Analyse
Erscheinungsdatum: 06. August 2023

Martin Schulz zur Lage der Demokratien: „Es ist Gefahr im Verzug"

SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Martin Schulz, Deutschland, Berlin, Willy-Brandt- Haus, SPD Pressekonferenz mit Martin Schulz und Andrea Nahles.Thema: Schwerpunkte der sozialdemokratischen Rentenpolitik, 07.06.2017

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Zeit seines politischen Lebens hat sich Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, mit Rechtsnationalen, Neofaschisten und Populisten auseinandergesetzt. Im Interview spricht er über Silvio Berlusconi, dem er vor 20 Jahren legendär die Stirn bot, über die Wesenselemente demokratischer Kultur und die Abstiegsängste einst stabiler gesellschaftlicher Milieus.

Herr Schulz, weltweit ist ein Trend hin zu rechtskonservativen bis nationalistischen Mehrheiten zu beobachten. Populisten erobern die Macht, einst konservative Parteien gehen Bündnisse ein, die früher nicht vorstellbar waren. In Deutschland hat sich die AfD fest etabliert. Was ist passiert?

Im Grunde hat es vor 20 Jahren mit Silvio Berlusconi in Italien angefangen und viele wie Viktor Orbán, Boris Johnson, Donald Trump, Jair Bolsonaro, Jarosław Kaczyński oder Rodrigo Duterte sind ihm gefolgt und zwar mit dieser Haltung: Sobald ich eine Mehrheit habe, gehört der Staat mir. Und die, die gegen mich sind, sind keine Wettbewerber, sondern Feinde. Nach dem Motto: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, und wer gegen uns ist, muss weg. Das ist geradezu faschistoides Denken.

Das sind für Sie keine Demokraten mehr?

Wer so vorgeht, stellt den Grundkonsens der Demokratie in Frage, nämlich, dass der Wähler über den fairen Wettbewerb der Argumente entscheidet. Und dass der, der die Mehrheit hat, auch den Auftrag hat, für die, die ihn nicht gewählt haben, mitzuregieren. Das gelingt nicht immer zu 100 Prozent, ist aber immer demokratischer Grundkonsens gewesen.

Wie soll das funktionieren in polarisierten Gesellschaften, wie wir sie überall erleben?

Das kulminiert darin, dass Trump und Bolsonaro die Grundvoraussetzung der Demokratie, den friedvollen und geregelten Regierungswechsel nach Wahlen, infrage stellen. Das ist der frontalste Angriff auf die Demokratie, den es seit langer Zeit gegeben hat. Nach dem Motto: Die Wahl ist nur dann legitim, wenn ich sie gewinne. Mit Berlusconi hat es vor 20 Jahren begonnen und jetzt – in den USA oder Brasilien – hat es zum frontalen Angriff auf die Demokratie geführt.

Berlusconi hat Sie vor 20 Jahren mit einem KZ-Wächter verglichen. Im Rückblick: Für was stand diese Auseinandersetzung?

Im Grunde war Silvio Berlusconi, damals italienischer Ministerpräsident, ein früher Donald Trump: Gnaden- und hemmungslos im Einreißen aller gesellschaftlichen Konventionen. Er hatte maximale mediale und ökonomische Macht in einer Hand konzentriert – und das wollte er während seiner EU-Präsidentschaft, die damals noch rotierte, auf die europäische Ebene übertragen.

Und das wollten Sie verhindern?

Wir haben uns dem als sozialistische Fraktion entgegengestellt. Das war im Wesentlichen der Inhalt meiner Rede damals im EU-Parlament. Er ist ausgeflippt, weil er plötzlich merkte, dass er in eine Institution kam, in der seine Mechanismen nicht so ohne weiteres wirkten.

Er hätte es wissen können, er war ja vorher auch Europaabgeordneter.

Stimmt. Und trotzdem: Als Ministerpräsident konnte er machen, was er wollte. Aber er merkte jetzt, dass das im Europaparlament nicht funktionierte. Stattdessen stieß er auf eine Opposition, die er in Italien zum damaligen Zeitpunkt nicht hatte.

Ahnten Sie damals, dass Berlusconi einen Trend setzen würde?

