Analyse
Erscheinungsdatum: 29. Januar 2023

„Es gibt kein strategisches Zentrum und keine Idee“

Stefan Braun, Vera Weidenbach (1)
Die letzten Wahlen waren für die Linkspartei durchweg ernüchternd, und auch die Perspektive, die der Sozialwissenschaftler und Linken-Experte Horst Kahrs über die strategische und inhaltliche Aufstellung der Partei entwirft, fällt nicht optimistisch aus. Kahrs, 66, arbeitete von 1995 bis 2011 erst für die PDS, dann für Die Linke, von 2011 bis 2021 für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er betreibt mit Tom Strohschneider den Blog „Linksdings“ (www.linksdings.ghost.io).

Berlin.Table: Nach der letzten Bundestagswahl sagten Sie, die Linke müsse sich neu erfinden. Wie weit ist die Partei auf diesem Weg?

Horst Kahrs: Sie ist eigentlich keinen Schritt vorangekommen. Partei- und Fraktionsführung versuchen mit den alten Themen soziale Gerechtigkeit und soziale Frage wieder in die Erfolgsspur zu kommen. Und nebenbei wird versucht, nach dem alten Modell „Wir leben von den Wählerinnen und Wählern anderer Parteien“ den Grünen Wähler abspenstig zu machen. Janine Wissler war ja gerade auch in Lützerath. Man ist sich einer eigenen Wählerschaft nicht sicher, sondern setzt auf die Enttäuschung über andere Parteien. Das war das alte Erfolgsmodell der Linkspartei. Kann man machen, aber eine Neuerfindung ist das nicht.

Was müsste sie anders machen?

Nach meinem Eindruck wird unterschätzt, dass es einen großen Bedarf an gesellschaftspolitischer Deutung und Orientierung gibt. Bei der Linken ist ganz wenig davon die Rede, wie diese Gesellschaft beschaffen ist, wie sie funktioniert, wo der Platz derjenigen ist, die man erreichen will. Es wird ein sehr hölzernes Gesellschaftsbild bedient.

Das sieht wie aus?

Auf der einen Seite die Konzerne und die Reichen, die zu wenig zum Allgemeinwohl beitragen, und auf der anderen Seite ist die große Mehrheit quasi wie ein Opfer, das alles bezahlen muss und dem es immer schlechter geht. Das ist aber als Bild so grobschlächtig, dass sich die Menschen darin nicht wiederfinden, die ernsthaft an einer Veränderung ihrer Lebenssituation interessiert sind, sondern bestenfalls die, die ihre Wut irgendwo platzieren wollen.

Das nennt man wohl Protestpartei…..

Ich glaube, dass die Linke ernsthaft auch über programmatische Fragen nachdenken muss. Zum Beispiel: Was ist Gerechtigkeit? Es reicht nicht, es als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit zu benennen, wenn Dax- Vorstände am 5. Januar schon so viel verdient haben wie der Durchschnittsarbeitnehmer in einem ganzen Jahr. Man müsste auch sagen, warum ist das ungerecht? Warum widerspricht das den Kriterien einer Leistungsgesellschaft? Nur die Benennung der Ungerechtigkeit löst bei den Menschen noch gar nichts aus. Das ist eine Erfahrung der letzten Jahre mit linker Politik: Es müsste mit anderen Maßstäben kommuniziert werden, etwa dass ein Dax-Vorstand nicht mehr als das Zehnfache eines Durchschnittsarbeitnehmers leisten kann. Das versteht man dann….

Argumente sind das eine, überzeugender wäre es wohl mit emotionalen Bildern und Begrifflichkeiten?

Beides ist nötig. Jede Politik braucht emotionale Bilder. Sie muss Gefühle ansprechen, einen Wärmestrom erzeugen. Man muss den Glutkern einer Partei erkennen. Der Glutkern der Linken muss immer auch mit Gleichheit zu tun haben. Wie gehen wir mit der ungerechten Verteilung des CO₂-Ausstoßes in den Industrieländern und der Betroffenheit in anderen Ländern um? Wie geht die Linke damit um, dass der Wohlstand, den wir hier haben, ja auch immer gedacht werden müsste als ein Wohlstand, den alle erreichen können? Gleichheit und Gerechtigkeit, auch international, müssten zentrale Bezugspunkte linker Politik sein.

