Analyse
Erscheinungsdatum: 06. Juni 2023

EuGH-Entscheidung zu Polen stellt Brüssel vor schwere Entscheidungen

Thousands March In Poland Anti-government Protest Opposition party leader Donald Tusk and Lech Walesa, the former President of Poland and the former leader of the Solidarity movement, attend an anti-government Freedom March on the 34th anniversary of Poland s first postwar democratic election. Warsaw, Poland, June 4, 2023. Half a million people were marching, according to organizers. Large crowds also gathered in other Polish cities. Warszawa Poland PUBLICATIONxNOTxINxFRA Copyright: xBeataxZawrzelx originalFilename: zawrzel-thousand230604_np7t0.jpg

Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt, dass die PiS-Regierung in Polen gegen das EU-Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstößt. Damit stärkt der EuGH die Rechtsposition der EU – und heizt zugleich den Konflikt zwischen Polen, Brüssel und Berlin weiter an.

Hunderttausende Polinnen und Polen, die am Sonntag in Warschau auf die Straße gingen, protestierten gegen ihre national-konservative Regierung und gegen Versuche, Rechtsstaat und Demokratie abzubauen. Zugleich demonstrierten sie für ein konstruktives Polen in einem vereinten Europa, was sich auch an den vielen Europa-Flaggen bei der Abschlusskundgebung auf dem Schlossplatz erkennen ließ. Am Montag folgte postwendend eine Antwort aus Luxemburg, die die Demonstranten bestätigen dürfte. Da verurteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das von der PiS-Partei regierte Polen wegen Verstößen gegen die wesentliche Grundlage der EU: die Rechtsstaatlichkeit. Der Konflikt zwischen der EU und Polen erreicht damit eine neue Stufe.

Die EuGH-Richter erklärten in ihrem Urteil: „Der Wert der Rechtsstaatlichkeit gibt der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge und schlägt sich in Grundsätzen nieder, die rechtlich bindende Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten enthalten.“ Mit anderen Worten: Die durch Verträge zwischen ihren Mitgliedstaaten gegründete Europäische Union wird durch das Recht zusammengehalten. Wer dieses bricht, gefährdet die EU. Der EuGH stellt daher klar, dass sich die Mitgliedsstaaten nicht auf ihr innerstaatliches Recht – auch nicht auf ihre Verfassung – berufen können, wenn sie EU-Recht brechen.

Konkret verwirft der Gerichtshof in Luxemburg entscheidende Teile der polnischen Justizreform von 2019 und gibt damit der klagenden Europäischen Kommission recht. So sei die am Obersten Gerichtshof Polens errichtete Disziplinarkammer für Richter weder unabhängig noch unparteilich. Die faktisch von der Regierungspartei kontrollierte Kammer konnte Richter bestrafen, zwangsversetzen oder gegen deren Willen in den Ruhestand versetzen. Sie wurde zwar inzwischen abgeschafft, aber durch ein anderes Gremium ersetzt, was Kritiker als Etikettenschwindel ansehen. Der EuGH argumentiert, schon die Aussicht der Richter darauf, disziplinarisch verfolgt zu werden, etwa wenn sie EU-Recht anwenden, gefährde deren Unabhängigkeit.

Einen zweiten Verstoß gegen das Europarecht sieht der EuGH darin, dass in Polen nur noch ein einziges Gericht darüber entscheiden darf, ob in einem Verfahren ein wirksamer Rechtsschutz garantiert ist. Dies soll andere Gerichte daran hindern, sich bei Zweifeln an den EuGH zu wenden. Eine solche „monopolistische Kontrolle“ schwäche das Grundrecht wirksamen Rechtsschutz, befinden die Richter in Luxemburg.

Noch eine weitere Regelung der Justizreform haben sie nun verworfen. Danach müssen die Richter des Landes ihre Mitgliedschaft in Vereinen, Stiftungen und Parteien offenlegen, was im Internet veröffentlicht werden sollte. Angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung in Polen könnte dies zu Einschüchterungen und Stigmatisierungen von Richtern in der Öffentlichkeit führen, befürchten Kritiker. Der EuGH gibt ihnen recht. Die Regelung verstoße gegen die Achtung des Privatlebens und den Schutz der personenbezogenen Daten der Richter.

Das Urteil fällt in einen seit 2016 andauernden Streit zwischen der polnischen, von der PiS-Partei geführten Regierung und der Europäischen Union hinein. Die EU-Kommission, das Europaparlament und der EuGH haben der polnischen Regierung in zahlreichen Erklärungen, Verfahren und Urteilen vorgeworfen, die Unabhängigkeit der Justiz systematisch zu schwächen, um sie ihrem politischen Willen zu unterwerfen. Tatsächlich hat die PiS-Regierung zum Beispiel durch fragwürdige Ernennungen beziehungsweise Nicht-Ernennungen von Richten das Verfassungsgericht unter ihre Kontrolle gebracht. Dieses entschied im Oktober 2021, Teile des EU-Rechts und Anordnungen des EuGH seien verfassungswidrig. PiS-Chef Jarosław Kaczyński regte an zu prüfen, ob nationales Recht in Polen Vorrang vor dem EU-Recht erhalten solle. Eine EU, in der jedes Mitglied tut, was es will und gemeinsames Recht nach Belieben bricht, kann jedoch nicht funktionieren. Dies hat der EuGH durch sein Urteil klargestellt.

