Analyse
Erscheinungsdatum: 26. März 2023

Deutschland, seine Gerichte und der drohende Vertrauensverlust

Bild: IMAGO / Sascha Ditscher

Regierung, Parlament, Gerichte – alle drei gehören in Deutschland zum demokratischen Rechtsstaat. Was aber passiert, wenn eine Säule wegbricht? Schaut man auf die Überlastungen an vielen Gerichten, dann droht genau das. Richter klagen über Massenverfahren und eine Klageindudstrie, am Ende stünden „Urteilsroboter“. Die Folgen können fatal sein: erst bröckelt die Glaubwürdigkeit, dann das Vertrauen.

Der Streik im Öffentlichen Dienst wird vielen Menschen weh tun. Am Montag werden in Deutschland zahlreiche Flüge, Züge, Busse, Bahnen und öffentliche Dienstleistungen wegen des größten Warnstreiks seit Jahrzehnten ausfallen. Für viele Passagiere bedeutet das Ärger und Verdruss, sie müssen lange warten oder verpassen ihre Verbindungen ganz. Doch der Ärger wird sich nicht auf die Fluggäste, die Zugfahrer oder die Pendler beschränken. Er schlägt, zeitversetzt, auf die Zivilgerichte durch. Diese arbeiten wegen immer mehr Massenverfahren – bei Flügen, im Dieselskandal, bei Beitragserhöhungen privater Krankenkassen oder wegen Darlehensverträgen – schon jetzt am Rande der Belastungsgrenze. Der Deutsche Richterbund warnt vor einem Burnout der Kolleginnen und Kollegen, einem folgenden Vertrauensverlust der Bürger und einer Gefährdung des Justizstandorts Deutschland.

Nach Angaben des Richterbundes stieg die Zahl der Flug- und Reiseklagen allein im Jahr 2022 um 40 Prozent auf mehr als 70 000 Fälle an, bei steigender Tendenz. Hierzu trägt bei, dass der Flugreiseverkehr nach der Corona-Krise wieder zunimmt, viele Dienstleister aber zu wenig Personal haben. Das schlägt sich dann in massenweise Schadensersatzklagen nieder. Ursächlich dafür sind auch Internet-Portale, auf denen Passagiere ihre Ansprüche geltend machen können. Anwaltskanzleien und Inkassodienstleister überhäufen die Gerichte mit „Fließbandklagen“, sagt Sven Rebehn, der Bundesgeschäftsführer des Richterbundes.

Solche Massenverfahren von geschädigten Verbrauchern setzen den Zivilrichterinnen und -richtern immer mehr zu. Der Richterbund verweist auf einen Brandbrief des Landgerichts Augsburg an den Vorsitzenden des Bezirksrichterrates vom Herbst 2021, der „bis heute nichts von seiner Dringlichkeit verloren hat“. Darin warnen neun Vorsitzende Richter und Richterinnen vor einer „veränderten und zugleich massiv zunehmenden Arbeitslast, die den Justizalltag prägt und die Justiz an den Rand ihrer Belastbarkeit bringt – und darüber hinaus“.

Eine „Klageindustrie“ aus spezialisierten Kanzleien und Inkassobüros führe dazu, dass Richter und Richterinnen Urteile am Fließband schreiben müssten. Die Landgerichte mutierten „zum reinen Durchlauferhitzer“ auf dem Weg zu den Oberlandesgerichten. Ziel der „Klageindustrie“ sei „die Generierung zahlreicher Gebühren“. Der Umgang mit der Klagemasse mache die RichterInnen zu „Urteilsrobotern“. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen seien „erschöpft, frustriert und fühlen sich alleingelassen“.

Der Richterbund sieht jetzt vor allem den Bund in der Pflicht. „In den Gerichten trifft es auf wenig Verständnis, dass die Bundesregierung bis heue noch keine konkreten Pläne vorgelegt hat, wie sie die Justiz in Massenverfahren entlasten kann“, kritisiert Rebehn.

Dabei beschäftigt den Gesetzgeber das Thema Massenverfahren schon lange. Anders als die USA kennt Deutschland keine class actions – Sammelklagen –, bei denen Mitglieder einer geschädigten Gruppe, zum Beispiel Autokäufer, pauschal von Urteilen profitieren, auch wenn sie selbst gar nicht mitgeklagt haben. Das deutsche Recht geht dagegen im Prinzip davon aus, dass jeder geschädigte Bürger seinen Anspruch individuell einklagen muss. Das erweist sich in Zeiten von Massengeschäften als zunehmend unpraktisch für Konsumenten, Produzenten und Gerichte. Sie werden mit einer Unzahl von Fällen konfrontiert, in denen der Sachverhalt ähnlich ist und die Rechtslage gleich. Daraus entsteht das Bedürfnis, diese Fälle zu bündeln.