Warum fällt das so schwer? Warum findet die Linke die Themen nicht, mit denen sie durchdringt?

Aus zwei Gründen: Es ist zum einen ganz schwer, in der Bundesrepublik wieder einen gesellschaftspolitischen Diskurs, eine Öffentlichkeit zu schaffen, die jenseits dessen denkt, was in neoliberalen Ideologien oder volkswirtschaftlichen Modellen vorherrscht; dass sich nämlich der Mensch immer am unmittelbaren materiellen Vorteil orientiert. Mittlerweile ist die Einsicht verbreitet, dass diese Annahme falsch ist. Aber was stattdessen? Das ist noch nicht beantwortet. Und das treibt nicht nur die Linke um, sondern eigentlich fast alle Parteien dieser Gesellschaft.

Und das ist handlungsleitend für die Linke?

Das Zweite ist die Not in der Linkspartei selber. Wenn eine Partei sich als Sammlungsbewegung gründet und erfolgreich ist mit ganz unterschiedlichen politischen Traditionen, ist der kleinste gemeinsame Nenner die Tagespolitik und weit in der Zukunft liegende abstrakte, allgemeine Ziele. Man orientiert sich am Tagespolitischen, weil Sammlungsbewegungen davon leben, dass sie erst einmal eine sehr konkrete Forderung haben. Aber irgendwann erschöpft sich diese Dynamik und müsste übergehen in ein gesellschaftspolitisches Anliegen. Oder sie sucht sich das nächste Thema, mit dem sie versucht, eine Bewegung ins Leben zu rufen.

Und? Hat die Linke es versucht?

Ich würde sagen, sie hat diesen Zeitpunkt verpasst, weil sie stattdessen innerparteiliche Auseinandersetzungen geführt hat, die jede strategische Überlegung, wohin es weiter gehen könnte, sofort in eine Schublade gepackt hat.

Wie sieht überhaupt die grundlegende gesellschaftliche Erzählung der Linkspartei aus?

Sie fehlt, und das hat mit einem Bruchpunkt zu tun. Den gab es mit dem Sturz der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen 2012 und der anschließenden Neuwahl, bei der die Linke nicht mehr ins Parlament kam. Dann kam der Göttinger Parteitag, bei dem die Partei vor der Spaltung stand. Katja Kipping und Bernd Riexinger ist es gelungen, das zu verhindern; aber um den Preis, dass es kein strategisches Zentrum mehr gab und damit auch keine strategische Idee, die mehrheitsfähig wäre. Stattdessen gab es Machtauseinandersetzungen zwischen Partei- und Fraktionsvorstand. Dieses strategische Zentrum gibt es bis heute nicht.

Dabei nehmen die gesellschaftlichen Disparitäten national und international zu. Warum schlägt die Linke daraus kein Kapital?

Erstens ist es schwierig, aus diesen Disparitäten Kapital zu schlagen – wenn man es nicht mit der Perspektive verbinden kann, daran etwas ändern zu können. Wenn Parteien nicht rein populistisch sein wollen, müssen sie die Vorstellung transportieren, mit ihnen ließe sich daran etwas ändern. Diese Hoffnung kann die Linke im Moment nicht verbreiten.

Welches Wählersegment kann die Linke überhaupt noch erfolgversprechend ansprechen?

Das Problem ist, dass die Linke – anders als die Grünen – nicht aus einem bestimmten Milieu heraus entstanden ist. Und trotzdem kann sie Menschen erreichen, die eine Vorstellung davon haben, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte. Die sich etwa die Frage stellen, wie geht man mit den Leuten, die zwar miese, aber unverzichtbare Jobs haben um, den Paketboten oder Reinigungskräften zum Beispiel? All die Jobs, die wir brauchen, damit die elementaren Dinge funktionieren. Begegnen wir diesen Menschen mit Respekt, und wie findet sich das in der eigenen Sprache wieder?

