Analyse
Erscheinungsdatum: 24. September 2023

Gemeinsamer Bundesausschuss: Miniparlament am Steuer des Gesundheitswesens

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Im Gemeinsamen Bundesausschuss werden fast alle wichtigen Entscheidungen im Gesundheitswesen getroffen: etwa den Nutzen neuer Medikamente, die Anforderungen an stationäre und ambulante Behandlungen, die Versorgung mit Ärztinnen und Ärzten. Der Vorsitzende Josef Hecken ist ein politisch versierter Mann – der manches anders machen würde als der Bundesgesundheitsminister. Speziell bei der Krankenhausreform.

Wenn Karl Lauterbach der Captain des Gesundheitswesens ist, dann ist Josef Hecken der Chief. Also der Leitende Ingenieur, zuständig für den Maschinenraum. Ohne Heckens Gemeinsamen Bundesausschuss, den „Ge-Be-Ah“, läuft im Gesundheitswesen wenig. Der G-BA bewertet den Nutzen neuer Arzneimittel und Verfahren, bestimmt die Versorgung mit Ärzten, die Qualität medizinischer Leistung und vieles mehr. Hecken, CDU-Mitglied, leitet ihn als „Unparteiischer“. Der 64-Jährige hat viel erlebt, war Büroleiter bei Norbert Blüm, Gesundheitsminister im Saarland und Staatssekretär im Bund. Den G-BA leitet er seit 2012 mit großem Elan: „Weil wir hier Entscheidungen treffen, ohne auf Schlagzeilen und politische Stimmungen zu schielen. Das erlebt man als großen Vorteil, wenn man aus der Politik kommt.“

Über den G-BA verwaltet sich das Gesundheitswesen im Auftrag des Gesetzgebers selbst. Jeden zweiten Donnerstag tagt dazu in einem sechsstöckigen Betonbau an der Spree ein Mini-Parlament mit 13 stimmberechtigten Mitgliedern. Sie verteilen sich auf drei „Bänke“: fünf Vertreter der Leistungserbringer, darunter die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und ein Kassenzahnärzte-Vertreter. Ihnen gegenüber, ebenfalls zu fünft: die gesetzlichen Krankenkassen, also die Vertreter der Beitragszahler. Am Kopf: die drei „Unparteiischen“, Hecken und seine Stellvertreterinnen. Im Streitfall sind sie das Zünglein an der Waage. Beratend mit am Tisch sitzen Patientenvertreter; auch die Bundesländer geben in vielen Fällen beratende Voten ab.

Den größten Redeanteil hat hier Hecken. Er verliest die Texte, auf die sich die neun Unterausschüsse zuvor geeinigt haben. Der studierte Jurist könnte das angehen wie ein Notar, trocken und nüchtern. Tatsächlich spickt er seinen Vortrag mit Pfeilchen in die eine oder andere Richtung. Sie gelten dem Hü und Hott, die eine Regel schon hinter sich hat, bis sie hier zur Endabstimmung kommt – auch Einwände des Ministers, der Fraktionen, der Länder. Seine Stellvertreterinnen müssen sich oft das Lachen verkneifen, wenn Hecken seinen Vortrag färbt mit persönlichen Bemerkungen, die weit über sein dialektales „dat“ hinausgehen oder seine Lieblingsredewendung „Ende Gelände“. Das ist sichtbar selbst in den Videostreams der Sitzungen, die – für jedermann abrufbar – in der Mediathek des G-BA liegen.