Deutschland hat daher 2018 die Musterfeststellungsklage eingeführt. Sie ermöglicht es Verbraucherschutzverbänden, Sach- und Rechtsfragen, die für Schadensersatzansprüche wesentlich sind, grundsätzlich zu klären. Die Geschädigten können sich darauf berufen, müssen ihre Ansprüche jedoch weiterhin individuell einklagen. Die Regelung gilt vielen als ungenügend.

Da sich die Probleme in ganz Europa stellen, hat die EU 2020 eine Richtlinie „über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“ erlassen. Der Grundgedanke ist: Bestimmte anerkannte Verbände klagen im Namen einer Vielzahl von Geschädigten – zum Beispiel von Käufern von Diesel-Autos – gegen die Konzerne. Die Urteile oder Vergleiche wirken für alle Geschädigten, die das Verfahren für sich akzeptieren. Das kann Verbraucher, Hersteller und Gerichte entlasten und für mehr Rechtssicherheit sorgen.

Die EU-Staaten müssen die Richtlinie so umsetzen, dass die Gesetze spätestens am 25. Juni dieses Jahres in Kraft treten. Da sich Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Bundesverbraucherschutzministern Steffi Lemke (Grüne) jedoch inhaltlich noch nicht einig sind, ist Deutschland in Verzug. In der Not hat das Justizministerium jetzt einen Referentenentwurf veröffentlicht. Dazu haben etliche Interessenverbände (Richter, Industrie, Verbraucherschützer) Stellung genommen. Die Vorstellungen gehen weit auseinander.

Der Grundkonflikt ist folgender: Die Verbraucher möchten in einem Streitfall möglichst lange flexibel bleiben, ob sie sich einer Verbandsklage anschließen oder auf eigene Faust klagen. Die Gerichte, und oft auch die Unternehmen, möchten das im Sinne der Prozessökonomie möglichst früh geklärt wissen. Die Anwälte argumentieren unterschiedlich, je nachdem, welche Seite sie vertreten. Doch wie gesagt – am 25. Juni muss das neue Gesetz in Kraft sein.

Selbst falls das gelingt: Für die Richter ist auch dann längst nicht alles gut. „Die Welle von Massenverfahren ist mit der geplanten Verbandsklage ohnehin nicht zu brechen“, sagt Rebehn vom Richterbund. Viele Klägerinnen und Kläger würden sich, unterstützt von Rechtsschutzversicherungen und Spezialkanzleien, auch künftig mehr von individuellen Klagen erhoffen als von Verbandsklagen. Unabhängig von der neuen Verbandsklage müsse das Prozessrecht deutlich reformiert werden, um die Gerichte zu entlasten.

Die Richterinnen und Richter haben zahlreiche Reformvorschläge zusammengetragen, um Massenverfahren bewältigen zu können. Zentral geht es um drei Punkte. Erstens: Die Gerichte sollen die Möglichkeit bekommen, Prozesse auszusetzen und die entscheidenden Rechtsfragen vorab von einem Revisionsgericht klären zu lassen. Dann müssten diese Fragen nicht in jedem Einzelfall wieder in jeder Instanz erörtert werden. Zweitens: Den Anwälten und Anwältinnen sollen klare Vorgaben gemacht werden, wie, in welchem Umfang und spätestens wann sie ihre Argumente vorbringen können. Die Gerichte klagen, die Kanzleien würden sie mit aufgeblähten und uferlosen Schriftsätzen zumüllen, die oft kaum Bezug zum Streitfall hätten. Drittens: Die Gerichte bräuchten mehr Personal und eine bessere digitale Ausstattung, künstliche Intelligenz inklusive.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich die Forderungen der Richter in einem Antrag unter dem Titel „Kollaps der Ziviljustiz verhindern“ in weiten Teilen zu eigen gemacht. Vertreter der Anwälte und der Konsumentinnen reagieren dagegen kritisch. Sie halten schon den Ausdruck „Klageindustrie“ für polemisch und warnen davor, die Rechte der Bürger zu beschränken, um die Justiz zu entlasten. Auch so gehe Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.

Derweil kommt auf die Gerichte eine weitere Prozesslawine zu. Diese Woche hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Rechte von Verbrauchern im Dieselskandal gestärkt. „Auf Dieselfälle spezialisierte Anwaltskanzleien werben bereits offensiv um neue Mandate, so dass die Fallzahlen vieler Gerichte weiter deutlich steigen dürften“, prophezeit der Deutsche Anwaltsverein.

Die Rechtsanwälte Marcus P. Lerch und Christina Valdini räumen in einem jetzt in der Neuen Juristischen Wochenschrift erschienen Aufsatz ein: „Deutschland ist Massenklagenland.“ Der Druck auf die Justiz werde weiter zunehmen. Lerch und Valdini hoffen daher vor allem auf den digitalen Fortschritt, damit „Deutschland als Justizstandort im internationalen Umfeld attraktiv bleibt“. Darüber wollen der Bund und die Länder am Donnerstag auf einem Digitalgipfel beraten. Noch liegen die Vorstellungen darüber, wieviel Geld der Bund den Ländern dafür geben soll, weit auseinander.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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