Der Kanzler saß seinen beiden Gästen direkt gegenüber und hörte aufmerksam zu. Gewünscht hatte er sich positive Nachrichten, Hinweise auf Lichtblicke in tristen Zeiten, Ideen für eine sonnige Zukunftserzählung. Aber so richtig erfreulich war es nicht, was ihm da vorgetragen wurde.
Es war am vergangenen Sonntag, es war Kabinettsklausur in Meseberg, und eingeladen hatte das Kanzleramt Jana Faus (pollytix) und Stephan Grünewald (Rheingold-Institut), um etwas über die Stimmungslage der Deutschen zu erfahren. Was genau das Duo darbot, ist nicht bekannt, aber eine Erzählung optimistischer und hoffnungsfroher Deutschen hatten sie nicht mitgebracht. Konnten sie nicht mitbringen.
Das geht jedenfalls aus zwei Studien hervor, die vor kurzem erschienen sind. Die Meinungsforscher der Berliner Agentur pollytix haben im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung die Nichtwähler in NRW nach der Landtagswahl im vergangenen Mai befragt. Vorgestellt wurde die Untersuchung vor wenigen Wochen. Und Sozialwissenschaftler des Progressiven Zentrums in Berlin haben sich eingehend mit den Motiven der Montagsdemonstranten in Ostdeutschland befasst.
Kurz gesagt sind die Deutschen krisenerschöpft, zermürbt und nur noch mit limitiertem Vertrauen in ihr politisches Führungspersonal ausgestattet. Von einem „zunehmend pessimistischen Gesamtbild“ ist in der NRW-Studie die Rede, die wohl aufs ganze Land übertragbar ist. Allgemeine „Krisenmüdigkeit und persönliche Alltagsbewältigung“ würden an den Kräften zehren. „Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen zu tun und die Belastungen werden nun mal mehr“, zitiert die Untersuchung einen Teilnehmer aus dem Rheinland. „Man hat gar nicht mehr die Zeit, Mühe und Muße, sich um den Nachbarn zu kümmern.“
„Ahnungslos“, „gebrochene Versprechen“ und „realitätsfern“ waren die Attribute, die den politischen Entscheidern immer wieder zugeschrieben wurden. Sie hätten ihren Kredit weitgehend aufgebraucht. „Die kriegen die einfachsten Dinge nicht hin“, sei sinngemäß in den Befragungen immer wieder vorgekommen. „Die politischen Entscheidungen in Krisenzeiten wirken planlos”, hatte Mit-Autorin Faus seinerzeit analysiert,von vielen werde eine „klare Kommunikation über den Entscheidungsprozess” vermisst.
Verbreitet sei auch die Wahrnehmung, „die Politik ist nicht vor der Welle“. Im Gegenteil, sie hinkt den Erfordernissen – auch in den Erfahrungen der Wählerinnen und Wähler – viel zu oft hinterher: „Es werden Entscheidungen getroffen, die maximal auf die nächsten paar Jahre gehen, aber es wird kaum etwas langfristig entschieden, wo man merkt, dass die Weichen gestellt werden, um Probleme anzugehen.“ So die Betrachtung eines Nichtwählers.
Ganz ähnlich blickt der Kölner Soziologe Stephan Grünewald auf die Deutschen. „Die Welt erscheint den Menschen als überkomplex, feindlich und erschöpfend“, schrieb er unlängst. Von einer „Verkarstung des Draußen“ spricht er und dass die Deutschen diesem Draußen immer mehr ihrer Lebensenergie entzögen. In Kurzform: „Jeder ist sich selbst der Nächste.“
Der Kanzler hat die zwei Experten nach Meseberg gebeten, weil ihn die Gefühlslage der Deutschen umtreibt. Nicht umsonst sucht er immer wieder auch den Kontakt zu dem Soziologen Andreas Reckwitz. Der hat sich zuletzt viel mit Verlusterfahrung beschäftigt, eine für die spätmodernen Generationen, die sich stets nur an Weiterentwicklung und Fortschritt orientieren durften, gänzlich neue Dimension. „Die Leute wissen, die Veränderungen werden kommen“, hatte Expertin Faus unlängst formuliert. Aber damit gehe auch die Erwartung an die politischen Instanzen einher, früher und entschiedener auf absehbare Entwicklungen zu reagieren.
