Der Ukraine-Krieg überlagert seit anderthalb Jahren fast alles. Dabei gibt es nach wie vor auch ganz andere hochheikle Konflikte. Beispielsweise im instabilen Irak. Wie ist die Lage aktuell?
Ich erlebe die Lage vor Ort anders. Der Irak hat sich in den letzten Jahren deutlich stabilisiert. Die irakischen Sicherheitskräfte sind wieder in voller Kontrolle des Staatsgebiets. Die territoriale Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats wurde zerschlagen und die Organisation ist aus den urbanen Zentren verdrängt worden. Der IS verfügt weiter über Zellen – sie agieren aber nur noch aus dem Untergrund und im ländlichen Raum. Dadurch hat sich die Sicherheitslage insgesamt verbessert. Dennoch gilt: Um ein Wiedererstarken der Organisation zu verhindern, muss der militärische Druck aufrechterhalten werden. Wir sollten die irakischen Sicherheitskräfte also weiter unterstützen. So richtig der Fokus auf die Ukraine aktuell ist – wir dürfen unsere südliche Nachbarschaft nicht vergessen.
Wie passen die gewaltsamen Ausschreitungen in der letzten Woche in Bagdad und im Südirak dazu?
Die Koranverbrennungen in Europa haben im Irak – wie in der gesamten muslimischen Welt – starke Reaktionen hervorgerufen – zumal auch die irakische Fahne verbrannt und mit Füßen getreten wurde. Das hat zu dem angesprochenen Gewaltausbruch geführt. Bei den Demonstranten handelt es sich um eine vergleichsweise kleine Gruppe, die im vergangenen Jahr auch an der Besetzung des irakischen Parlaments und der „Grünen Zone“ – dem Regierungsviertel in Bagdad – beteiligt war. Die irakische Regierung hat die Erstürmung der schwedischen Botschaft verurteilt und bekräftigt, den Schutz von diplomatischen Vertretungen sicherzustellen.
Kann man überhaupt von einem akzeptierten Wahlsystem sprechen?
Der Irak hat ein junges demokratisches System. Nach wie vor gibt es Herausforderungen – etwa die niedrige Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen. Im regionalen Vergleich ist der Irak aber einer der wenigen Staaten, der sich durch demokratische Rechte und Freiheiten auszeichnet. Das sollten wir anerkennen. Dass es politische Auseinandersetzungen zu Wahlgesetzen gibt, ist in Demokratien nicht unüblich. Nehmen Sie die aktuelle Debatte in Deutschland. Zurzeit bereitet sich der Irak auf die Provinzwahlen vor, die im Dezember stattfinden werden. Ich erlebe hier nicht, dass das Wahlsystem oder die Wahlen an sich infrage gestellt werden. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass ein Großteil der Iraker die Demokratie weiterhin unterstützt. Das belegen diverse Umfragen eindeutig. Darauf kann aufgebaut werden.
Wie groß ist die Gefahr eines Zerfalls in Einflusszonen? Oder sind wir da schon längst?
Nein, das sehe ich nicht so. Nach 2003 wurde ein Quotensystem eingeführt, das es allen Konfessionen und Ethnien erlauben sollte, die Zukunft des Landes mitzubestimmen. Grundsätzlich hat dieses sicherlich zu einer gewissen Stabilität geführt. Ob der Irak dadurch langfristig in der Lage sein wird, dringend benötigte Reformen anzustoßen, wird sich zeigen. Blickt man auf die ethnisch-konfessionelle Zusammensetzung des Landes, so konzentriert sich die schiitische Bevölkerungsmehrheit vor allem im Zentral- und Südirak; die sunnitisch-arabische Bevölkerungsminderheit lebt im Nordwesten des Landes. Die Kurden finden sich im Nordosten in der autonomen Region Kurdistan-Irak.
Das klingt stark nach Spaltung.
Dennoch halte ich es für falsch, den Irak als ein Land mit drei separaten Einflusszonen darzustellen. Trotz des föderalen Charakters der irakischen Verfassung hat der Irak eine lange zentralistische Tradition. Die aktuelle Regierung wird von allen Gruppen mitgetragen, und Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani hat es geschafft, einen guten Ausgleich zu finden und alle Kräfte einzubinden. Selbst zwischen Bagdad und Erbil sind die Beziehungen heute besser als noch vor einigen Jahren und es gibt eine engere Zusammenarbeit.
Der deutsche Verteidigungsminister hat einen Besuch verschoben, will aber bald kommen. Welche Rolle haben die Deutschen im Irak?
Die deutsch-irakischen Beziehungen sind aus meiner Sicht aktuell auf einem Höhepunkt. Im Januar hat Ministerpräsident Sudani Deutschland als erste Station in Europa besucht. Die irakische Seite sieht in Deutschland einen seiner wichtigsten Partner. Die Bundesrepublik hat einen hervorragenden Ruf im Irak – das gilt übrigens auch für viele andere europäischen Staaten. Der Besuch von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wäre der zweite Besuch innerhalb von nicht mal einem Jahr im Irak. Im März hat Außenministerin Annalena Baerbock ihre bis dahin längste Auslandsreise in den Irak angetreten. Der Irak kann ein wichtiger Partner Deutschlands in der Region werden. Es lohnt sich, das Engagement fortzusetzen.