Vor 20 Jahren haben viele, auch ich, Berlusconis Vorgehen als einen Frontalangriff auf all das empfunden, was demokratische Kultur ausmacht – die faire Auseinandersetzung in der Sache, den Respekt vor anderen, das Anerkennen von Mehrheiten. Für ihn war das Instrumentalisieren der staatlichen Institutionen, das Durchsetzen der eigenen Interessen selbstverständlich. Das gab damals einen Aufschrei der Empörung, von rechts bis links.

Sie betonen die Vergangenheit?

Damals waren wir uns von links bis rechts einig. Heute reist Manfred Weber als Chef der Europäischen Volkspartei durch Europa und sagt, seid doch froh, dass die Forza Italia in Rom an der Regierung beteiligt ist, das sind doch die Moderaten. Woran man sehen kann, wie sehr sich Europa und die Welt in diesen 20 Jahren verändert haben.

Selbst in Schweden, einem sozialdemokratischen Vorzeigeland, regiert heute eine rechtskonservative Allianz. Wie konnte es dazu kommen?

Moment mal, die Sozialdemokratie ist in Schweden immer noch die mit Abstand stärkste Partei. Es gibt ein Bündnis inklusive der Rechtsextremisten gegen die Linke.

Richtig – und dieses Bündnis stellt die Regierung.

Das ist aber keine Frage an die schwedische Sozialdemokratie, sondern an die Konservativen, an Manfred Weber. Wie kann man eine Partei, die aus dem neofaschistischen Milieu kommt, und das sind die Schwedendemokraten, mit einer solchen Regierungsmacht ausstatten? Das gilt übrigens auch für Finnland. Das wäre nicht nötig. Aber das sind Fragen, die man der EVP stellen muss.

Sie erwarten eine schärfere Abgrenzung?

Eindeutig. Manfred Weber ist dabei, im EU-Parlament eine Situation zu schaffen, die den künftigen Kommissionspräsident oder -präsidentin abhängig macht von den Kaczyński und Orbáns. Das sieht man selbst innerhalb der CDU/CSU mit Sorge. Ich glaube nicht, dass das der Weg ist, den die Unionsparteien in Deutschland gehen wollen. Und wenn sie ihn gehen wollen, kriegen wir einen interessanten Europawahlkampf.

Sie kennen Manfred Weber lange und gut. Warum lässt er heute die Nähe zu, die einst undenkbar gewesen wäre?

Ja, ich kenne ihn lange, und er ist ein respektabler Mann. Aber er ist auf einem falschen Weg. Der Traum, er könne Orbán, Kaczyński und andere wieder in die europäische Politik integrieren, ist unrealistisch. Diese Leute haben zu Europa, wenn überhaupt, kein Werteverhältnis, sondern ein Nutzwerteverhältnis. Die gewinnt man maximal mit Geld, und Orbán erweckt inzwischen den Eindruck, dass auch das ihn nicht mehr interessiert, weil er sich von den Russen und Chinesen rauskaufen lässt. Deshalb ist der Weg von Manfred Weber falsch und ich bin sehr gespannt, wie Frau von der Leyen darauf reagiert.

War Berlusconi der erste Populist der Nachkriegszeit?

Nein, es gab immer populistische Bewegungen. In Frankreich gab es in den 50er Jahren die Poujadisten. Jean-Marie Le Pen war ein Abgeordneter der Poujade-Partei, das waren Steuerverweigerer. Mogens Glistrup hieß das Pendant in Dänemark. Aber ja, das waren eher randständige Erscheinungen, die nach einer gewissen Zeit wieder verschwanden. Das hat sich verändert. Der Versuch der Unterminierung der staatlichen Institutionen ist heute Allgemeingut. Schauen wir nur nach Israel….

Ist das nicht Alarmismus? Die italienische Demokratie funktioniert immer noch.

Das ist tatsächlich einer der Unterschiede zwischen Berlusconi und seinen Nachfolgern Trump und Bolsonaro: Berlusconi hat es am Ende – und das liegt auch an der italienischen Verfassung – nicht gewagt, die Institutionen des Staates infrage zu stellen. In Italien ist am Ende immer und unbestritten der Staatspräsident der Wächter der Institutionen. Deshalb war es auch gut, dass Berlusconi nicht Staatspräsident geworden ist, was er ja wollte.

Trump hat die Institutionen lange nicht in Frage gestellt, er hat sie eher von innen heraus zersetzt, indem er etwa den Supreme Court mit stramm konservativen Richtern besetzt hat.

