Analyse
Erscheinungsdatum: 10. September 2023

Jeder hat das Recht, eine neue Partei zu gründen, aber nicht mit Mandaten der Linken“

xkhx Kassel, Wissler & Rackete treffen Betriebsrat des VW-Werks Baunatal Bild zeigt Parteivorsitzende der LINKEN, Janine Wissler *** xkhx Kassel, Wissler Rackete meet works council of VW plant Baunatal Picture shows party leader of the LEFT, Janine Wissler KH
Linken-Chefin Janine Wissler hat es nicht leicht. Die Umfragen sind miserabel. Und Sahra Wagenknecht könnte kurz vor der Gründung einer eigenen Partei stehen. Im Interview kritisiert sie die Querschläge „einzelner weniger“ aus den eigenen Reihen und warnt davor, ein über die Linke gewonnenes Bundestagsmandat für die Gründung einer anderen Partei zu nutzen.

Ihr Leben als Parteivorsitzende wäre im Moment einfacher ohne die Fraktion, oder?

Nein. Es wird sehr gute inhaltliche Arbeit in der Linksfraktion gemacht. Ob zum Thema Arbeit und Soziales, Gesundheit, bezahlbares Wohnen oder aktuell in den Haushaltsberatungen oder auch die vielen wichtigen Anfragen. Aber es ist ärgerlich, dass diese gute Arbeit überlagert wird von Streit. Nein, es wäre nicht leichter ohne Fraktion, ich bin froh, dass es sie gibt, damit die Menschen eine Stimme im Bundestag haben, die von der Ampel vergessen werden.

Aber es fällt auf, dass die Fraktion anders auftritt als der Rest der Partei. Sie bleibt ein Unruheherd.

Wir hatten letzte Woche Klausurtagung und haben über Krankenhaussterben, Rente und den Kürzungshaushalt diskutiert, da gibt es große Einigkeit. Umso ärgerlicher, dass einzelne wenige sich mehr an der eigenen Partei abarbeiten als an der Ampel und den gesellschaftlichen Missständen und damit die gute Arbeit in den Schatten stellen. Das ist ein Problem, ja.

Wie wollen Sie das ändern?

Mir ist es wichtig, dass wir als Linke mit einer Stimme sprechen – Parteivorstand und Fraktion. Dass wir die Inhalte nach vorne stellen und eine entschlossene Opposition zur Ampel sind. Schauen Sie sich den Haushalt und die krassen Kürzungen an. Oder das Drama bei der Kindergrundsicherung. Das ist Wahlbetrug. Wer soll dagegen opponieren, wenn nicht wir? Darauf müssen wir uns konzentrieren. Unsere Wähler erwarten nicht, dass sich einige Wenige vor die Kameras stellen und erklären, womit sie innerparteilich nicht zufrieden sind. Sie erwarten, dass wir in jede Kamera sagen, was das Problem an der Politik der Regierung ist und was linke Alternativen sind.

Was sind die größten Konflikte bei der Neuausrichtung?

Wir sollten jedenfalls nicht über Pappkameraden streiten. Ist uns die soziale Frage noch wichtig? Selbstverständlich. 90 Prozent dessen, was Kommunal- und Landtagsfraktionen, die Bundestagsfraktion und die Partei bundesweit und vor Ort macht, betrifft die soziale Frage. Ob es um bezahlbare Mieten, Krankenhäuser, Bildung oder gute Löhne geht. Natürlich können wir darüber diskutieren, wie wir damit besser durchdringen, aber dass wir das nicht mehr machen würden, das ist wirklich ein Pappkamerad. Und die Linke ist konsequente Friedenspartei, wir haben gegen das 100-Milliarden-Sondervermögen im Bundestag gestimmt und lehnen die immer weitere Aufrüstung ab.

Woher kommt der Vorwurf dann?

Der hat auf jeden Fall wenig mit der Realität zu tun. Ich bin viel unterwegs in der Partei und sehe, was die Mitglieder vor Ort machen. Da geht es zum großen Teil um soziale Themen. Wenn jemand meint, wir müssten mehr machen, dann ist er herzlich eingeladen, das zu tun.

Wie erklären Sie, dass ihre Partei so zerrissen ist?

