Während das politische Berlin am Sonntagabend die Wahlauszählung in der Hauptstadt verfolgte, trug sich in einer Landeshauptstadt im Südwesten ein Drama zu – zumindest für die SPD. Seit 1949 stellten die Sozialdemokraten in Mainz ununterbrochen den Oberbürgermeister, allein 22 Jahre lang hatte der legendäre Jakob „Jockel“ Fuchs das Amt inne. Am Sonntag ging die Ära zu Ende – die sozialdemokratische Kandidatin Mareike von Jungenfeld schaffte es mit 13,3 Prozent nur auf Rang vier und damit nicht einmal in die Stichwahl Anfang März. Nun ist die Bestürzung groß. In Mainz sowieso; aber auch im Willy-Brandt-Haus in Berlin, wo sie schon lange nach einer Strategie suchen, um in den Großstädten wieder an alte Erfolge anzuknüpfen.
Gewinner in Mainz war ein außerhalb der Stadt nahezu Unbekannter. Der heißt Nino Haase, ist 39 Jahre alt und parteilos, ein unerschrockener Unternehmer und Selfmademan. Mit seinen 40,2 Prozent lag er in 107 von 118 Wahllokalen vorn. Er tritt in drei Wochen gegen den Grünen Christian Viering an, der mit 21,5 Prozent auf Platz zwei eintrudelte. Es geht dann um die Macht in einer Stadt, die durch die sprudelnden Biontech-Steuern derzeit Pro-Kopf-Einnahmen erzielt wie keine andere deutsche Kommune; und die damit Gestaltungsmöglichkeiten bietet, von denen andere nur träumen können.
Die Neuwahl war nötig geworden, nachdem Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Oktober Parteifreund Michael Ebling über Nacht vom OB-Sessel weg in die Chefetage des Innenministeriums gehievt hatte. Der Platz war frei geworden, nachdem Vorgänger Roger Lewentz im Zuge der Aufarbeitung der Ahrtal-Katastrophe seinen Stuhl hatte räumen müssen. Der Nachfolgefrage im Mainzer Rathaus maß jedenfalls weder in der Landesregierung noch im Unterbezirk ernsthaft jemand Bedeutung bei. Es war ja noch immer gut gegangen.
So wurde eine eher blasse Finanzreferentin OB-Kandidatin. Ohne Erfahrung, ohne Ideen, ohne eine Strategie. Dabei hätte die SPD gewarnt sein können. Haase hatte schon bei der Wahl 2019 in der Stichwahl 45 Prozent geholt, damals gegen WahlsiegerEbling. Zugleich waren die in Mainz einst stolzen Sozialdemokraten bei der Kommunalwahl im gleichen Jahr auf Rang drei abgerutscht.
Am Wahlabend blieben Reaktionen aus. Die zuvor optimistischen Sozialdemokraten waren so perplex, dass es aus der Spitze der Landes-SPD an alle nur eine Losung gab: „Keine Kommentare, Mund halten!“ Dafür kommentierten andere die Kampagne der SPD-Kandidatin umso bissiger: „Ihr Wahlkampf war nahezu inhaltsfrei, ihr Auftreten zögerlich, ihre Ausstrahlung blass“, befand der SWR. „Auch Dreyers Niederlage“, meinte die Allgemeine Zeitung aus Mainz. Und auch in Parteikreisen hieß es selbstkritisch: „Nichts macht träger als der Erfolg der Vergangenheit.“
Der Union ging es am Sonntag kaum besser. Ihre Kandidatin kam auf 13,5 Prozent, ebenfalls ohne jede Stichwahl-Option. Offenbar trauen in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz den früher großen Parteien nicht mehr viele etwas zu. Das Phänomen ist nicht neu, die Dimension schon: Selten wurde in einer deutschen Großstadt das Partei-Establishment vergleichbar abgewatscht. Die nächste Landtagswahl ist zwar erst in drei Jahren, aber Malu Dreyer dürfte alarmiert sein.