es wohl nicht geben. Nicht einmal die Anordnung „par ordre de mufti“ habe gewirkt, sagte Thomas Eisenreich vom BBD am Montag in Berlin. Von den 13.000 neuen Stellen, die der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 2019 per Gesetz verordnet hatte, seien bis heute erst 20 Prozent besetzt. Und das, obwohl die Pflegeversicherung jährlich dreistellige Millionenbeträge für die Erfüllung des sogenannten Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes bereitstellt. Die Entwicklung geht stattdessen in die gegenteilige Richtung. „ Wir müssen uns darauf einstellen, die Altenpflege künftig mit weniger Personal zu organisieren, da rund eine halbe Million Pflegefachpersonen in den nächsten Jahren in Rente gehen“, sagte Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbandes Pflege.

Auch mit Fachkräften aus dem Ausland kann die Lücke nicht gefüllt werden.Grit Braeseke vom IGES Institut untermauerte dies mit Zahlen. Die Länder, aus denen diese Kräfte kommen sollen, haben selbst meist schon zu wenige Pflegekräfte. Deutschland ist bei der Versorgung mit Pflegekräften weltweit auf Platz 13 mit 123 Pflegekräften auf 100.000 Einwohner, weit über dem Weltmittelwert von 48. Die Weltgesundheitsorganisation mahnt daher, die Ressource Pflegepersonal inländisch zu organisieren.

Selbst höhere Löhne würden nicht zu mehr Personal führen, so die Vertreter der arbeitgebernahen Initiative. Pflegekräfte in Pflegeheimen verdienten mit durchschnittlich 3.363 Euro pro Monat brutto inzwischen mehr als Beschäftigte in der Gesamtwirtschaft im Durchschnitt. Dabei sind die Kosten für einen Pflegeheimplatz schon jetzt sehr hoch: 2.508 Euro beträgt der Eigenanteil pro Pflegeheimplatz im Bundesdurchschnitt. Weil sich das immer weniger Menschen mehr leisten können, haben die PKV ihren Plan eines „Neuen Generationenvertrags für die Pflage“ jüngst vorgestellt. Tragende Säule: eine private Pflegezusatzversicherung.

Doch wie nun mit dem bestehenden Personal die Pflegelücke schließen? Die Initiative hat zusammen mit zwei unabhängigen Gesundheitexpertinnen Lösungsvorschläge vorgestellt, die sich um vier Stichwörter gruppierten: Akademisierung, Digitalisierung, Deregulierung und Prävention.

Besonders auf den letzten Punkt, die Vorsorge, setzt die Gerontologin Adelheid Kuhlmey, Wissenschaftliche Direktorin an der Charité. In Japan schreibe sich jede Kommune die Erhaltung der Selbständigkeit älterer Menschen auf die Fahnen. In Deutschland dagegen stünden die Defizite der Senioren im Mittelpunkt: je mehr, desto höher der Pflegegrad, desto mehr Geld. „Das ist die falsche Philosophie“, sagte Kulmey. Der Medizinische Dienst müsse die Menschen checken, noch bevor sie pflegebedürftig würden, am besten ab 70 Jahren. Und zwar mit der Fragestellung: Wie können diese Menschen fit bleiben oder werden? Studien zufolge würden nur 30 Prozent der Ressourcen in den Körpern der Über-80-Jährigen heute mobilisiert.

Japan gilt nicht nur deshalb als Vorbild. Das Land mit den vielen Hochbetagten habe keinen Mangel an Pflegekräften, sagte Eisenreich. Das Geheimnis: „In Japan arbeiten die Rentnerinnen und Rentner in der Pflege mit.“ Das grauhaarige Personal arbeite zwar in seinem eigenen Tempo, aber dennoch in Festanstellung und nicht im Ehrenamt. Darüber hinaus beuge die Kommunikation während der Arbeit gegen die andere große Krankmacherin des Alters vor: die Einsamkeit.

Insgesamt müsse der Pflegeberuf attraktiver werden, so die Initiative. Mit einem Akademisierungsgrad von nur 0,81 Prozent bei den Pflegekräften hinke Deutschland international hinterher. Pflegekräfte müssten mehr Kompetenzen erhalten, insbesondere auch seitens der Ärzte, sie müssten aufsteigen können und für Führungsaufgaben geschult werden. Ohne Schulung münde ein Aufstieg leicht in Überforderung.

Eine gute Nachricht: Die Umschulung zur Pflegekraft sei stark nachgefragt, weil sie gut bezahlt werde. „Wir haben einen Ausbildungsrekord in der Pflege“, so Halletz. Der Wunsch der Arbeitgeber-Vertreterin: „An der Bezahlung sollten sich künftig die Zeitarbeitsfirmen beteiligen, denn sie profitieren von der starken Nachfrage nach frei verfügbaren Pflegekräften.“

D er wichtigste Punkt für die drei Vertreter aus der Praxis war eine Deregulierung und Entbürokratisierung in den dafür zuständigen Bundesländern. Pflegeheimbetreiber bräuchten das Vertrauen der Politik, um ihr Personal sinnvoll selbst zu steuern, sagte Thomas Knieling vom Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe. So sei ihnen heute vielerorts verboten, das Personal auf ihren Stationen durch Personal in ihrer Ambulanz oder der Tagespflege aufzustocken – weil diese aus drei verschiedenen Töpfen finanziert würden. Schuld daran seien starre Vorgaben der Länder, die jegliche Innovation im Keim ersticke.

Isabell Halletz unterstrich den Punkt: „ Mit starren Personalquoten kommen wir nicht weiter. Sie erschweren schon heute die wohnortnahe Pflege und führen dazu, dass Angehörige einspringen müssen oder pflegebedürftige Menschen unversorgt bleiben.“

Auch mit Blick auf die 236.000 ausländischen Pflegekräfte in Deutschland mahnte die Arbeitgeber-Vertreterin zu weniger Bürokratie und dafür schnelleren Verfahren. Heute dauere es bis zu zwölf Monate, bis eine Facheignung aus dem Ausland anerkannt würde. Da sei die hohe Motivation, mit der viele Anwärterinnen kämen, häufig schon perdu. „Wir müssen weg von einer Misstrauens- und hin zu einer Willkommenskultur.“ Anwerbeprogramme im Ausland hielt sie für wenig hilfreich, so lange vor Ort nicht mehr Tempo vorgelegt werde dank klarer, standardisierter Verfahren.

Auch die pflegenden Angehörigen, mit 84 Pr „Deutschlands größter Pflegedienst“, leiden unter Bürokratie und schlechter Kommunikation. Gut zwölf Milliarden Euro an „Pflegeentlastungsleistungen“, die das Gesetz vorsieht, wurden 2021 nicht abgerufen. Nur 20 Prozent der pflegenden Verwandten rufen überhaupt die Leistungen ab, die ihnen zusteht.

Heimlicher Hoffnungsbringer: die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die Karl Lauterbach voranbringen will. Wobei die Fachleute nicht bloß um die Vorteile elektronischer Patientenakten oder einem Datenaustausch mit Praxen und Apotheken wissen. Die Digitalisierung könnte sogar präventiv wirken, so Eisenreich. Stichwort Gamifikation: „ Wie kann man mit digitalen Spielen ältere Menschen motivieren, Dinge zu tun? Es gibt da schon tolle Erfolge.“

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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