Auch in den USA ist der Kongress so stark, dass ihn ein Donald Trump nicht ohne Weiteres infrage stellen konnte. Aber der 6. Januar 2021 hat gezeigt, dass er bereit war, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Er wollte ja auch seinen Vizepräsidenten zwingen, Joe Biden nicht zu ernennen. Die Bereitschaft, die Verfassung und die staatlichen Institutionen zu ignorieren, war schon da.

Ist die Mitte einer Gesellschaft auch ihr Stabilisator?

Gewissermaßen ja. Wenn die gesellschaftliche Mitte die Institutionen des Staates nicht mehr respektiert, ist absolut Gefahr im Verzug. Die staatlichen Institutionen sind der Lackmustest. Man sieht den Unterschied sehr gut in den USA. Auch die jetzige Regierung kritisiert die gegen sie gerichtete Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes. Sie kritisiert sie – aber sie respektiert sie. Umgekehrt hätte Trump alle Mittel in Bewegung gesetzt, um Urteile, die gegen seine politische Strategie gerichtet sind, zu unterminieren.

Und dennoch: Woher kommt dieser globale Trend? Wie ist er zu erklären?

Das ist aus meiner Sicht relativ einfach. Die Welt fliegt auseinander, sie ist aus den Fugen. Alles, was wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgebaut haben, ist spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ins Wanken geraten. Das anschließende Konstrukt der unipolaren Weltmacht USA hat sich als nicht haltbar erwiesen. Stattdessen haben wir es jetzt mit aufsteigenden Mächten in einer multipolaren Welt zu tun.

Ist das nicht ein bisschen abstrakt?

Nein, wir haben zugleich eine permanente allgemeine Verunsicherung. Alles wird teurer, nichts ist mehr, wie es war; keiner weiß, was werden wird. Das drückt sich aus in diesem Gefühl: Bei mir funktioniert es noch – aber was wird mit meinen Kindern? Klimakrise, Krieg, Hunger, Seuchen, China, Indien, Russland – alles scheint nicht mehr beherrschbar. Ein tiefes Gefühl der Verunsicherung – und das weltweit. Das ist kein isoliert nordeuropäisches Gefühl, es herrscht genauso in Lateinamerika, in Asien, in Afrika vor. Das sind Zeiten, in denen genau die Leute Hochkonjunktur haben, die sagen, wir müssen wieder zum Alten zurück. Oder sie versprechen eine helle Zukunft. Das sind die Verheißungen der Populisten.

Erfahrungsgemäß scheitern Populisten an ihren eigenen Versprechungen. Trump, Johnson, Berlusconi: Sie haben ja keine Erfolgsgeschichten geschrieben, sondern operierten vorm allem mit Feindbildern.

Aber es funktioniert. Und das immer wieder aufs Neue.

Warum?

Weil die demokratischen Kräfte sich nicht ausreichend darauf verständigen, dass die Angst vor dem sozialen Abstieg ein Brandbeschleuniger in dieser Debatte ist. In dem Moment, in dem die Politik diese Angst durch konkretes Handeln abmildert, können wir Menschen davor schützen, blind Populisten zu folgen. Das ist Aufgabe und auch Verantwortung von Demokratien und Institutionen.

Einspruch! In Deutschland gab es im vergangenen Jahr milliardenschwere Hilfen, um die Energiekrise abzupuffern, und dennoch steht die AfD bundesweit bei knapp 20 Prozent.

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Krisen, die nicht eintreten, weil gehandelt wurde, werden auch nicht als solche wahrgenommen. Deshalb hat die Bundesregierung verantwortlich gehandelt. Wenn sie aber in ihrem Handeln auftritt, wie sie auftritt, wird das in keiner Weise klar.

Schwer zu verstehen….

Ich begegne vielen Menschen, die mir sagen, eigentlich macht die Regierung gar nicht so eine schlechte Arbeit. Aber die sind sich ja in nichts einig. In der Politik muss man die Perspektive immer aus dem Status Quo heraus entwickeln, retrospektiv kriegt man nie Lob. Wenn der Status Quo aber zerstritten ist, traut dir keiner eine stabile Zukunft zu. Und deshalb glaube ich, dass der jetzige Höhenflug der AfD in dem Moment vorbei ist, in dem wir zu einem kohärenteren Regierungshandeln kommen. Das allerdings den Grünen und der FDP beizubringen, scheint mir relativ schwierig.

