Schon wegen „eines Pickels am Po“ würden Eltern ihr Kind in die Notaufnahme bringen, klagte jüngst Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendärzte. Zur Abhilfe brachte der Arzt eine Gebühr ins Spiel. Das Geschrei war groß; der Sozialdemokrat Karl Lauterbach nannte Fischbachs Idee, die Eltern für das unnötige Verstopfen von Notaufnahmen zur Kasse zu bitten, sogar „unethisch“.
Was der Bundesgesundheitsminister nicht sagte: Es gibt längst einen Plan zur Entlastung der Notaufnahmen. Allerdings hat den noch sein Vorgänger von der CDU, Jens Spahn, angeschoben. Spahn beauftragte im Juli 2021 den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), das höchste Organ zur Selbstverwaltung des Gesundheitswesens, mit der Entwicklung eines Verfahrens, mit dem echte von unechten Notfällen im Krankenhaus „qualifiziert“ und „standardisiert“ unterschieden werden sollen. Die nichtdringlichen Fälle sollen das Krankenhaus verlassen und stattdessen entweder in einer vertragsärztlichen Notdienstpraxis behandelt werden oder zeitnah einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt erhalten.
Ein guter Plan, sollte man meinen. Zumal es die Zutaten dafür längst gibt: Standardisierte Verfahren zur Beurteilung vermeintlicher Notfallpatienten, also digitale Triagesysteme. Und natürlich ambulante Praxen. Doch die Krankenhauslobby fand den Plan von Anfang an nicht gut. Anders, als man meinen sollte angesichts der vollen Notaufnahmen, kommt diese Fülle nämlich vielen Kliniken zupass. Deutschland ist das Land auf der Welt mit dem höchsten Anteil von Notfallpatienten, die in Klinikbetten landen – nämlich deutlich mehr als 40 Prozent. Da Deutschland sich die meisten Klinikbetten pro Einwohner leistet, müssen die eben auch gefüllt werden. Die Notaufnahmen sind aus Sicht vieler Klinikleiter schlicht Umsatzbringer.
So wurde das Vorhaben Jahr um Jahr verschoben. Dabei wurde aus der Pflicht der Krankenhäuser, Patienten, deren Behandlung länger als 24 Stunden aufschiebbar ist, einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt zu geben, lediglich die Vergabe eines Codes. Mit dem soll der Patient sich selbst einen Termin elektronisch vermitteln lassen. Kurz vor knapp, am 1. Juli, schwächte die Ampelkoalition den Plan nochmal ab – im Rahmen eines völlig anderen Gesetzes, dem „Pflegeunterstützungsentlastungsgesetz“. Fünf Tage später legte der G-BA die Richtlinie vor. Sie soll eine Fehlsteuerung vermeiden, heißt es darin, bei der „Hilfesuchende die begrenzten Behandlungskapazitäten der Krankenhäuser binden, obwohl kein dringlicher medizinischer Notfall ohne vertragsärztliche Behandlungsmöglichkeit vorliegt“.
Eins der standardisierten Verfahren, das schon in Deutschland im Einsatz ist, heißt SMeD, kurz für „Strukturierte Medizinische Ersteinschätzung in Deutschland“. Der Notdienst der Kassenärzte, den man unter 116117 erreicht, nutzt ihn seit 2020 millionenfach. Menschen, die nicht sicher sind, ob sie in Behandlung müssen oder nicht, können ihn auf der Homepage 116117.de selbst testen. Ein Chatbot fragt dann nach Geschlecht, Alter, lebensbedrohlichen Symptomen wie Atemnot oder schweren Blutungen. Wer diese Symptome hat und weiter klickt, erhält die rot unterlegte Warnung „Notfall“ und „Wählen Sie die 112".
Das Programm bildet auch aus Symptomkombinationen, die für sich gesehen nicht bedrohlich sind, die Indikation „schnellstmögliche ärztliche Behandlung“. Etwa wenn ein Senior Fieber hat und zusätzlich seit Tagen erbricht oder wenn eine Schwangere anhaltend unter Schwindelanfällen leidet. Der G-BA lässt neben SMeD derzeit noch weitere digitale Triagesysteme prüfen, etwa Optinofa.
