Analyse
Erscheinungsdatum: 18. März 2024

Kammer-Scheitern in Baden-Württemberg: „Die Pflege verzwergt sich selbst“

Ärzte und Apotheker lassen sich durch Kammern vertreten; Pflegekräfte bisher nur in zwei Bundesländern. Baden-Württemberg sollte dazu kommen, scheitert aber wohl am von Ver.di befeuerten Protest. Aus Expertensicht ist das „katastrophal“ – auch für die Versorgung.

Manne Lucha ließ keine Zweifel. Der baden-württembergische Gesundheitsminister bezeichnete sich im Herbst als „glühenden Kammer-Verfechter“. Die Pflege führe „ein Dasein im Schatten der Ärzteschaft“ , klagte der ausgebildete Krankenpfleger. Dabei müsse sie „auf Augenhöhe” agieren können – und genau das wolle er auch erreichen. Ab dem Frühjahr 2024, frohlockte der Grünen-Minister, werde es in seinem Bundesland endlich eine „selbstbewusste Pflegekammer“ geben.

Aus. Vorbei der Traum. Das Projekt Pflegekammer ist im Südwesten offenbar gescheitert, wie Lucha kürzlich im Landtag erklärte. Die offizielle Verkündung steht erst am 25. März an, bis dahin muss das Ergebnis der Abstimmung unter Pflegenden auf seine Richtigkeit geprüft werden.

Wenn es so kommt, wie Lucha es vorhersieht, dann wäre das ein herber Rückschlag für die Kammerbewegung. Zu den knapp 230.000 Pflegenden, die in Nordrhein-Westfalen bereits einer Kammer angehören, und den rund 40.000, die sich in der ersten Kammer ihrer Art in Rheinland-Pfalz organisiert haben, kommen nun wohl nicht auch noch jene geschätzten rund 110.000 hinzu, die man in Baden-Württemberg vermutet. Mehr als Schätzungen kann man derzeit nämlich nicht angeben, zu ungenau sind mangels Selbstorganisation die Zahlen.

Damit rückt auch das Ziel einer starken Bundespflegekammer in weite Ferne.Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats und wichtigste Stimme des Berufsstands, sieht diese Entwicklung als „bedrohliches, existentielles Szenario für die pflegerische Versorgung“. Angesichts der „enormen Probleme“ wäre ein Scheitern in Baden-Württemberg dramatisch. Warum, das erklärte sie Table.Briefings so: „Die Pflege ist total im Blindflug. Weil wir eins der wenigen Länder sind, die sich leisten, dass sich professionell Pflegende nicht registrieren müssen.“ Ob derzeit 80.000 oder sogar 250.000 Pflegekräfte fehlen, könne wegen der fehlenden Registrierung kein Forscher genau sagen. Die Prognosen für die nächsten zehn Jahre unterschieden sich sogar um eine halbe Million fehlender Kräfte, klagt Vogler.

Auch Claudia Moll (SPD), Pflegebeauftragte der Bundesregierung, ist besorgt. „Selbstverständlich wäre es gut, wenn die Pflege eine eigene Vertretung hätte, die sich für die Belange der Berufsgruppe einsetzt – so wie es bei den Ärzten oder Apothekern längst üblich ist“, sagte Moll zu Table.Briefings. Gerade angesichts des geplanten Pflegekompetenzgesetzes von Karl Lauterbach, das Pflegekräften mehr Befugnisse geben will, „ wäre es so wichtig, dass die Pflegenden die Zukunft ihres Berufes aktiv mitgestalten können. Dabei könnten Kammern einen entscheidenden Beitrag leisten.“

Klar ist laut Moll aber auch, dass Kammern „von der Berufsgruppe selbst gewollt sein müssen“. Das ist die Gretchenfrage: Müssen sie das wirklich? Und, falls ja: Lehnen die Pflegekräfte im Ländle die Kammer tatsächlich ab? Noch 2016 waren laut einer Umfrage 68 Prozent dort für eine Kammer. Bei der jetzigen Abstimmung mussten sich die Befragten in einem Opt-Out-Verfahren bis zum 23. Februar aktiv gegen die Kammer aussprechen. Im Gegenzug hatte der Gesetzgeber die Latte hoch gelegt: Bei Einwänden von nur 40 Prozent haben die Befürworter bereits verloren.

Diese 40 Prozent scheinen von den Gegnern erreicht worden zu sein. Zugleich sickerte aber auch schon durch: Mehr als 50 Prozent der Befragten haben offenbar schweigend zugestimmt. Nur reicht diese Mehrheit nicht. Das Land hatte – willkürlich – ein Quorum von 60 Prozent Zustimmung verlangt für eine Gründung.