Und?

Da redet die Linke traditionell von den Einkommensschwachen oder Armen. Es gibt aber kaum Versuche, über Begriffe eine positive Identifikation zu schaffen. Sätze von früher wie „Ich bin Arbeiter“ oder „Ich gehöre zur Arbeiterklasse“ sind weg. Wenn heute einer sagt, er gehört zur Arbeiterschicht, signalisiert er vielleicht noch etwas trotzig-selbstbewusst, dass er nicht zu den Aufsteigern und zur Mittelschicht gehört und bestimmten Traditionen treu geblieben ist – aber in der politischen Sprache der Linken findet sich das nicht wieder.

Was schließen Sie daraus?

Die Linke bräuchte eine Sprache, mit der sich soziale Gruppen spezifisch angesprochen fühlen; eine Sprache, die vermittelt, ich bin gemeint. Diese Sprache gibt es nicht. Wenn ich über Arme rede, rede ich über alle, Hartz-IV-Bezieher genauso wie Menschen, die wenig Geld verdienen, aber hart dafür arbeiten. Diese fehlende Differenzierung in der Sprache ist ein Problem, das die Partei aus der Hartz-IV-Bewegung mitgenommen hat. Ursprünglich, 2004 und 2005, war etwa die WASG eine Bewegung von Arbeitern, die nicht zu Sozialhilfeempfängern gemacht werden wollten.

Sind Sympathisanten der AfD für die Linke noch ansprechbar?

Nein! Es ist ein legitimer Versuch, der aber bisher für die Linke nicht besonders erfolgreich ausgegangen ist. Es würde klarer, wenn die Linke etwas mehr auf ihre eigene Geschichte schauen würde. Weil die Wähler, die von den Linken zur AfD gegangen sind, immer schon anfällig waren für Nationalismus und bestimmte Formen von Rassismus. Das wusste schon die alte SPD: Man kann die Arbeiter nicht alle überzeugen; man kann aber versuchen zu verhindern, dass sie rechts wählen. Das ist den Sozialdemokraten nicht mehr gelungen, und die Linke konnte das nicht auffangen. Und jetzt ist mit der AfD etwas Rechts-nationalistisches entstanden, wo, salopp gesprochen, das Deutscher-Sein wichtiger ist als das Arbeiter-Sein.

Ist das irreparabel?

Es gibt mittlerweile so etwas wie ein gefestigtes Milieu bei der AfD, im Osten ein bisschen mehr als im Westen. Die prägen die Stimmung in Vereinen, in Nachbarschaften, dort, wo früher mal Sozialdemokraten und Gewerkschaften waren oder die PDS-Mitglieder. Deshalb ist es unheimlich schwer, Konzepte zu entwickeln, mit denen man an AfD-Wähler herankommt. Da geht es nicht um tolle Einzelforderungen, sondern darum, wieder als die Partei zu erscheinen, die ihnen die Welt und Politik erklärt, die das aufnimmt, was die Leute selbst wahrnehmen und empfinden.

Kümmererpartei hat man das in der SPD genannt….

Ja, die SPD-Stadträte und Gewerkschafter haben etwa im Ruhrgebiet auch dort gewohnt, wo die Leute lebten. Sie waren im Alltag präsent. Es hat eine gewisse Tragik, wenn man sich anschaut, wie bestimmte Viertel erst zu Nichtwähler- und dann zu AfD-Hochburgen wurden. Die ehemaligen Politikerklärer sind weggezogen, es folgte niemand, und dann entsteht das, was Oskar Negt mal als Rohstoff für politische Schwarzmarktphantasien beschrieben hat.

Die PDS hatte in den 90er-Jahren teilweise diese Kümmererfunktion. Wann ist das gekippt?

