Der Tag, an dem die bundespolitische Existenz der CSU endgültig gesichert wurde, lässt sich ganz genau benennen. Es war der 30. Juli 2024. An diesem Tag korrigierte das Bundesverfassungsgericht das von der Ampel-Regierung beschlossene neue Wahlrecht in einem wichtigen Punkt. Die Karlsruher Richter kippten die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel. Sie besagt, dass eine Partei, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, trotzdem in den Bundestag kommt, wenn sie drei Direktmandate gewinnt. CSU und Linke hatten gegen das Wahlrecht geklagt, weil diese Bestimmung ihr Todesurteil hätte sein können. Die Linke war 2021 nur dank dreier Direktmandate ins Parlament gekommen, die nicht nur den siegreichen Kandidaten einen Sitz sichert, sondern auch die gewonnenen Zweitstimmen mitberücksichtigt.
Die CSU dagegen musste sich viele Jahrzehnte keinerlei Gedanken über die Grundmandatsklausel machen. Dank Wahlergebnissen jenseits der 50-Prozent-Marke in Bayern lag sie bundesweit immer sicher über der Fünf-Prozent-Marke. Doch 2021 war das anders: Da holte die CSU in Bayern nur 31,7 Prozent, was bundesweit ein Ergebnis von 5,2 Prozent bedeutete. Drei Zehntel weniger und die CSU wäre aus dem Bundestag geflogen, obwohl sie 45 der insgesamt 46 bayerischen Wahlkreise gewonnen hatte.
Diese Gefahr für die Christsozialen ist nun gebannt. Im wesentlichen Punkt hat Karlsruhe das neue Wahlrecht dagegen bestätigt. Um die Zahl der Abgeordneten verlässlich auf 630 zu begrenzen, gilt künftig die sogenannte Zweitstimmendeckung. Wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zusteht, werden die überzähligen Direktmandate gestrichen. Die Wahlkreissieger mit den schlechtesten Ergebnissen gehen dann leer aus.
Weil die CSU traditionell fast alle Wahlkreise direkt gewinnt, kann auch diese Regelung fatale Folgen für sie haben, wenn ihr Zweitstimmenergebnis nicht für alle Wahlkreissieger ausreicht. Bei der Wahl 2021 wäre das der Fall gewesen, wie eine Musterrechnung der Bundeswahlleiterin zeigt. Wäre vor drei Jahren schon nach dem neuen Wahlrecht gewählt worden, hätte die CSU neun Mandate verloren. Darunter wären alle Mandate in den Großstädten München, Nürnberg und Augsburg gewesen. Weil dort Grüne und SPD deutlich stärker sind als auf dem Land, fallen auch die Ergebnisse der CSU-Sieger geringer aus. Aber auch zwei Wahlkreissieger in langjährigen CSU-Hochburgen wie Passau oder dem Oberallgäu wären auf der Strecke geblieben.
Noch ärger hätte es 2021 allerdings die CDU in Baden-Württemberg erwischt. Sie hätte gleich 11 Direktmandate verloren. Auch bei der SPD wären acht Wahlkreissieger leer ausgegangen, die AfD hätte ein Mandat verloren.
Obwohl diese Zweitstimmendeckung als verfassungskonform bestätigt wurde, spricht CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt weiterhin von „Manipulation“ des Wahlrechts. Dabei ist Dobrindt einer der Hauptschuldigen des neuen Wahlrechts. Jahrelang war eine von allen Parteien mitgetragene Reform des Wahlrechts, um damit die immer weitere Aufblähung des Bundestages mittels Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verhindern, immer wieder an der CSU gescheitert. Vor allem auf Betreiben Dobrindts verweigerte sie sich konsequent der einfachsten Methode, die Zahl der Abgeordneten zu verringern: nämlich die Zahl der Wahlkreise zu verringern. In den Augen der CSU sind die Wahlkreissieger die wertvolleren Mandatsträger, weil sie angeblich den direkteren Kontakt zu den Wählern haben. Dabei kennen viele Wähler ihre Direktkandidaten gar nicht und haben nie Kontakt mit ihnen.
Doch aktuell sind die CSU-Töne gegen das Wahlrecht weniger schrill. Das hat mit den besseren Umfragewerten zu tun. Eine aktuelle Prognose im Auftrag des Bayerischen Rundfunks von Ende November sah die CSU bei 45 Prozent. Das hält man zwar auch in der CSU für einen zu optimistischen Zwischenstand. Aber auf ein Wahlergebnis über der 40-Prozentmarke hofft man dort schon, auch wenn die Umfragewerte für die Union gegenwärtig sinken. Zwar sind Vorhersagen über die genaue Sitzverteilung wegen des komplizierten Berechnungsverfahrens schwierig. Wie sich die Sitze auf die einzelnen Parteien und Landeslisten verteilen, sei „völlig ergebnisoffen und kann erst nach Auszählung der Stimmen im Bundesgebiet festgestellt werden“, heißt es in einer Mitteilung eines Sprechers der Bundeswahlleiterin. Aber bei der CSU ist die Mandatsermittlung einfacher, weil sie ja nur in einem Bundesland antritt.
Nach einer Prognose des Hamburger Wahlinformationsdienstes election.de von Ende November könnte die CSU bei einem bundesweiten Ergebnis von 6,5 Prozent (was einem durchaus realistischen Ergebnis von 39 Prozent in Bayern entspräche) mit 49 Mandaten rechnen. Damit würde sie für den Fall, dass sie alle 47 Wahlkreise gewinnt, nicht nur sämtliche Direktkandidaten durchbringen, sondern es kämen sogar noch zwei Listenbewerber zum Zug. Das ist der CSU seit 2013 nicht mehr gelungen.
Für den CSU-Chef Söder hätte das einen angenehmen Nebeneffekt. Denn damit würde Markus Söders Coup, mit der Nominierung des bayerischen Bauernverbandspräsidenten Günther Felßner den Freien Wählern den Stimmenfang auf dem Land zu erschweren, erst richtig aufgehen. Felßner, der nach Söders Willen (und vermutlich mit Zustimmung von Friedrich Merz) im Falle eines Wahlsieges Landwirtschaftsminister werden soll, kandidiert auf Platz drei der CSU-Liste. Weil vor ihm CSU-Spitzenkandidat Dobrindt und die Abgeordnete Andrea Lindholz stehen, die beide sichere Wahlkreise haben, wäre Felßner der erste, der über die Liste zum Zuge käme. Ordentliches Mitglied der Bundestagsfraktion zu sein, wäre für einen politisch unerfahrenen Newcomer wie Felßner ein Riesenvorteil.
Kein Wunder, dass Söder bei der Listenaufstellung am Samstag frohlockt hat. „Plötzlich müssen sich andere über die Zuteilung Gedanken machen“, sagte er. Andere – das ist vor allem die CDU. Sie muss nach der Prognose von election.de fürchten, zwölf Direktmandate zu verlieren, fünf in Hessen und Baden-Württemberg und je eines in Schleswig-Holstein und im Saarland. Bei der AfD würden, sollte die Prognose zutreffen, fünf Wahlkreissieger kein Mandat bekommen.