Ein Debakel, besonders für den Grünen Lucha. Vier Millionen Euro hat das Land in den Gründungsprozess investiert. Ein Grund zur Freude dagegen bei ver.di: Die Gewerkschaft war als schärfster Gegner einer Pflegekammer aufgetreten. „Die aktiven ver.di-Mitglieder“, begründete Landesbezirksfachbereichsleiter Jakob Becker die Ablehnung, „sind zu dem Schluss gekommen, dass es für die Pflege nicht wirklich zu einer echten Verbesserung ihrer Arbeitssituation, Wertschätzung oder gar Einfluss auf die Politik führt.“ Ver.di hatte eigens eine Broschüre mit Gründen gegen die Kammer aufgelegt. Ausführlich wird darin beklagt, dass das Ministerium auf eine „echte Abstimmung“ verzichtet habe. Das Opt-Out-Verfahren war Hauptthema der Anti-Kammer-Kampagne der Gewerkschaften.

Der Versorgungswissenschaftler Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln vertritt da eine ganz andere Meinung. Aus seiner Sicht hätte es nicht einmal einer Abstimmung bedurft. „Wenn eine Kammer hoheitliche Aufgaben übernimmt, die ihr als Körperschaft des öffentlichen Rechts das Land delegiert, dann kann der Gesetzgeber die Gründung beschließen.“ Nordrhein-Westfalen hat bei seiner Kammergründung vor vier Jahren auf eine Abstimmung verzichtet und sich lediglich auf eine repräsentative Umfrage Pro-Pflegekammer unter den Pflegekräften verlassen.

Ein Scheitern in Baden-Württemberg wäre katastrophal, meint Experte Isfort: „In den nächsten 20 Jahren wird das dort niemand mehr so leicht versuchen.” Das sei schlecht für die Pflege – und schlecht für die Versorgung. Allein schon die Registrierung aller Pflegekräfte bei einer Kammer gebe dringend benötigten Aufschluss über den Grad der Versorgung in unterschiedlichen Regionen und über Bedarfe.

Isforts Fazit: „Die Pflege verzwergt sich selbst.“ Offenkundig seien die übergeordneten Ziele einer Kammer –politische Vertretung in gesetzgeberischen Verfahren, Berufsordnungen, Fortbildungspfade – für viele Pflegende „zu weit weg vom Arbeitsalltag“. 85 Prozent der 1,7 Millionen Beschäftigten sind Frauen, viele von ihnen arbeiten Teilzeit. Auch ihr Organisationsgrad ist schlecht: Höchstens zehn Prozent gehören Schätzungen zufolge Gewerkschaften und Berufsverbänden an. Isfort kann nicht verstehen, warum ver.di sich so „destruktiv“ verhalten habe, zumal die Gewerkschaft für die Aufgaben einer Kammer „keine Alternativen anbietet“.

Als inhaltliche Argumente führt ver.di schlechte Erfahrungen mit existierenden Kammern an. So habe sich die Landeskammer Rheinland-Pfalz geweigert, den Entwurf für eine Berufsordnung mit den Pflegekräften zu diskutieren, bevor sie diese beschloss. „Das Gegenteil war der Fall”, sagt Markus Mai, Präsident der rheinland-pfälzischen Kammer. Die Mitglieder seien in den dreijährigen Entwicklungsprozess einbezogen worden und hätten vor der Verabschiedung die Ordnung erhalten mit der Bitte um Feedback – nachzulesen im Tätigkeitsbericht (Seite 30).

Dass ver.di den Kammern „unzureichende Bezahlung vor allem in der Altenpflege” vorwirft, amüsiert Mai. „Da müssten die Gewerkschafter doch in den eigenen Spiegel schauen.” Tarifverhandlungen seien schließlich ihre Aufgabe und nicht die der Kammern. Abgesehen davon habe sich aber gerade in der Altenpflege die Bezahlung dank gesetzlicher Vorgaben – hinter denen auch die Kammer stand – verbessert. „Wir haben 45 hauptamtliche Mitarbeiter”, sagt Mai, „bezahlt von den Mitgliedern, nicht alimentiert vom Staat.“ Das sei eine der Errungenschaften: Nirgendwo sonst habe die Pflege soviele kundige, unabhängige Ansprechpartner.

Bezüglich der Versorgungslage liefert der Kammeraufbau tatsächlich „immer wieder Überraschungen”, erzählt Mai. Derzeit befrage die Kammer alle Arbeitgeber im Land. Es könne gut sein, dass es mehr Pflegende gebe als bisher bekannt. Andererseits zeigten die durch die Registrierung erhobenen aber auch Unerfreuliches: „Unsere Pflegekräfte sind deutlich älter, als wir dachten.”

