Der Tag fängt morgens vor sechs Uhr bei ihr an, sie ist bester Dinge, und man könnte meinen, es läuft rund für Franziska Giffey (SPD). „Das ist ja total krass“, entfährt es ihr beim Rundgang durch die Firma Rise, als die Chefs einige Besonderheiten ihres Angebots präsentieren. Und „Meine Güte!“ Das kann Giffey am besten: nahbar sein.
Ein paar Stunden später, es ist Mittwochnachmittag, und die Regierende Bürgermeisterin besucht in Kreuzberg eine Firma, die auf Film- und Videoeffekte spezialisiert ist. Eine Firma, die selbst von Hollywood-Studios für die Nachbereitung ihrer Streifen gebucht wird. Das Unternehmen steht für eine Erfolgsgeschichte so ganz nach dem Geschmack der Bürgermeisterin. Mit 15 Leuten hat das Start-up 2007 angefangen. Heute arbeiten 250 Mitarbeiter dort, das Geschäft boomt – Tendenz wachsend.
SPD-Parteichef Lars Klingbeil ist auch gekommen. Selbst Olaf Scholz, der Kanzler, hat gleich mehrere Wahlkampftermine mit ihr absolviert, zuletzt in dieser Woche beim Pharma-Riesen Bayer. Die Bundesspitze der SPD will sich nicht nachsagen lassen, sie hätte ihre Berliner Statthalterin in der Not hängen gelassen.
Not nämlich ist das richtige Wort: Sie ist groß bei Giffey. So nahbar sie sich auch gibt, es läuft nicht rund im Wahlkampf. In den Umfragen führt Kai Wegner (CDU) mit einigem Vorsprung, und Giffey und ihre Partei müssen, wenn es schlecht läuft, sogar den dritten Platz hinter den Grünen fürchten. Es wäre wohl das Ende ihrer politischen Karriere.
Natürlich sagt keiner in der Bundesspitze ein schlechtes Wort über die Amtsinhaberin. „Franziska, du bist die Richtige für Berlin“, hat ihr Scholz beim Wahlkampfauftakt zugerufen„Eine Frau, die anpackt“, nennt die Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Katja Mast, Giffey.
Doch sobald Mikrofone und Stifte in den Taschen verschwunden sind, bricht sich die Enttäuschung über die ehemalige Familienministerin Bahn. Sie hatte viele Vorschusslorbeeren, sie könnte, so dachte man, mit ihrer politischen Hemdsärmeligkeit die lähmenden Wowereit- und Müller-Jahre vergessen machen. Auch die Sache mit dem Doktortitel, die anderen politisch schwer geschadet hätte, hat man ihr verziehen.
Wenige Tage vor dem Wahltag zeichnet sich deutlich ab, dass Giffey die eineinhalb Jahre im Amt nicht für sich nutzen kann. Seit 2020 haben alle Ministerpräsidenten und Bürgermeister – außer dem Saarländer Tobias Hans (CDU) – ihre Wahlen gewinnen können, wenn sie sich als Krisenmanager und Macher präsentierten, auch wenn der Schein manchmal mehr hergab als das Sein. Teilweise mit dem Bundestrend, teilweise gegen ihn. Man darf im Vorgriff auf den Sonntag die Prognose wagen: Franziska Giffey ist das nicht gelungen.
Inzwischen ist die Liste der Versäumnisse auch für jene lang, die öffentlich noch zu ihr halten: Genossinnen und Genossen. Sie lasten ihr an, dass sie vor dem Wohnungsproblem kapituliert habe, in der Bildungspolitik keinen Zentimeter vorangekommen sei, mit der Verkehrswende scheitere und mit ihrer Digitalisierungsoffensive viel zu spät begonnen habe. Auch für die seit Jahren überfällige Verwaltungsreform habe sie erst kurz vor dem Wahltag Ideen vorgelegt. Und über allem schwebt die Passivität der Bürgermeisterin im Umgang mit der Wiederholung der Landtagswahl. Erst das Desaster kleingeredet, dann bei niemandem Verantwortung angemahnt. Als ob sie der Skandal nichts anginge.
Dabei gibt es durchaus Gründe, die wenig mit Giffey zu tun, aber zur Gesamtbilanz beigetragen haben. Da ist zuallererst die Berliner SPD. Sie ist für sich schon ein hochkompliziertes Gebilde, stand nie wirklich hinter ihr. Der Landesverband ist nicht stark, sondern schwach; keine Landes-SPD in Deutschland ist so zerstritten und hat einen ähnlich hohen Personalverschleiß. Auch einen Bezirksbürgermeister vom Schlage Buschkowsky oder Giffey gibt es nicht mehr. Eine Idee für die Stadt von morgen? Nicht vorhanden. Irgendeine Problemlösungskompetenz? Nicht erkennbar. Nachwuchsförderung? Allenfalls per Zufall.
Natürlich, es gab besondere Herausforderungen. Kaum war Giffey im Amt, brach nicht weit entfernt ein Krieg aus. Die Stadt musste für Hunderttausende von ukrainischen Flüchtlingen Unterkünfte beschaffen, Frauen und Kinder beschützen und dafür sorgen, dass die Energie- und Mietpreise nicht durch die Decke gehen. Auch dass die U-Bahn-Linie U2 als eine zentrale Verkehrsader auf Monate ausfällt, ist weder ihr noch einem schlechten Management anzulasten. Dass gleichzeitig auch die Transversalen S1 und S2 wegen Reparaturarbeiten unterbrochen wurden, schon eher.
Überhaupt ist der Verkehr zu einem großen Manko geworden. Auf den Straßen kollabiert er immer häufiger, die Kfz-Zulassungen haben ein Rekordniveau erreicht. Freie Parkplätze sind gefragt wie nie, während der öffentliche Nahverkehr zu oft sehr viel Geduld abverlangt. Doch anstatt mit Tempo und Elan ein Konzept für den Verkehr der Zukunft zu entwickeln, liefert sich die Bürgermeisterin Scharmützel mit der grünen Verkehrssenatorin über die Möblierung der nun wieder autofreien Friedrichstraße. Als ob das einen Berliner in Spandau, Tempelhof oder Köpenick interessieren würde.
Für die Bundes-SPD hatte die Berlin-Wahl seit Willy Brandt nie mehr eine echte Relevanz. Dafür ist der Landesverband zu klein, zu selten beispielgebend und letztlich auch zu provinziell. Auch für den Bundesrat hätte eine Abwahl Giffeys kaum ernsthafte Konsequenzen. Insofern schauen die SPD-Granden in Kanzleramt und Willy-Brandt-Haus dem Sonntag mit einer gewissen Gelassenheit entgegen.
Umgekehrt gilt: Selbst wenn sie am Sonntag nicht auf Platz eins landet – vielleicht bekommt Franziska Giffey dank einer nach der Wahl besonders ungewöhnlichen Machtkonstellation doch noch eine Chance, eine Regierung zusammen zustellen. Das aber dürfte dann – Stand jetzt – ihre letzte Chance sein.