Was wird gemacht – und was müsste gemacht werden?
Seit 2014 hat Deutschland den Irak umfassend unterstützt. Die Bundesrepublik ist der zweitgrößte Geber des Landes. Unter anderem auch mit deutscher Unterstützung ist es gelungen, die im Krieg gegen den IS zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen und die Rückkehr von etwa fünf Millionen Binnenflüchtlingen sicherzustellen. Das ist eine wichtige Errungenschaft – auch wenn weiterhin große Herausforderungen bestehen. Auch der militärische Beitrag Deutschlands hat das Land stabilisiert. Die Lieferung der Panzerabwehrwaffe MILAN war ein Wendepunkt im Kampf gegen den IS. Die Ausbildung, Beratung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte durch die Bundeswehr im Rahmen des Irak-Mandats war und ist nach wie vor wichtig. In Zukunft kommt es nun sicherlich darauf an, die Reformagenda von Regierungschef Sudani weiter zu unterstützen und die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken. Deutschland sollte langfristig an der Seite des Landes stehen.
Wie sehr hat die Verhärtung des Regimes im Iran auch den Irak verändert?
Der Irak verfolgt regionalpolitisch einen neutralen Ansatz. Man versteht sich als Mittler in der Region und möchte sich nicht in externe Konflikte einmischen. Dadurch soll die eigene Souveränität gestärkt werden. Die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran, die schließlich in Peking besiegelt wurde, geht maßgeblich auf Vermittlungsbemühungen des Irak zurück, die in Bagdad stattfanden. Diese Annäherung wiederum hat positive Auswirkungen auf den Irak. So haben beispielsweise Saudi-Arabien und Katar neue Investitionen im Irak angekündigt. Der Irak war über Jahre Austragungsort regionaler Machtkämpfe. Ich erlebe aktuell eine kluge irakische Politik, die sich hieraus zu lösen sucht. Damit könnte sich der Irak zum Stabilitätsanker entwickeln und ist ein interessanter Partner für Deutschland.
Hand aufs Herz: Hat der Irak überhaupt die Chance, nochmal ein friedliches, prosperierendes Land zu werden? Was müsste dafür passieren?
Aus meiner Sicht normalisiert sich die Lage im Irak aktuell. Das belegen auch die gängigen internationalen Indizes zur Messung der Stabilität von Staaten. Nach fast 40 Jahren Krieg und Konflikt wünschen sich die Menschen im Land vor allem eins: die Rückkehr zu einem geregelten Leben in Frieden. Ich möchte die Herausforderungen, vor denen das Land steht, nicht kleinreden. Der Irak steht nach wie vor erst am Anfang einer Entwicklung. Dennoch lässt sich überall im Land eine Aufbruchsstimmung greifen.
Wie normal ist das Leben in Bagdad? Schulen, Cafés, Vereine, Jobs?
Die hohen Schutzmauern, die das Stadtbild von Bagdad über Jahre geprägt haben, sind abgebaut worden. Die Stadt ist zur Normalität zurückgekehrt. Die Menschen gehen ihrem Leben nach, sitzen abends in den Cafés und Restaurants. Nachbarschaften wie Yarmouk, in der in den 2000er Jahren mitunter die blutigsten Auseinandersetzungen stattgefunden haben, sind heute mit ihren modernen Restaurants beliebte Ausgehgegenden für junge Iraker.
Das Klima ist aktuell wieder ein großes Thema, wegen der Hitze in den USA, in Europa, in Asien. Dabei ist es seit Jahren schon existenziell in Ländern wie dem Irak. Wie brutal ist es inzwischen?
Umweltverschmutzung, Wassermangel und die Auswirkungen des Klimawandels stellen den Irak vor gewaltige Herausforderungen. Die südirakische Metropole Basra war im letzten Jahr mehrfach die heißeste Stadt der Welt. Das Mündungsdelta von Euphrat und Tigris – das historische Mesopotamien, die Wiege der modernen Zivilisation – trocknet zunehmend aus. Das führt zu neuerlicher Flucht und Vertreibung. Lösungen für diese Herausforderungen zu finden – das wird die maßgebliche Aufgabe für die nächsten Jahre sein. Entscheidend ist: Diese Herausforderungen werden sich nur regional lösen lassen. Entsprechend braucht es hier mehr regionale Anstrengungen. Auch hier könnte Deutschland unterstützen.
Lucas Lamberty ist Leiter des Auslandsbüros Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bagdad. Er beschäftigt sich seit 2016 mit dem Irak, unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeit der KAS in Beirut. Er hat Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Internationale Beziehungen in Heidelberg, Beirut und London studiert.