Im Plenum gibt es durchaus mal Widerstand. Gerald Gaß etwa, der Vorsitzende der Krankenhausgesellschaft, kämpfte zuletzt auf verlorenem Posten gegen eine Neuregelung der Notfallversorgung, die darauf hinausläuft, dass nur leicht erkrankte Patienten vom Krankenhaus zum niedergelassenen Arzt geschickt werden können. Oder neulich: Da lehnten die entsprechenden Fachgesellschaften eine Beschlussvorlage zu intensivmedizinischer Beratung mittels Video ab, die von den Krankenkassen und von Hecken getragen wurde. „Daraufhin habe ich gesagt: Geht so nicht“, berichtet Hecken. „Und an die Bänke appelliert, zu überlegen, wie man zu einer vernünftigen Lösung kommt.“

Hecken hat schon viele politische Kämpfe gewonnen, auch gegen die Länder. Etwa 2011, als „KT“, wie er den früheren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nennt, die Wehrpflicht abschaffte. Da habe er, damals Staatssekretär im Familienministerium, sich bei Angela Merkel dafür eingesetzt, dass eine Alternative her müsse, denn: „Ohne die Zivildienstleistenden wären die sozialen Einrichtungen klar in die Knie gegangen.“ Sein Plan: Die 400 Millionen Euro im Jahr, die der Bund in den Zivildienst steckte, in einen Bundesfreiwilligendienst umzuleiten.

Die Länder – allen voran Bayern – protestierten. Die Landesregierungen würden die Freiwilligen Sozialen Jahre (FSJ) ausrichten, also müssten sie auch dieses Geld haben. Sonst komme es zu einem bürokratischen Wasserkopf. Die Lokalzeitungen waren voll solcher Schlagzeilen. Hecken hielt dagegen: „Ich war mir absolut sicher, dass das Bild der angeblich ach so faulen Jugend nicht stimmt und die Leute uns die Bude einrennen würden.“ Er behielt Recht: Einen Freiwilligendienst absolvieren heute jährlich mehr als 80.000 junge Menschen, „wenn es mehr Geld gäbe, wären es sogar mehr“.

Hecken kann nicht verstehen, wieso Gesundheitsminister Lauterbach die Länder an seiner Krankenhausreform von Anfang an beteiligt hat, indem er die Reform als zustimmungspflichtiges Gesetz konzipiert hat. Die Länder könnten qualitätssichernde Mindestmengen dann nicht mehr ohne Weiteres so verwässern, dass letztlich alles beim Alten bliebe. Qualität kommt bei hochkomplexen Operationen durchaus auch von Quantität, und zwar statistisch messbar: Je häufiger ein Krankenhaus einen Eingriff vornimmt, desto weniger Fehler passieren, desto eingespielter ist das Behandlungsteam. Erst kürzlich hat der G-BA beispielsweise die Jahres-Mindestzahl von Frühstgeburten in Perinatal-Stationen erhöht. Die Länder protestierten, weil künftig einige Stationen diese Leistungen nun nicht mehr anbieten dürfen. Hecken hält dagegen, dass die Vorgabe die Überlebenschancen sowohl der betroffenen Mütter wie der Säuglinge erhöhen würde.

Hecken sagt, er hätte den Ländern einen fertigen Gesetzentwurf für die Krankenhausreform vorgelegt. Zwar wäre dieses Gesetz irgendwann womöglich im Vermittlungsausschuss gelandet, weil die Länder die Planungshoheit über die Krankenhäuser haben und auf ihre Rechte gepocht hätten. Dort hätte man aber einen Kompromiss finden können. Jens Spahn, Lauterbachs Vorgänger, habe es so gemacht mit einem Gesetz gegen Ausnahmen von bundesweiten Qualitätsanforderungen. Zuvor konnten die Länder diese Karte ziehen, um Klinik-Standorte zu sichern – auf Kosten der medizinischen Qualität. Die Länder hätten wegen Spahns Gesetzesvorhaben den „Untergang des Abendlandes“ ausgerufen, erzählt Hecken. Damals fand man dann schon im Gesundheitsausschuss des Bundestages eine salomonische Lösung: Die Länder dürfen immer noch Ausnahmen anmelden– allerdings nur, wenn die gesetzlichen Krankenkassen der Ausnahme zustimmen.

Mit Parteifreund Spahn hat Hecken sich übrigens auch gestritten. Etwa über die Liposuktion, der Fettabsaugung bei sogenannten Lipödemen an Beinen oder Armen. 2019 wollte der damalige Bundesgesundheitsminister per Erlass die Liposuktion zur Kassenleistung machen. Als das nicht gelang, versuchte Spahn, die Fachaufsicht über den G-BA an sich ziehen. In beiden Fällen scheiterte er, auch an Heckens energischem Widerstand. Damals spottete Hecken im Tagesspiegel-Interview, Spahn werde nun wohl nicht mehr „evidenz- durch eminenzbasierte Entscheidungen“ ersetzen.