Populisten arbeiten immer mit der Fremdenfeindlichkeit. Und mit einer ausdrücklichen Geringschätzung von Justiz und Gewaltenteilung. Warum findet das so viel Beifall?

Vor Gericht und bei der Gesetzgebungsarbeit im Parlament, an der die AfD ja wie alle populistischen Parteien kaum teilnimmt, musst du zu Fakten Stellung nehmen, du musst belegen, was du behauptest. Und deshalb sind Justiz und Parlamente die Orte, wo sie am wenigsten sein möchten. Weil sie dort gezwungen werden, Farbe zu bekennen und zu belegen, was sie behaupten.

Warum interessiert dieser Umstand den gewöhnlichen AfD-Wähler nicht?

Weil die Abstiegsangst alles überlagert. Und die AfD hat eine Botschaft: Alles Mist – und mehr nicht. Und wenn du das Gefühl hast, alles ist Mist, wählen viele paradoxerweise die, die ihnen das eintrichtern – weil sie gleichzeitig vorgeben, die einzigen zu sein, die diese Probleme ansprechen.

Wie lautet das Rezept gegen eine solch aufgeraute Polarisierung?

Die AfD liegt real bei zehn bis zwölf Prozent und diese Wähler wird sie behalten. Aber ihr Höhenflug wird nicht anhalten. Am Ende einer Legislaturperiode ziehen die Wähler Bilanz und fragen sich, wer uns in den nächsten Jahren führen soll. Und Bilanz und Perspektive hängen zusammen. Du kriegst für eine gute Bilanz kein Lob, aber gegebenenfalls einen Vertrauensvorschuss für die nächste Zeit. Deshalb ist die Regierung gut beraten, die Nerven zu behalten.

Aber ihr stehen harte Zeiten bevor: Im kommenden Jahr drei Landtagswahlen im Osten….

Man wird jedes Land gesondert betrachten müssen. Ich gehe davon aus, dass sich der Wettkampf Ramelow/Höcke wiederholen wird und Bodo Ramelow wird ihn gewinnen. Ich glaube, dass Dietmar Woidke in Brandenburg gute Chancen hat. Und allein diese beiden Konstellationen lassen vermuten, dass es keinen Durchmarsch der AfD gibt. Ich rate dringend dazu, auch aus eigener Erfahrung, demoskopische Höhenflüge nicht überzubewerten.

Wir haben die Polarisierung in ganz Europa – zuletzt in Spanien oder auch in Israel. Wohin führt das noch?

Zu der Erkenntnis, dass die europäische Integration erstaunlich demokratiestabilisierend ist. Das angeblich so undemokratische Europa zwingt aufgrund der transnationalen Kooperation insbesondere im Wirtschaftsbereich zum Einlenken. Schauen wir uns Frau Meloni an seit sie Ministerpräsidentin ist: Sie macht nach innen ein bisschen Rabbatz, aber sie hat eine heftige Opposition gegen sich und einen Staatspräsidenten, der sehr genau auf die Verfassung achtet. Auch auf europäischer Ebene ist sie eine zuverlässige Partnerin. Interessant ist ja auch, dass Marine Le Pen nicht mehr vom Austritt aus dem Euro und Alice Weidel nicht mehr vom Austritt aus der EU redet, sondern höchstens vom Umbau der Europäischen Union. Was immer das heißen mag. Das zeigt mir, die Integration Europas diszipliniert auch Rechtspopulisten.

Die arbeiten dennoch – siehe den AfD-Parteitag – konsequent an einem anderen Europa.

An einem Umbau werden sie scheitern, weil die demokratischen Kräfte in Europa zum Glück immer noch klar in der Mehrheit sind. Diese Kräfte müssen allerdings noch kämpferischer und lauter werden. Auch in Deutschland, nicht nur aufgrund des aktuellen Höhenflugs der AfD, sondern auch wenn man sich genau diesen Parteitag anschaut. Dort sind rechtsextreme Aussagen gefallen, die dürfen wir als Demokratinnen und Demokraten nicht stehen lassen oder tolerieren. Das ist eine europäische, nationale, vor allem aber gesellschaftliche Aufgabe, die uns alle angeht.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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