Fraglich ist, ob Warschau das nun akzeptiert. Bislang hat die polnische Regierung immer wieder Entscheidungen der EU-Kommission und des EuGH missachtet. Die Durchsetzungsmöglichkeiten der EU sind begrenzt. So sieht das Europarecht keinen Ausschluss eines Staates vor. Zwar gibt es ein Rechtsstaatsverfahren. Danach können schwere Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips dazu führen, dass ein EU-Staat sein Stimmrecht verliert. Dies müssen die Mitgliedstaaten jedoch einstimmig beschließen. Das würde im Falle Polens schon daran scheitern, dass Ungarn zu Polen halten würde.

Faktisch bleibt der EU daher nur, Staaten, die hartnäckig Regeln brechen, beim Geld zu treffen. So wurde im Streit um die Justizreform vom EuGH bereits ein Zwangsgeld gegen Polen verhängt, das zunächst eine Million Euro pro Tag betrug und dann auf 500.000 Euro pro Tag ermäßigt wurde. Noch effektiver ist jedoch die Möglichkeit der EU-Kommission, einem Mitgliedsland bei schweren rechtsstaatlichen Mängeln Fördergeld vorzuenthalten, zum Beispiel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds. Hier hält die EU gegenüber Polen derzeit 36 Milliarden Euro zurück. Das schmerzt die Regierung in Warschau, die sich den Konsens der Bürger durch eine umfangreiche und teure Sozialpolitik sichert.

Der Konflikt zwischen der PiS-Regierung und der EU verläuft so zäh, weil dahinter völlig verschiedene Vorstellungen von Europa stehen. Polen ist aus eigenem Willen der EU beigetreten und hat den EU-Vertrag unterzeichnet. In dessen Präambel ist das Ziel festgeschrieben, „eine immer engere Union der Völker Europas“ zu schaffen. Das will die PiS-Regierung in Warschau aber gerade nicht. Sie unterstützt die wirtschaftliche Integration, weil Polen davon enorm profitiert. Sie möchte jedoch keine engere politische Union, sondern die volle nationalstaatliche Souveränität erhalten beziehungsweise wiederherstellen. Das ist vor dem Hintergrund der polnischen Geschichte verständlich. Es ignoriert jedoch nach Ansicht der Pro-Europäer, dass sich europäische Staaten in der Welt von heute und morgen politisch allein kaum behaupten können.

Die EU muss damit rechnen, dass sich Polen auch dem Urteil des EuGH vom Montag verweigern wird. Die Vizepräsidentin des Europaparlaments Katarina Barley (SPD) fordert bereits, die Strafen zu erhöhen. Die EU-Kommission und wichtige EU-Staaten wie Deutschland tun sich jedoch schwer damit, energisch gegen polnische Rechtsbrüche vorzugehen. Denn im Ukraine-Krieg wird Polen gebraucht – und verhält sich vorbildlich, was die Aufnahme Geflüchteter und die Unterstützung der Ukraine anbelangt. Das macht es politisch schwieriger, die Rechtsstaatlichkeit konsequent durchzusetzen.

Dabei legt die PiS-Regierung beim Abbau von Rechtsstaat und Demokratie immer weiter nach. Sie möchte nun eine Kommission einsetzen, um den russischen Einfluss auf „die innere Sicherheit der Republik in den Jahren 2007 bis 2022“ zu untersuchen. Sie soll Strafen sowie ein Verbot für öffentliche Ämter von bis zu zehn Jahren verhängen können. Also Ermittler, Ankläger und Richter in einer Person sein. Rechtsschutz vor ordentlichen Gerichten ist bislang nicht vorgesehen.

Der Hintergrund: Im Herbst wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Der liberalkonservative, europafreundliche Oppositionsführer Donald Tusk könnte die PiS-Herrschaft in Gefahr bringen. Die Kaczynski-Partei wirft ihm vo r, Tusk habe, das Land von russischen Energielieferungen abhängig gemacht, als er von 2007 bis 2014 polnischer Premier war. Die Kommission könnte von der PiS-Regierung nun benutzt werden, Tusk politisch aus dem Weg zu räumen. Ob dies durchsetzbar ist, bleibt angesichts der Massendemonstrationen fraglich. Doch die PiS zeigt, wie wenig sie Rechtsstaat und Demokratie kümmern, wenn es um den Machterhalt geht. Die EU, und auch Deutschland, werden dem kaum tatenlos zusehen können.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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