Wobei der Kanzler weiß, dass es gut gelaufen ist für die Regierung in den vergangenen Monaten. Der befürchtete heiße Herbst verlief eher kühl, die Gasversorgung blieb gesichert, der Doppelwumms mit seinen Milliardenhilfen hat viel potenziellen Ärger abgefangen. Aber zur Wahrheit gehört auch: Wiederholbar ist ein ähnlich teures Hilfsprogramm nicht.
Und so sucht Scholz weiter nach einer optimistischen Grunderzählung seiner Kanzlerschaft. Eine Erzählung, die deutlich über das Jahr 2030 hinaus reicht und eine moderne Gesellschaft beschreibt. Eine lebenswerte Gesellschaft, die solidarisch und resilient ist, die Spielräume und Freiheiten ermöglicht, die dennoch die Erfordernisse der Zukunft rechtzeitig erkennt und in der Lage ist, auf jähe Herausforderungen handlungsstark zu reagieren, bevor der Krisenmodus alle und alles lähmt.
Die Befunde, die Faus und Grünewald in Meseberg offenbar vorgetragen haben, werden unterstützt von einer soeben vorgestellten, von der Bertelsmann Stiftung unterstützten Untersuchung des Progressiven Zentrums (Berlin), die sich eingehend mit den Teilnehmern der Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland befasst („Mir reicht’s Bürger“). Die Autoren orientierten sich weniger an den Organisatoren der Kundgebungen, sie wollten vor allem die Motive der „Mitlaufenden“ ausleuchten, um so auch die Dynamik der Bewegung im Herbst 2022 zu erklären.
Und sie wurden durchaus fündig. Kaum einer der Befragten wollte sich als rechtsradikal oder Nazi etikettieren lassen. Aber das Identitätsmerkmal Deutschsein („Wir Deutsche….“) war dann doch häufig von Bedeutung und stelle „einen wichtigen Identifikationspunkt dar“, wie die Autoren schreiben. Zugleich beobachteten sie „ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den politischen Akteur:innen“. Die Coronapolitik habe bestätigt, was bereits vermutet wurde: Die Regierenden wollten die Bevölkerung beherrschen, steuern und einschränken.
Viele Teilnehmende, so heißt es weiter, begründeten ihren Unmut in persönlichen Ausgrenzungserfahrungen. Es gehöre zu den ostdeutschen Besonderheiten, „die allgemeine Betonung fortbestehender OstWest-Gegensätze inklusive eigener Enttäuschungen über den Stand der Wiedervereinigung“ am Leben zu erhalten. Und schließlich: Unter Ostdeutschen gebe es „unterhalb der Selbst-Zuordnung als bundesdeutsche Bürger eine ostdeutsche Identität (auch unter vielen jungen Ostdeutschen)“.
Und das Motiv, an den Protesten teilzunehmen? Viele wollen „nicht mehr ignoriert werden“; das Gefühl der fehlenden Teilhabe, der Exklusion, angereichert durch eine gewisse Perspektivlosigkeit, erweist sich als verfänglicher Treibsatz. Nicht wenige haben zwar resigniert (24 Prozent), was ihre Erwartungen an Veränderungen angeht, wollten aber trotzdem eher an den Kundgebungen teilnehmen und so ein Zeichen setzen als „nichts zu tun“.
So optimistisch der Kanzler am Montag abschließend öffentlich Bilanz zog, frohgemut hat er die Klausur gewiss nicht verlassen. Gerne beschwört er das Mantra, dass ihm die Deutschen doch Vertrauen schenken sollten. Wirklich gelungen scheint ihm das bisher nicht.