Ist sie ja gar nicht. Wir haben unser Programm und unsere Positionen mit großen Mehrheiten beschlossen. Wir wollen einen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, weil die zunehmende soziale Spaltung und die Klimakatastrophe die zentralen Gefahren der Zukunft sind. Viele Menschen wollen mehr Klimaschutz, aber machen sich Sorgen, dass Klimaschutzmaßnahmen ein Angriff auf ihren Lebensstandard sind. Angesichts einer Ampelregierung, die ein Heizungsgesetz vorlegt, ohne zu sagen, wie die Fördermaßnahmen aussehen und wie sie die Mieterinnen und Mieter schützen will, ist das ja auch verständlich. Die Linke ist eine Partei, die an der Seite von Menschen steht, die für ihre Rechte kämpfen. Und da gibt es auch keine Hierarchisierung. Der Kampf gegen Armut ist ebenso wichtig wie der Kampf für Gleichberechtigung und gegen jede Form von Unterdrückung. Das sollten wir verbinden.

Vor diesem Hintergrund: Ist es besser oder schlechter für die Linke, wenn Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründet?

Die ganze Diskussion darum wird den gesellschaftlichen Herausforderungen und unserer Verantwortung nicht gerecht. Abgeordnete, die für die Linke gewählt wurden, müssen ihren Job machen. Unser Job ist es, der Ampel auf die Finger zu schauen, Alternativen zu entwickeln und Menschen eine Stimme zu geben, die nicht gehört werden. Unser Job ist es nicht, Kraft und Zeit in die Diskussion über eine neue Partei zu stecken, von der niemand weiß, ob es sie geben wird und was sie sein soll. Natürlich hat jeder das Recht eine neue Partei zu gründen, aber nicht mit Mandaten, die für die Linke gewonnen wurden.

Die Zerrissenheit zwischen einem Wissler- und einem Wagenknecht-Flügel ist für die Partei gefährlich. Soll das immer so weiter gehen?

Es gibt keinen Riss, der quer durch die Partei geht und auch keinen derartigen Flügelkampf. Die Linke ist eine plurale Partei und hat auf Parteitagen demokratisch über den politischen Kurs entschieden. Es gibt einen kleinen Teil, der nun über einen konkurrierenden Parteiantritt nachdenkt. Ich halte das für einen Fehler. Die Linke stellt sich gerade neu auf, sie hat ein stabiles Fundament an der Basis und ein regelmäßig von Verbänden und Gewerkschaften gelobtes Programm.

Sie hatten mal ein gutes Verhältnis mit Wagenknecht. Wie kam es zum Bruch?

(überlegt lange) Ja, wir waren beide Teil des linken Flügels der Partei. Für mich wurde es schwierig, als sich ab 2015 ihre Tonlage und ihre Aussagen zu Geflüchteten und Asyl verändert haben. Das hielt ich für falsch und hat damals viele verstört. Für mich gehört der Kampf um Menschenrechte unabhängig von Herkunft und Pass zur DNA einer linken Partei. Seitdem hat sie sich zunehmend auf Kosten der Partei profiliert, statt für sie. Das finde ich nicht fair gegenüber unseren Mitgliedern und Wählern. Wir sind alle nur deshalb Abgeordnete, weil die Menschen die Linke gewählt haben. Wir sind auf Grundlage eines Programms gewählt. Wenn dann jemand seinen besonderen Zugang zur Öffentlichkeit nutzt, um ganz andere Positionen zu vertreten, dann ist das ein Problem.

Der neue Fraktionsvorsitz wird dabei eine große Rolle spielen – Sie haben gesagt, sie haben eine Präferenz, die sie jetzt vermutlich nicht verraten werden – aber welche Kriterien spielen für Sie eine Rolle?

Entscheidend ist, dass jemand unsere Forderungen überzeugend nach außen vertreten kann und unsere Kritik an der verheerenden Ampel-Politik glaubhaft rüberbringt. Zweitens muss man integrierend nach innen wirken und in stürmischen Zeiten einen kühlen Kopf behalten. Kurz: Wir brauchen eine tragfähige Lösung.

Das Wagenknecht-Lager soll weiter mit einbezogen werden? Warum?