Der Konflikt mit Lauterbach scheint tiefer zu gehen. Vielleicht, weil die Krankenhausreform eines der größten und wichtigsten politischen Gesundheitsversorgungsprojekte überhaupt ist. Und weil Lauterbach weder den G-BA noch dessen Mitglieder daran beteiligt hat. Der G-BA-Vorsitzende kritisiert, dass der Minister nicht das gemacht hat, was Heckens tägliche Arbeit ist: alle an einen Tisch zu holen. In dem Fall die Krankenhäuser und die Krankenkassen.

„Beide Parteien hätten Vorschläge vorlegen können, wie eine Reform aussehen könnte“, sagt Hecken. Alle Beteiligten wissen, dass die Krankenhausreform gelingen muss – und zwar schnell. So wie es aussieht, könnten viele Kliniken in die Insolvenz gehen, noch bevor ein Reformgesetz in Kraft tritt. Eins, dass ihnen vielleicht eine neue Rolle einräumen könnte in einer neuen Krankenhauslandschaft.

Hecken gehört selbst zu den Paten des G-BA. Er war vor fast 20 Jahren, als das Gremium von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) aus der Traufe gehoben wurde, als saarländischer Gesundheitsminister Vorsitzender des Ausschusses im Bundesrat. Schon die damalige Gesundheitsreform wollte die stationären und ambulanten Bereiche besser vernetzen. Und so wurde aus den Ausschüssen, die damals diese Bereiche getrennt regelten, der Gemeinsame Bundesausschuss. „Der G-BA ist in ganz Europa einmalig“, sagt Hecken stolz. Wobei die Idee schon vor 100 Jahren im damaligen Preußen entstand: 1913 wurde ein gemeinsames Selbstverwaltungsgremium der Krankenkassen und Ärzte eingeführt.

Von Staatsmedizin hält Hecken wenig. Nicht nur wegen der Nazis, deren Staatsmedizin zum Ausschluss von nicht-arischen Patientinnen und Patienten führte. Er glaubt, die Politik könnte unter Druck geraten, ungute Rechnungen aufzumachen. Als Beispiel nennt er die Patienten mit seltenen Erkrankungen. „Nur 0,07 Prozent der Rezepte entfallen auf Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen. Diese 0,07 Prozent kosten die gesetzlichen Krankenkassen allerdings 12,8 Prozent ihrer gesamten Arzneimittelausgaben.“ Ganz viel Geld also für ganz wenige Patienten. „Wenn ich jetzt politisch opportune Entscheidungen treffen müsste“, räsoniert er, „wenn ich beispielsweise mit Blick auf den Angriffskrieg auf die Ukraine für eine bessere Landesverteidigung sparen muss: Was würde ich dann machen?" Dann liege doch nahe, „dass ich bei den Gesundheitsausgaben da spare, wo es am wenigsten Widerstand gibt.“ Also etwa auf keinen Fall bei den Diabetikern, denn das seien sechs Millionen Patienten, also sechs Millionen Wähler.

In Deutschland spielten solche Überlegungen gottlob keine Rolle. „Der Vorteil unseres Systems ist, dass die konkreten Kostenübernahmen ohne politische Opportunität entschieden werden. Wenn ein Medikament evidenzbasiert Vorteile bringt, erfolgt die gesetzlich geregelte Preisbildung und dann wird dieser Preis auch bezahlt.“ In England dürfe ein zusätzliches Lebensjahr eines Patienten den Staat maximal 30.000 Pfund kosten. Alles, was teurer ist, werde nur in absoluten Ausnahmefällen bezahlt. „Wir dagegen sagen: Gerade dann, wenn es die Kraft des Einzelnen übersteigt, muss die Sozialversicherung helfen.“

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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