Verblasst thront der Bär über dem Rednerpult. Das meiste Rot ist längst gewichen. Gerade zwischen Deutschland- und Europaflagge wirkt das Stadtwappen Berlins im Plenum fahl. Viel Streit hat dieser Bär beobachtet, seit seine Stadt gewählt hat. Am Donnerstag wollte die neue Koalition Einigkeit demonstrieren und alsbald los regieren. Mit neuem Regierenden Bürgermeister, einer bleibenden Innensenatorin, neun neuen Kolleginnen und Kollegen. „Wahl und Vereidigung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin“ prangt der erste Tagesordnungspunkt der Sitzung von der Wand im Abgeordnetenhaus. Ein Zeitfenster von 12 bis 13 Uhr hat der Plan mal vorgesehen. Stunden später ist Kai Wegner noch immer nicht gewählt.
„Ich bin enttäuscht“, sagt Olaf Schenk Table.Media nach dem zweiten Wahlgang. An einem Tisch im Casino wartet der CDU-Abgeordnete die Sitzungspause ab. 71 von nötigen 80 Stimmen hat Wegner im ersten Wahlgang geholt. Immerhin 79 im Zweiten. Dass Gegner der Großen Koalition ihren Unmut im ersten Wahlgang zeigen würden, damit habe er gerechnet, sagt Schenk. „Ich bin mir sicher, dass wir als CDU geschlossen standen.“ In beiden Probeabstimmungen am Donnerstag, offen und geheim, hätten 100 Prozent der Abgeordneten für Kai Wegner gestimmt. 86 von 159 Sitzen gehören zu den beiden Regierungsparteien.
Von einer „Katastrophe“ spricht mancher Abgeordnete am frühen Nachmittag auf den Gängen. Nur am AfD-Tisch flachsen und blödeln die Abgeordneten. Sie trinken Wein zur Bockwurst, stoßen an. Schenk sitzt allein. Anstoßen werde die CDU heute nicht mehr, sagt er. „Es ist keine Liebes-Heirat, sondern eine Vernunft-Ehe.“
Manches Gespräch klingt gar nach Rosenkrieg. Während viele CDUler versichern, dass ihre Partei einig sei und der SPD die Schuld zuweisen, klingt das in den Reihen der Roten ganz anders. „Ich gehe von mindestens zwölf Abweichlern bei der CDU aus“, sagt Orkan Özdemir. „ Wir als SPD-Fraktion haben uns offen ins Auge gesehen. Wir haben wochenlang gestritten, es war oft grob, aber am Ende haben wir ein Ergebnis, zu dem wir stehen.“
Özdemir gehörte zu den engagiertesten Gegnern einer Koalition mit der CDU. Beim Mitgliederentscheid stimmte er wie rund 45 Prozent seiner Partei dagegen. Kurz danach sagte er Table.Media: „Dass wir so ein knappes Ergebnis haben, spricht für eine Dynamik.“ Bis vor einigen Jahren hätten nach Özdemirs Einschätzung 60 bis 70 Prozent für die GroKo gestimmt. „Für mich war es frustrierend, dass wir jetzt Schwarz-Rot haben, aber wenn ich anhand der Ergebnisse auf die Entwicklung schaue, geht es in die richtige Richtung.“
Nicht nur er fremdelt enorm mit der Groko. Schon im Laufe der vergangenen Woche hatten sich mehrere SPD-Mitglieder gemeldet, die nach dem Mitgliederentscheid austreten wollen. „Ich bin in der Tiefe meines Herzens immer Sozialdemokrat gewesen“, sagt etwa Marc Reimer vom Ortsverband Tempelhof-Schönefeld. Manche Aussagen von Kai Wegner bezeichnet Reimer als „offen rassistisch“. „Ich habe schon bei der Berlin-Wahl gegen meine eigene Partei gestimmt.“ Die SPD unter Franziska Giffey sei nicht die Partei, der er angehören wolle. „Ich will keine neoliberale Politik.“
Orkan Özdemir zieht andere Konsequenzen aus dem Abstimmungs-Ergebnis. „Es macht keinen Sinn, gerade jetzt auszutreten. Ich sage den Leuten: 'Im Gegenteil, geht raus und holt Leute rein.'“
Aus der „alten Tante SPD“ will Özdemir „eine richtig starke, moderne sozialdemokratische urbane Partei machen“. Eine Partei, die es immer noch schafft, die ganze Stadt in den Blick zu nehmen, statt wie die Grünen Klientelpolitik zu betreiben. Auch wenn er das lieber mit einem anderen Bündnis versucht hätte, versichert Özdemir, dass er am Donnerstag für Wegner stimmte. „Wir können uns keine weitere Wahl leisten, wir können die Stadt nicht in so ein Chaos stürzen.“
Özdemir und seine Mitstreiter gehen unter den 34 SPD-Abgeordneten von zwei Abweichlern aus, die intern auch bekannt sind. Offene und geheime Testwahlen hätten das am Donnerstag erneut belegt. Umso verärgerter ist Özdemir, dass die CDU nach den ersten, gescheiterten Abstimmungen auf die SPD zeigt. Der Zorn, der dabei aufbricht, zeigt nur, wie fragil dieses neue Bündnis noch ist. Von einer „absoluten Frechheit“, spricht Özdemir, und von „schmutziger Wäsche“, die die CDU prompt wasche. Es wird dauern, bis sich die Wut legt, die an diesem Donnerstag binnen kürzester Zeit schon wieder aufgebrochen ist.
Während des dritten Wahlgangs wendet Kai Wegner sich lange Zeit ab. Die Hände auf Stühle gestützt, als würde er die Last des Tages, den Ausblick einer finalen Pleite nicht mehr mit ansehen wollen. Was ein bisschen auch damit zu tun haben könnte, dass die AfD kurz vor Schluss mit einem Flugblatt auftaucht, auf dem sie erklärt, sie werde Wegner nun zur Mehrheit verhelfen. Für Wegner muss das wie eine Demütigung klingen, das hätte ihm gerade noch gefehlt. Und wird ihm womöglich noch nachhängen.
Am späten Nachmittag, Stunden nach dem eigentlich geplanten Ende, stimmen 86 Abgeordnete für Wegner. Er bekommt also exakt jene Stimmen, über die CDU und SPD zusammen verfügen. Wermutstropfen: Mindestens ein Sozialdemokrat hatte angekündigt, auf keinen Fall für ihn zu stimmen. Bleibt die Frage, wo eine andere Stimme hergekommen sein könnte. Man wird es nie wissen, und genau das kann weh tun.
Kurz vor 17 Uhr endet der schwerste Teil des Tages. Wegner nimmt die Wahl an, dann empfängt er einen Blumenstrauß, der wahrscheinlich schon zu welken beginnt. Schließlich hebt er die Hand zum Eid. Unter dem blassen Bären beginnt für Berlin und seinen politisch ziemlich gerupften Bürgermeister eine neue Zeit.