Für mich ist die klare Grenze dann erreicht, wenn Leute anfangen, eine neue Partei aufzubauen, ein konkurrierendes Projekt entwickeln und nicht mehr klar sagen, dass sie in der Linken Politik machen wollen. Natürlich kann jemand, der einen konkurrierenden Antritt vorbereitet, keine Verantwortung in der Fraktion übernehmen.

Müssen Sie als Parteivorsitzende mit der Neubesetzung nicht auch ein Signal des Neuanfangs senden?

Natürlich spielt das eine Rolle bei den Überlegungen. Ich persönlich habe aber nicht von einem Generationenwechsel gesprochen, weil wir in einer Situation sind, in der eine Kombination sinnvoll ist. Also eine Person, die viel Erfahrung mitbringt, und jemand Neuem. Wir müssen das abwägen. Und natürlich brauchen wir eine Erneuerung der Partei.

Werden Sie öffentlich einen Vorschlag machen?

Ich finde es gut, dass wir die Wahl jetzt erst einmal verschoben haben. Wir brauchen völlige Konzentration auf die Wahlkämpfe in Hessen und Bayern. Und wir müssen Widerstand organisieren gegen diesen Kürzungshaushalt. Das hat für mich gerade Priorität. Wir werden daran arbeiten eine tragfähige Lösung zu finden.

Welche Rolle spielt die Hessenwahl für Sie persönlich?

Natürlich hat diese Wahl für mich persönlich eine hohe Bedeutung. Ich war zweimal Spitzenkandidatin und bin viermal mit der Linken in den Landtag eingezogen. Wir haben dort zwei Spitzenkandidaten, die das großartig machen. Wir erleben gerade eine gefährliche Mischung aus Inflation, Abstiegsängsten, Mietenexplosion und einer Regierung, die eine verheerende Politik macht. Das zusammen mit dem Erstarken der Rechten ist ein gefährliches Gemisch, in dem wir dringend eine linke Opposition im Hessischen Landtag brauchen.

Jetzt haben wir diese Situation nicht erst seit gestern. Spätestens seit 2017, als die AfD in den Bundestag eingezogen ist, hört man von der Linken, vor allem in Ostdeutschland, wir müssen die Menschen wieder erreichen, wir müssen uns verändern. Jetzt ist es 2023, warum haben Sie das nicht geschafft?

Naja, wir haben seitdem auch Wahlerfolge gehabt, in Hessen 2018 , in Thüringen mit Bodo Ramelow, in Bremen oder Hamburg und auch kommunal bei Bürgermeisterwahlen wie beispielsweise in Rostock. Aber natürlich brauchen wir einen selbstkritischen Blick und müssen unsere Probleme analysieren. Der ständige innerparteiliche Streit und die Angriffe aufeinander haben zu viele Kräfte gebunden, die dann fehlten, wenn es darum ging, unsere gesellschaftliche Oppositionsrolle einzunehmen. Gerade kommen viele Krisen zusammen: Inflation, Ukraine-Krieg, Klimakrise. Die Menschen sind erschöpft von all den Krisen. Deswegen haben mein Co-Vorsitzender und ich zusammen mit dem Parteivorstand unseren Plan25 auf den Weg gebracht, mit dem wir die Linke neu aufstellen und gleichzeitig an dem anknüpfen wollen, was wir bereits gut machen. Unser Ziel ist, dass die Linke 2025 wieder gestärkt in den Bundestag einzieht.

Schauen wir auf Deutschland. Die Linke hat vor allem im Osten kontinuierlich Mitglieder verloren. Sie ist in vielen Städten und Gemeinden einfach nicht mehr vor Ort – welche konkreten Versäumnisse hat die Partei da gemacht?

Teilweise ist das dem demografischen Wandel geschuldet. Gerade im Osten waren viele unserer Mitglieder in einem hohen Alter. Dadurch sind auch die Strukturen, die Aktivitäten und Kreisverbände ausgedünnt. Es ist uns an manchen Stellen nicht gelungen, genug neue Mitglieder und junge Menschen für die Partei zu gewinnen.

Hat die Linke die eigenen Probleme zu lange nicht benannt?