Die Änderungen, die die Koalitionäre in letzter Minute hinein verhandelten, hätte die Angst der Krankenhauslobby vor dem Verlust von Patienten eigentlich lindern müssen. So sollten zum Beispiel nur dann Nicht-Notfall-Patienten die Notfallaufnahme verlassen, wenn eine vertragsärztliche Notfallpraxis offen hat. Dirk Heinrich, Vorsitzender des Spitzenverbands der Fachärzte, reagierte erbost: „Mit dieser Änderung wird das gesamte Ersteinschätzungsverfahren ad absurdum geführt. Wenn eine Patientin oder ein Patient mitten am Tag in einer Notaufnahme aufschlägt, sind logischerweise alle Bereitschaftsdienstpraxen noch geschlossen.“ Deshalb dürften nun doch wieder die Krankenhäuser die Nicht-Notfälle behandeln, ärgerte sich der Fachärztevertreter über die Ampel-Koalition.
Mitglieder der Regierungsfraktionen wie der grüne Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen begründen die Änderungen damit, dass es wenig sinnvoll, in einigen Fällen sogar lebensgefährlich sei, Patienten mit einem akuten medizinischen Problem im Krankenhaus abweisen zu müssen, ohne gleichzeitig verbindlich dafür zu sorgen, wo und wann sie konkret andernorts verlässlich geeignete ärztliche Hilfe erhalten. Und sein Kollege Andrew Ullmann von der FDP sagt: „Die Reform der Notfallversorgung, allen voran die Entlastung der entsprechenden Kapazitäten und die Verbesserung der Patientensteuerung, kann nur ganzheitlich betrachtet werden.“ Ein entsprechender Gesetzentwurf sei in Arbeit.
Tatsächlich soll im Zuge der Krankenhausreform auch die Notfallversorgung neu geregelt werden. Die von Lauterbachs Regierungskommission bisher avisierten Änderungen sind sogar umfassender als die der schwer umkämpften neuen G-BA-Richtlinie. Doch schon über letztere zeigt sich der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gass gegenüber Table.Media empört: „Die Idee, dass Krankenhäuser sogar noch Praxistermine vermitteln sollen, ist gänzlich realitätsfremd“, sagt Gass. Künftig kämen Leute schon in die Notaufnahme, um dort endlich einen Arzttermin zu bekommen. Außerdem gäbe es kein „validiertes Ersteinschätzungsverfahren“. So lange es das noch nicht gäbe, müssten „alle Patientinnen und Patienten von einem Arzt beurteilt werden können“.
Beim G-Ba ist man erstaunt über die Kritik. Einen Arzt sieht die Richtlinie nämlich zusätzlich zur digital unterstützten Ersteinschätzung vor. Sie verlangt, dass stets ein Notfallmediziner des Krankenhauses vor der Codevergabe für einen ambulanten Termin das „medizinische vertretbare Zeitfenster zur Behandlung“ prüfen muss – persönlich oder via Telemedizin.
Vielleicht treibt Gass vor allem die Sorge um seine notleidenden Krankenhäuser um. Denn trotz der Last-Minute-Änderungen der Koalitionäre liest man beim G-BA die Gesetzeslage immer noch so, dass „eine Versorgung und Vergütung von Nicht-Notfällen durch ein Krankenhaus“ ausgeschlossen sei, wie es im Begleittext zur Richtlinie heißt.
Bleibt abzuwarten, ob Lauterbachs Juristen die Rechtslage auch so beurteilen wie der G-BA. Normalerweise werden G-BA-Vorlagen vom Gesetzgeber binnen zwei Monate durchgewunken. Er kann nur noch juristische Bedenken geltend machen. In diesem besonderen Fall aber sei „alles möglich“, sagen Insider.
Das Tauziehen liegt nicht zuletzt daran, dass das ambulante und das stationäre Gesundheitswesen hierzulande streng getrennt arbeiten. Diese Trennung freilich soll die Krankenhausreform überwinden. Mit der G-BA-Richtlinie für die Kooperation bei der Notfallversorgung könnten erste Lernschritte bei der Verzahnung gemacht werden – zum Wohl der echten Notfallpatienten. Und des Beitragszahlers.