Was für zarte Pflänzchen die neuen Pflegekammern sind, zeigt, dass sie in zwei Bundesländern sogar wieder aufgelöst wurden – auch, weil die Mitglieder die Beiträge nicht berappen wollten. Minister Lucha hatte das gegenüber Table.Briefing so erklärt: „Die Kammern sind in Schleswig-Holstein und Niedersachsen abgeschafft worden, weil dort die Gegner so gut agiert haben, dass die Florence-Nightingale-ähnlichen Kolleginnen und Kollegen diesen Apparatschiks nicht gewachsen waren.“

Haben die „Apparatschiks“ auch in seinem Land gesiegt? Peter Bechtel leitet den Gründungsausschuss der Landespflegekammer, er war zuletzt Pflegedirektor einer Klinik. Warum so viele Kolleginnen und Kollegen gegen die Kammer sind, erklärt Bechtel so: „Die meisten hat wohl die ,Zwangsmitgliedschaft‘ abgeschreckt, die ver.di stets betont hat. Und sie hatten Angst vor hohen Mitgliedsbeiträgen.“ Beiträge von bis zu 150 Euro im Monat seien da kolportiert worden. In Wahrheit sollte die Mitgliedschaft nur fünf Euro im Monat kosten – „deutlich weniger als das eine Prozent vom Bruttolohn, das ver.di verlangt“.

Hinzu gekommen sei die Sorge, sich fortbilden zu müssen – und das selbst zu bezahlen. Tatsächlich ist es Aufgabe der Kammern, berufliche Standards zu sichern. „Doch wer die dann in welcher Höhe bezahlen würde, wäre doch Verhandlungssache“, sagt Bechtel, „deshalb braucht es neben Kammern unbedingt auch Gewerkschaften“.

Aus Bechtels Sicht muss die Pflege in Deutschland dringend auf internationale Höhe kommen. Eingewanderte ausländische Fachkräfte, egal ob aus Spanien oder aus Mexiko, zeigten sich oft entgeistert; viele kehrten Deutschland sogar wieder den Rücken. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern verfügen hiesige Pflegekräfte über einen deutlich geringeren Status und haben seltener studiert. Und sie dürfen auch viel weniger: Sie können weder Hilfsmittel verschreiben, noch gar Medikamente. Das alles will Lauterbach künftig mit dem „Pflegekompetenzgesetz“ ändern – hinter dem auch die Grünen stehen.

Kordula Schulz-Asche, grüne Berichterstatterin für Pflegepolitik, wird da sehr deutlich. Viel zu lange sei hingenommen worden, sagt sie, dass Deutschland im Bereich der Pflege international nicht anschlussfähig ist – besonders bei der berufsständischen Vertretung. „Pflegekammern werden den Personalmangel in der Pflege nicht lösen. Aber sie haben das große Potenzial, einen Platz am Tisch der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen einzunehmen und über relevante Änderungen mitzuentscheiden.“ Bisher schaue die Pflege „nur vom Rand aus zu“.

Die Bundestagsabgeordnete, ausgebildete Krankenschwester und Gesundheitsmanagerin, ist über das sich abzeichnende Scheitern in Baden-Württemberg erschüttert. Für die Pflege sei eine Vertretung durch den Dreiklang aus Kammer, Berufsverband, Gewerkschaft nötig. „Es ist für mich daher vollkommen unverständlich, dass ver.di sich mit Händen und Füßen gegen die Erstarkung des Pflegeberufs wehrt“, sagt Schulz-Asche. „Mit ihren Kampagnen gegen Pflegekammern, die wir bereits in anderen Bundesländern erlebt haben, spalten sie die Berufsgruppe und verhindern eine echte Emanzipation.“

Ihre Hoffnung liegt nun auf Lauterbachs Gesetzesvorhaben für mehr Pflegekompetenz. Die Eckpunkte sehen nämlich die gesetzliche Etablierung einer „zentralen berufsständischen Vertretung der Profession Pflege auf Bundesebene“ vor – mit Befugnissen zur Weiterentwicklung des Berufs. Schulz-Asche: „Vielleicht kommt auch ver.di dann noch zur Besinnung und erkennt, dass wir gemeinsam anpacken müssen, um etwas für die professionelle Pflege zu verbessern.“ Übrigens: Die Bundesärztekammer unterstützt den „Wunsch nach Selbstverwaltung“ der Pflege, ließ sie Table.Briefings wissen, sowie den „Aufbau einer eigenen Standesvertretung“ durch Kammern.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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