Wir haben nicht das Problem, dass unsere Baustellen nicht benannt und diskutiert werden. Die Schwierigkeiten sind ja offensichtlich, in den Wahlergebnissen und in den Umfragen. Es gibt aber verschiedene Strategien, damit umzugehen. Der Konflikt ist nicht, dass die einen sagen, alles ist super, die anderen sagen, es ist ganz schlimm. Der Konflikt liegt darin, wie eine linke Partei ausgerichtet sein muss und welche Strategie man hat.

Und was wollen Sie?

Ich wünsche mir eine Partei, die deutlich größer ist, mit einer aktiven Mitgliedschaft. Wir sind nicht die CDU, wo es auf Parteitagen keine Meldungen in Generaldebatten gibt und die Mitglieder überhaupt nichts mitgestalten. Ich wünsche mir eine Partei, die viel stärker verankert ist in den Betrieben und Gewerkschaften als wir es heute sind. Bei den Beschäftigten, in den Wohngebieten, Stadtvierteln und Bürgerinitiativen. Und wenn die Leute sagen, ich habe hier ein Problem, ich kämpfe gegen eine Mieterhöhung oder für den Erhalt von Arbeitsplätzen, dann sollen sie wissen, die Linke wird sie dabei unterstützen.

Und was heißt das konkret? Wie wollen Sie das erreichen?

Wir wollen die Menschen wiedergewinnen, die uns mal gewählt haben, das aber nicht mehr tun. Dazu müssen wir uns fragen, warum sie uns nicht mehr wählen. Oder, noch besser: Wir fragen die Leute selbst. Das tun wir, indem wir von Haustür zu Haustür gehen oder vor dem Supermarkt stehen, auch unabhängig von Wahlkämpfen. Wir fragen die Leute, was ihnen fehlt in ihrem Viertel und wie sie die Linke wahrnehmen. Gleichzeitig wollen wir mit unseren Mitgliedern stärker in den direkten Kontakt zu kommen. Mitglieder sind teilweise ausgetreten, weil sie nichts mitbekommen haben von ihrer Partei und es vor Ort keine Strukturen gab. Wir sind dabei, das zu ändern mit Mitgliederaufbauschulungen und Neumitgliedertreffen.

Bis 2025 wollen Sie 10.000 Mitglieder mehr haben. Wie soll das gehen?

Indem wir die Partei öffnen und erneuern. Indem wir mehr Möglichkeiten schaffen, sich einzubringen, mitzugestalten und aktiv zu werden. Wir wollen einen Platz für ihre Themen bieten, ob für gute Arbeitsbedingungen, ein solidarisches Gesundheitssystem, bezahlbare Mieten oder sozial gerechten Klimaschutz.

Sie haben sich sehr dafür eingesetzt, Carola Rackete für die Europawahl aufzustellen. Warum?

Ich bin glücklich und auch stolz, dass zwei so profilierte parteilose Linke wie Carola Rackete und der Sozialmediziner Gerhard Trabert für die Linke antreten. Die bereit sind, ihre Arbeit, ihr Gesicht, ihre Stimme einzubringen. Wir schlagen vier Kandidaten vor: Martin Schirdewan, ein profilierter Europapolitiker, der in Ostdeutschland verwurzelt ist, die Gewerkschafterin Özlem Demirel, Gerhard Trabert, den „Arzt der Armen“, und Carola Rackete als Seenotretterin und Aktivistin, die Klimapolitik mit Klassenpolitik verbinden will. Das ist ein Bild linker Vielfalt, das mir gut gefällt.

Es gibt einige in der Partei, die mit Rackete und dem, wofür sie steht, nicht einverstanden sind.

Mich haben sehr viele positive Zuschriften von Mitgliedern und Nicht-Parteimitgliedern erreicht, die sich sehr über diese Kandidatur gefreut haben. Wir brauchen eine Stimme für den sozial ökologischen Umbau. Wir brauchen eine Stimme für Klimagerechtigkeit, die sagt, dass wir die Eigentumsverhältnisse grundlegend ändern müssen. Das macht Carola Rackete sehr gut, weil sie eben nicht einfach appelliert, jeder müsse individuell sein Konsumverhalten ändern. Sie sagt, wie die Strukturen geändert und die großen Konzerne entmachtet werden sollen. Deshalb ist sie eine sehr überzeugende Kandidatin.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!