Sie hatten eine Menge zu besprechen an diesem Montag im Willy-Brandt-Haus. Mit dabei: eine geknickte Spitzenkandidatin, ein selbstkritischer Generalsekretär und ein Kanzler, der nur ansatzweise zu erkennen gab, dass er verstanden hat. Und dass er gewillt sein könnte, seine Strategie zu überdenken.
Von einem „sehr schwierigen Montag“ sprach Generalsekretär Kevin Kühnert und von einem „ganz schlechten Ergebnis“. Vor allem drei Dinge machen den Sozialdemokraten zu schaffen: Da ist zum einen der Verlust von knapp 600.000 Wählern, die zum BSW abgewandert sind; und da sind die 2,5 Millionen Wahlberechtigten, die bei der Bundestagswahl 2021 noch Olaf Scholz gewählt hatten und nun bei der Europawahl zu Hause geblieben sind. Warum waren sie nicht an die Urnen zu bewegen? Sie zu mobilisieren, ist für Kühnert „die entscheidende Frage, die größte und wichtigste Aufgabe“ für die anstehenden Wahlen im Osten – und vor allem im Bund im kommenden Jahr.
Da sind aber auch die ländlichen Räume und schwächer besiedelten Regionen, in denen die SPD unterdurchschnittlich abgeschnitten hat. Und damit korrespondierend das schlechte Abschneiden in den sozial schwierigeren Milieus. So waren es vor allem die Rentnerinnen und Rentner (21 Prozent), die die Kanzlerpartei noch bei knapp 14 Prozent hielten. Bei den Wählern mit niedrigen Bildungsabschlüssen erzielten die Genossen zwar immer noch 18 Prozent, verloren zugleich aber fünf Prozent.
Die Alten zu halten, die Jungwähler adäquat anzusprechen, im ländlichen Raum überzeugende Angebote zu schaffen, ist das eine. Vor allem aber, und auch das bekannte Kühnert, wird es um die Selbstdarstellung der Ampel gehen, und hier ist zuallererst der Kanzler gefragt. „Das Wahlergebnis muss zu einem anderen Handeln führen“, sagte Kühnert. „Und mit ein paar Euro mehr hier, ein paar Strukturmittel dort“ sei es nicht getan. Und dann lenkte er den Blick auf die aktuellen Haushaltsgespräche. Der Haushalt 2025 sei derzeit „die objektiv wichtigste politische Frage“. Zugleich sei der Haushalt das zentrale Vehikel „wie die Menschen die Handlungsfähigkeit oder von Politik erleben“. Oder eben nicht.
Und Scholz selbst? Spurlos scheint das Wahlergebnis auch an ihm nicht vorbeigegangen zu sein. „Das kann nicht folgenlos bleiben“, soll er in einem der Gremien gesagt haben, es müssten sich Dinge ändern. Die Führungsmannschaft um ihn herum soll ihm allerdings auch verdeutlicht haben, dass die Ampel nun nach zweieinhalb Jahren einen Neustart benötige. Sonst sei, anders als 2021, das Ruder nicht mehr herumzureißen. Und dass inhaltlich der Haushalt 2025 die letzte Möglichkeit sei, die Weichen entsprechend zu stellen. In der Sache und in der Darstellung nach außen.
Unklar blieb, ob die Botschaften den Kanzler erreicht haben. Mit Ankündigungen hielt er sich jedenfalls eher zurück. Definierte lediglich in bewährtem sozialdemokratischem Tonfall („Wer die Axt an den Sozialstaat legt….“) noch einmal eine seiner persönlichen roten Linien. Erklärte erneut das Ziel, vor der Sommerpause einen Haushaltsentwurf vorzulegen. Sprach sperrig vom „Uneinverstandensein“ der Regierung bei heiklen Themen wie Klimapolitik oder Migration. Beschrieb insgesamt aber eher die Lage, als dass er sie kritisch oder selbstkritisch analysiert hätte. Immerhin räumte er ein, „dass wir an der Performance arbeiten müssen“. Womit er die Ampel insgesamt meinte. Ob ihn die Einsicht, dass das Ampel-Ansehen durchaus auch mit ihm als Kanzler und seinem Führungsstil zu tun haben könnte, wirklich durchdrungen hat, blieb offen. Dass er jedenfalls beabsichtigt, am eigenen Auftreten und an Auftritten irgendetwas zu verändern, war nicht für alle zu erkennen.
Offen trägt es niemand nach außen, aber an Körpersprache und zwischen den Zeilen wird es bei dem einen oder der anderen Genossen zunehmend deutlicher: Partei- und Fraktion tragen schwer an der Attitüde ihres Kanzlers, die Dinge immer wieder buchhalterisch und schwer verständlich kleinzureden. „Irgendwie“ sei die SPD bei der Wahl am Sonntag mit in Haftung genommen worden für das, „was die anderen da machen“, sagte er am Montag.
Es ist eine Sicht auf die Dinge, die nur schwer erkennen lässt, ob der Kanzler die Stimmung in der Partei wirklich aufgenommen hat. Aber klar ist auch: So groß innerparteilich das leise Grollen über den scheinbar unbeirrbaren Kanzler sein mag, eine Personaldebatte wird es vorläufig nicht geben. Jedenfalls nicht ernstzunehmend aus der Partei heraus. Dass der vermeintlich populäre SPD-Verteidigungsminister im politischen Alltagsgeschäft genauso schnell zerrieben und entzaubert wäre, gilt in der Parteiführung als gesicherte Gewissheit.
So versuchte Kevin Kühnert in seiner Pressekonferenz noch einmal den Ton zu setzen, in Richtung Finanzminister, aber auch in Richtung Kanzler. Sein Thema: Der anstehende Haushalt. Sein Umfang und seine Struktur sei „objektiv die wichtigste politische Frage“. An ihm erweise sich „die Handlungsfähigkeit des Staates“: „Einen Sparhaushalt auf Kosten des sozialen Zusammenhalts – den kann, den wird es mit der Sozialdemokratie nicht geben.“ Scholz würde den Satz wohl unterschreiben – aber wie bringt er es seinem Finanzminister bei?