Die SPD hat ihre Kandidatenfrage geklärt. Es hat lange gedauert, quälend lange. Am Abend versandte die Parteiführung eine Videobotschaft, in der Boris Pistorius erklärt, dass er für eine Spitzenkandidatur seiner Partei nicht zur Verfügung stehe. Man hat den Minister schon entspannter gesehen als in diesem Video. „Wir stehen jetzt gemeinsam in der Verantwortung, diese Debatte zu beenden, denn es geht um viel“, sagte er. Die Debatten der vergangenen Wochen hätten „für zunehmende Verunsicherung in der SPD und auch für Irritationen bei den Wählerinnen und Wählern gesorgt“. Am Abend fanden Telefonschalten mit Vorstand und Fraktion statt, um die Entscheidung zu erläutern.
Pistorius’ Rückzug waren am Donnerstag stundenlange Debatten im engsten Führungskreis der Partei vorausgegangen. Mehrere Spitzengenossen hatten auf das Risiko eines Wahlgangs mit dem amtierenden Kanzler hingewiesen. Aber Olaf Scholz selbst zeigte nach Informationen von Table.Briefings keinerlei Bereitschaft, seinen Anspruch in Frage stellen zu lassen. Auch die jüngsten Umfrageergebnisse beeindruckten ihn nicht: Im aktuellen ARD-Deutschlandtrend ist die SPD um zwei Prozentpunkte gefallen (14 Prozent), die Grünen, wieder gleichauf, haben um zwei Prozentpunkte zugelegt. Außerdem: Die Zufriedenheit mit Boris Pistorius ist noch einmal um sechs Punkte gestiegen (61 Prozent), die Popularität von Olaf Scholz weiter gefallen (20 Prozent).
So bleibt viel Skepsis. Noch am Abend stellten sich Genossen die Frage, warum Scholz und Pistorius nicht gemeinsam vor die Kamera getreten sind. Es hätte der Partei gutgetan. Denn beendet ist die Debatte mit Pistorius’ Rückzug nicht. Pistorius wird in der Gunst der Genossen durch den zwar späten, aber freiwilligen Rückzug noch einmal an Sympathiepunkten zulegen.
In der Fraktionssitzung erklärte Pistorius seinen Rückzug auch mit privaten Gründen. Vor zehn Jahren habe er seine damalige Ehefrau an Krebs verloren, „da denkt man schon daran, welchen Weg man einschlägt“. Parteichef Lars Klingbeil kündigte für Montag die offizielle Nominierung von Scholz als Kanzlerkandidaten an. Der Wahlkampf werde „kein einfacher Ritt“ werden. Gerade nach diesem mühevollen Vorlauf sei Geschlossenheit gefragt. Der Kanzler dankte Pistorius für eine „enge Zusammenarbeit” in den letzten Tagen und appellierte an die Geschlossenheit und Solidarität der Partei. Es sei unvermeidbar gewesen, die Koalition zu beenden. Fraktionschef Rolf Mützenich wiederum weiß, was die Parteiführung seinen Abgeordneten zugemutet hat und was nun nottut: „Die nächsten Tage müssen einfach besser werden.“ Eine Aussprache gab es zu der Entscheidung nicht.
In den sozialdemokratischen Chatgruppen explodierte am Abend der Nachrichtenverkehr. Superoptimisten zeigten Erleichterung („die richtige Entscheidung“). Vielfach wurde aber auch Entsetzen geteilt. „Mit Pistorius wäre die SPD auf 25 Prozent gekommen. Jetzt sind nach unten auch 10 Prozent möglich.“ Ein erfahrener Regierungsgenosse sagte Table.Briefings: „Olaf wird alles einreißen, was auch Lars mit aufgebaut hat.“ Tatsächlich ist auch das Schicksal der Parteiführung, inklusive Generalsekretär, eng mit dieser Personalentscheidung verbunden. Wenn die SPD nicht mit einem achtbaren Ergebnis aus der Wahl hervorgeht, das heißt deutlich über 15 Prozent, dürften die Tage von Lars Klingbeil, Saskia Esken und Matthias Miersch in der Parteiführung gezählt sein. Das Ergebnis von Olaf Scholz ist jetzt auch ihr Ergebnis.
Sie hatten die Debatte mehrere Tage zu lange laufen gelassen. Der Konflikt drohte, die Partei zu zerreißen. Nach Franz Müntefering (für Pistorius) und Gerhard Schröder (für Scholz) hatte sich an diesem Donnerstag auch Kurt Beck in der ZEIT zu Wort gemeldet: „Denen, die nun alles maßlos und öffentlich kritisieren, sollte man, um es mit Martin Luther zu sagen, zurufen: ,Einfach mal das Maul halten!‘“
Es war ein gut gemeinter Appell von Pistorius am Ende seiner Videobotschaft: „Kämpfen wir gemeinsam und geschlossen für eine zweite Amtszeit unseres sozialdemokratischen Bundeskanzlers Olaf Scholz.“ Der Kanzler wird über sich hinauswachsen müssen, um alle Genossen für den gemeinsamen Kampf zu motivieren.