Vielleicht sprach der Minister im Superlativ, um seine leise Angst zu übertönen. „Wir werden das modernste Digitalisierungsgesetz in ganz Europa haben“, sagte Karl Lauterbach vor der aktuell tagenden Data for Health Conference in Berlin. Die Logik: Weil Deutschland so lange hinterhergehinkt hat, kann es – orientiert an Modellen anderer Länder – diese überholen und etwa den von Brüssel geplanten „European Health Data Space“ gleich mit bedienen. Damit würden die Gesundheitsdaten deutscher Patienten demnächst nicht nur hierzulande, sondern in ganz Europa nutzbar – und irgendwann sogar im transatlantischen Austausch. Die Basis dafür schaffen sollen drei Gesetze. Zwei Entwürfe sind jetzt da, das Gesundheitsdatennutzunggesetz (GNG) und das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesen (DigiG).
Dass diese Gesetzentwürfe zeitgleich mit der Data Health Conference in Berlin in Umlauf kommen, ist kein Zufall. Nach dem Motto: Wenn Hunderte Spitzenmedizinerinnen und KI-Cracks aus aller Welt dafür trommeln, muss die gute Sache doch gelingen. Denn es besteht die Angst, dass Deutschlands 17 Datenschützer in Bund und Ländern die Digitalisierungsoffensive ausbremsen. Gemeinsam mit einer Öffentlichkeit, die die Herausgabe ihrer Gesundheitsdaten womöglich nicht als „Spende“ sieht, sondern als Nötigung.
Die nötige Datenfreigabe für die heilsame neue Welt verpackt Lauterbach als Spende fürs Gemeinwohl. So heißt es auch gleich zum Auftakt des GNG-Entwurfs: „Die Verarbeitung von Gesundheitsdaten sollte dabei stets dem Patienten- und dem Gemeinwohl dienen.“ Ganz ähnlich klingt es im DigiG-Entwurf: „Die digitale Transformation des Gesundheitswesens und der Pflege hat ein herausragendes Potenzial für eine effizientere, qualitativ hochwertige und patientenzentrierte gesundheitliche und pflegerische Versorgung.“
Man stelle sich zum Beispiel eine 14-Jährige vor, die schwanger ins Krankenhaus käme und bei der die Ärzte eine seltene Form des Brustkrebs entdecken. Die Erfahrung eines ganzen Medizinerlebens würde nicht ausreichen, um für ihren Krebs in gebotener Geschwindigkeit die passende Behandlung zu finden, so erzählt es Lauterbach. Einem mit Tausenden Daten operierenden Algorithmus könne es dagegen blitzschnell gelingen, ähnlich gelagerte Fälle zu finden – und womöglich mit ihnen die passende Medikation.
Eine Hoffnung für Krebskranke. Eine Horrorvorstellung für Eltern, falls so ein Fall aufgrund eines Leaks nach draußen dringt. 14 Jahre, schwanger, Brustkrebs – wer möchte seine Tochter mit diesem Schicksal der Öffentlichkeit aussetzen? Datenschützer, allen voran Deutschlands oberster Beauftragter Ulrich Kelber (SPD), operieren mit Angst machenden Bildern im Zusammenhang mit Gesundheitsdaten. Diese zwischen Apotheken, Praxen und Kliniken auszutauschen, könne so enden, wie seine Wohnung zu verlassen, ohne die Haustür abzuschließen, unkte Kelber kürzlich.
Die Ärzte und Wissenschaftlerinnen, die aktuell darüber diskutieren, wie man Patientendaten möglichst weltweit vergleichbar und sicher austauschen kann, ohne dass sie kommerziell genutzt würden, kennen solche Vorbehalte. Er rede immer wieder mit Datenschützern, ohne dass sich etwas bewege, machte etwa Titus Brinker im Publikum seinem Ärger Luft. Der Krebsforscher aus Heidelberg entwickelt digitale Hautkrebsscreening-Programme. Programme, mit deren Hilfe Menschen, die seltsame Flecken bemerken, aber keinen Dermatologen-Termin bekommen oder wenig Zeit haben, in einer Videosprechstunde rasch von ihrem bösen Verdacht erlösen werden können – oder rasch genug ihre Diagnose erhalten.
Deutschlands digitale Medizinforscher müssen sich derzeit mit Daten aus dem Ausland behelfen. Roland Elis, Gründungsdirektor des BIH-Zentrum Digitale Gesundheit an der Charité, lobte die „UK Biobank“. Seit 2006 hat diese britische Datenbank 500.000 Patientendaten gesammelt, die sie der Forschung zur Verfügung stellt. Elis' Team hat anhand ihrer Daten die Verläufe von 2000 Krankheiten analysiert, um Frühwarnzeichen zu entdecken. So kann die Forschung mit Patientendaten auch der Vorbeugung von Krankheiten dienen.
Als besondere Advokatin der Digitalisierung tat sich auf der Konferenz Alina Buyx hervor, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und Professorin an der TU München. Ausgerechnet Deutschlands oberste Medizinethikerin sagte Sätze – auf Englisch – wie: „Wir haben sehr, sehr, sehr gute Datenschützer in Deutschland.“ Das Problem sei: Sie machten ihre Arbeit „irgendwie zu gut“. Doch Buyx blieb mit ihrer sanften Kritik nicht bei den Datenschützern stehen. Die Medizinerin beschrieb eine Kultur der Gesundheitsdatenskepsis in Deutschland. Diese Kultur könne kein Gesetz ändern. Sie, die seit ihrem Studium vor 20 Jahren schon um die Möglichkeiten der elektronischen Patientenakte wisse, würde den Ängstlichen am liebsten zurufen: „Entspannt euch ein bisschen.“
Ohne eine optimistischere Haltung werde auch dieser Digitalisierungsversuch im Gesundheitswesen scheitern, prophezeite Buyx: „Egal, wie schön das Gesetz wird.“