Analyse
Erscheinungsdatum: 22. Juni 2024

Olaf Scholz und Lea Ypi: Tagespolitik versus Kapitalismuskritik

Auf dem Progressive Governance Summit diskutierten der Bundeskanzler und die Politikwissenschaftlerin über mögliche Ursachen für die Probleme in Europa.

Es war eine nicht alltägliche Begegnung, und die in Albanien geborene Lea Ypi, 44, als Kind mit den Eltern nach England ausgewandert, legte munter los. Der Kapitalismus sei eine Gefahr für die Freiheit, er vertiefe die Ungleichheit, und er beute aus. Auch heute noch, etwa in Form des Braindrain in den Ländern des Südens. Deshalb: „Die Freiheit ist nichts, solange sie nicht für alle da ist.“ Und deshalb seien Kapitalismus und Demokratie auch eigentlich nicht vereinbar.

Der Kanzler hielt kräftig dagegen. Und er hatte durchaus valide Argumente auf seiner Seite. Es gebe fortgeschrittene Modelle des Kapitalismus, etwa den Wohlfahrtsstaat bundesrepublikanischer Prägung, aber auch darüber hinaus. Scholz: Überall – gemeint ist weltweit – sind Mittelschichten entstanden. Und wer hätte 1990 die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Baltikum, in Slowenien, Kroatien oder Rumänien prognostiziert?

Auch die Globalisierung habe sich letztlich als „Benefit für die Welt“ herausgestellt. Ein weiterer Beleg für die Früchte der Globalisierung, jedenfalls aus Scholz’ Sicht: Einst, durch die Industrialisierung, habe Großbritannien die Textilindustrie in Indien zerstört. Heute, als eine der Folgen der Globalisierung, gebe es in Großbritannien keine Textilindustrie mehr, dafür Armeen von Textilarbeitern auf dem indischen Subkontinent. Zu welchen Konditionen die ihren Jobs nachgehen, vertiefte er allerdings nicht.

Und Ypi? „Wir haben politische Strategien“, sagte sie unter dem Beifall des Auditoriums, „aber wir haben keine politischen Ideen“. Natürlich erwartete sie keine Antwort, aber: „Wo ist die europäische Vision? Wo ist die spezifisch sozialdemokratische Idee?“ Und dann schob sie noch eine Spitze hinterher: Zu viele Leader seien Technokraten, „und die führen Debatten ohne Substanz“. Der Kanzler, wohl wissend um seinen Ruf als knochennüchterner Pragmatiker, nahm den Anwurf mit dem Florett auf: „Lassen Sie mich als technokratischer Manager antworten.“ Die politischen Antworten müssten näher an den Alltag der Menschen heranrücken.

Er hatte noch ein bisschen mehr Selbstkritik mitgebracht. Es gebe in der EU keine europäischen Debatten. Parlament, Kommission, ihre Arbeit, ihre Entscheidungen – alles nur schwer durchschaubar. „Es ist ein Problem, alles läuft über die nationalen Regierungschefs“ – woran er möglicherweise ja nicht ganz unschuldig ist.

Letztlich ist der Kanzler aber weiter auf der Suche nach den Ursachen des globalen Trends zum Rechtspopulismus. „Wir brauchen Antworten auf die Frage, warum wir selbst in den reichsten Ländern rechtspopulistische Bewegungen haben.“ Seine Antwort fiel eher vage aus. Die Globalisierung verunsichere die Menschen, „und diese Verunsicherung wird ausgebeutet“. Zur Aufklärung trug auch Ypi nicht wirklich bei. Ihr Befund: „Wenn Leute ohne Moral über Leute ohne Gedächtnis regieren.“

Und dann, ganz zum Schluss, noch ein ungewöhnlicher Moment. Der sonst so pragmatische Kanzler legte seine Nüchternheit für einen Augenblick ab. „Wir müssen eine Vision entwickeln“, sagte er, „eine Vision, die alle erreicht, den ungelernten Amazon-Fahrer, die Verkäuferin, den Manager“. Und dann setzte er einen Begriff, der in der sozialdemokratischen Erzählung demnächst noch häufiger auftauchen wird: die Hoffnung. Den Menschen Hoffnung zu vermitteln, sei die entscheidende Aufgabe, „die Menschen wollen respektiert werden und ihren Platz haben“.

Ein Augenblick der Empathie, bevor der Kanzler wieder ganz nüchtern wurde. Dem mutmaßlichen neuen britischen Premier Keir Starmer mochte er jedenfalls, trotz des Insistierens der britischen Moderatorin, keine Ratschläge über den Kanal zurufen. Ja, man sei im engen Austausch, und Starmer sei ein „sehr pragmatischer“ Politiker. Aber von ihm, Olaf Scholz, gebe es keinen Ratschlag – „und wenn, nicht hier“. Das Video sehen Sie hier.

Table.Briefings war gemeinsam mit dem Guardian Medienpartner des Progressive Governance Summit

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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