Eine Anekdote aus dem Jahre 2009: Es war im Wahlkampf auf der Berliner Fischerinsel, eine Hochburg der PDS damals. Da sagte mir ein altes Mitglied der Basisorganisation: Früher haben wir ein ganzes Hochhaus mit Zetteln und Flugblättern versorgt. Heute schaffen wir bestenfalls noch einen Flügel. Das heißt, sie sterben nicht nur weg, sondern werden älter. So ist das heute in der Fläche überall, es gibt ältere Genossinnen und Genossen und ganz junge, aber dazwischen klafft eine große Lücke.

Und auf dem Land?

Die jungen Leute im Osten sind stark auf die größeren Städte orientiert. Als junger Mensch in einer Kleinstadt in Sachsen oder Brandenburg zu leben, kann sehr hart sein und wenig erfreulich. Und dann geht man möglicherweise zum Studieren irgendwohin. Deshalb, wenn die Linke noch wächst, wächst sie in den Universitätsstädten.

Einerseits. Andererseits treibt die jungen Leute auch das Klima stark um. Ein Thema, mit dem sich die Linke eher schwer tut.

Sie versucht sich natürlich zu profilieren, mit allen Widersprüchen, die es dabei gibt. Also gegen das Abbaggern von Lützerath aufzutreten und gleichzeitig zu fordern, dass mehr Öl nach Schwedt gebracht werden muss, ist schwierig. Und davon gibt es noch ein paar Widersprüche mehr.

Ist das der Grund, warum die Linke nicht als Klimaschutzpartei wahrgenommen wird?

Das ist eine Frage von Image und etwas, was weit im Vorfeld von politischen Forderungen stattfindet. Image hat immer auch mit der Geschichte einer Partei zu tun. Die Linke ist nun mal die Partei der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilungspolitik. Manche verbinden sie auch noch mit Sozialismus und SED. Zum Image gehört auf Bundesebene auch ein bisschen das Image der Lautsprecher, die laut klagen, aber wenig an Veränderungen arbeiten. Die Afghanistan-Abstimmung war so ein Beispiel. Man konnte nicht ernsthaft dagegen sein, die Leute aus Kabul rauszuholen. War die Fraktion aber. Man kann den Krieg falsch finden. Aber im Ernstfall sind den Führungsleuten ideologische Grundsätze und Recht haben anscheinend wichtiger als das Lösen eines konkreten Problems.

Wo sie regiert, agiert sie immer pragmatisch.

Überall, wo sie Entscheidungen treffen muss, tut sie das auch. Hätte sie im Bund Verantwortung, wäre sie im Sommer 2021 natürlich dafür gewesen, Flugzeuge nach Afghanistan zu schicken und die Leute rauszuholen. Wenn die Linke regiert, entscheidet sie problemorientiert und auf reale Verbesserungen bedacht.

Sind es womöglich zu viele Widersprüche: Die Russlandpolitik, die Raffinerie in Schwedt, die Braunkohle in der Lausitz, die sich nicht mit dem ökologischen Anspruch verträgt – lauter ungelöste Konfliktfelder.

Das ist ein echtes Problem, das in dem Slogan sozial und ökologisch verpackt wird. Das ist zu wenig. Es gibt keine wirklichen Mechanismen der Auflösung von solchen politischen Konflikten und Positionierungen. Es geht ums Überleben und um die Frage, ob sie in den Umfragen bei vier oder sechs Prozent liegt. Alles andere wird vertagt.

Es gibt vier Landtagswahlen in diesem Jahr: Wie bedeutsam wird 2023 für die Partei?

Ganz entscheidend. Schon bei den Wahlen in Berlin wird sich entscheiden: Wendet sich die Stimmung oder geht es weiter abwärts? Und das wird dann, wenn die Gerüchte stimmen, Auswirkungen darauf haben, ob sich im Mai oder Juni Sahra Wagenknecht und ihre Freunde abspalten.

Und die übrigen Wahlen in Bremen, Hessen und Bayern?

Entscheidend ist die Wahl in Hessen, weil das die letzte westdeutsche Landtagsfraktion ist, die mehrmals den Wiedereinzug geschafft hat. Wenn das nicht gelingt, hat die Partei vermutlich im Westen keine Zukunft. Das ist viel entscheidender als eine weitere Regierungsbeteiligung in Berlin oder Bremen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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