SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kennt seine Truppe gut. Und er ahnte wohl, was kommen würde. Deshalb schlug er gleich zu Beginn der Videokonferenz vor, „unsere Fraktionsklausur am Donnerstag zu nutzen, offen über alles zu reden“. Auch Kanzler Olaf Scholz werde dazu stoßen.
Es war Montagnachmittag, der Tag der bundesweiten Bauernproteste, und das erste Aufeinandertreffen der SPD-Bundestagsabgeordneten im neuen Jahr. Der formale Anlass: die Einbringung des Haushaltsentwurfs 2024, auf den sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner nach zähem Ringen kurz vor Weihnachten geeinigt hatten. Kaum lag der Entwurf auf dem Tisch, hagelte es Korrekturforderungen. An vorderster Front: die Bauern, die sich besonders geschurigelt fühlten. Um das Verfahren zu beschleunigen, bringt nicht die Regierung den Entwurf ein, das übernehmen dieses Mal die Fraktionen. Deshalb die Sondersitzung der SPD-Fraktion.
Mützenich, mit seiner Fraktionsspitze in Brüssel, spürte die Stimmung unter seinen Leuten. Und die ist miserabel. Es rumort in der SPD. Die schlechten Umfragen (noch nie erhielt ein Kanzler so schlechte Werte), die Verdrossenheit in den Wahlkreisen, der missglückte Start ins neue Jahr, die flächendeckenden Proteste von Bauern, Spediteuren und weiteren Berufsgruppen – viele fühlen sich an die Gelbwestenproteste in Frankreich 2018 und 2019 erinnert. An jenen kollektiven Widerstand, vor dem Olaf Scholz selbst intern häufig gewarnt hatte. Dazu passt der Widerstand der drei SPD-Ministerpräsidenten. Dietmar Woidke, Stephan Weil und Manuela Schwesig haben sich inzwischen offen gegen die Subventionskürzung für die Landwirte ausgesprochen.
Es ist nicht zu übersehen: Von der Basis bis hinauf in die Parteispitze wachsen die Zweifel der Genossen an ihrem Kanzler. Und das ist nicht alles. Auch bei beiden Ampelpartnern hat sich längst Frust breit gemacht. Bei den Grünen sowieso, die es aus eigener Sicht zwei Jahre ertragen mussten, dass der Kanzler mehr Verständnis (und Unterstützung) für die FDP aufbrachte als für den vermeintlich natürlichen Partner. Immer stärker hat sich in der Führungsspitze und bei den Kabinettsmitgliedern der Grünen das Gefühl breit gemacht, dass der Kanzler freundlich und verbindlich sein mag. Aber erstens lässt er sich selten in die Karten schauen und hat zweitens nichts von einem leidenschaftlichen Fußballtrainer, der die Truppe – in diesem Fall die Ampel insgesamt – aufmuntert und zusammenhält, auch wenn's regnet, weh tut und das Team zurückliegt.
Nun sind Politiker das eine und die Gesellschaft ist etwas ganz anderes. Aber wer sich die Kundgebungen dieser Tage ansieht, kann nicht selten beobachten, dass die Bauern, die friedlich demonstrieren (und das sind die allermeisten) vielerorts von Passanten winkend und hupend unterstützt werden. Das heißt: Der Frust darüber, dass Berlin und dort vor allem der Kanzler so unnahbar und unverständlich erscheinen, hat sich ausgebreitet.
Nun könnte man an der Stelle darauf verzichten, auch noch die Stimmung beim Oppositionsführer Friedrich Merz zu erwähnen. Aber auch er hat es mittlerweile aufgegeben, noch Versuche zum Gespräch zu unternehmen. Nun mag sein, dass diese auch bei Merz nicht nur aus philanthropischen Bedürfnissen heraus initiiert werden. Aber seine Kritik, dass der Kanzler selbst beim hochheiklen und immer schwierigeren Thema Ukraine nicht regelmäßig zum Gespräch bittet, ist weder falsch noch unberechtigt. Wer sich daran erinnert, wie Helmut Schmidt ebendas in Zeiten des Deutschen Herbstes immer und immer wieder getan hat, ahnt, was da heute an Gemeinsamkeiten auf der Strecke bleibt.
Dass Merz dem Kanzler inzwischen die Fähigkeit abspricht, sich noch einmal zu erholen, kann wenig überraschen. Aber auch in der SPD traut ihm kaum noch jemand zu, die historisch schlechten Werte noch einmal zu drehen. Jedenfalls, wenn sich in Gestus und Kommunikation nichts ändert. Nach außen blieb es ruhig, doch es wurde rund um den Jahreswechsel viel telefoniert in den Führungskreisen der Partei. Optimismus wollte nirgendwo wirklich aufkommen, wohl wissend, dass die zweite Januarwoche wenig Erfreuliches bereit halten würde.
Dabei steht gar nicht so sehr im Mittelpunkt, was in normalen Zeiten für Aufregung sorgen würde. Dass etwa schon beim Industriestrompreis die Fraktion eine andere Linie verfolgte als das Kanzleramt. Oder dass nicht alle SPD-Bundestagsabgeordnete dem Haushalt zustimmen werden, wie sie am Montag angekündigt haben. Oder dass große Teile der Partei und auch der Fraktion die Schuldenbremse entschiedener und schneller aufweichen wollen als Olaf Scholz. Das war schon der Tenor beim Parteitag im Dezember. Derlei Differenzen werden registriert und möglichst sachlich zwischen Partei, Fraktion und Kanzleramt abgearbeitet. Hauptsache, die Mehrheit im Bundestag steht.
Die qualitative Änderung lässt sich an anderer Stelle beobachten. Denn während öffentlich noch immer Themen wie Migration, Schuldenbremse und Europa die Debatte prägen, kreist sie intern zunehmend und in immer engeren Bahnen um Olaf Scholz selbst. „Die Partei und Fraktion auf Solidarität einzuschwören, wird nicht mehr reichen“, sagt ein Führungsmann der Partei.
Lange ging der Kanzler davon aus, befeuert durch den unerwartet erfolgreichen Schlussspurt im Wahlkampf 2021, dass seine Art, Politik zu betreiben, nämlich bedächtig, zurückhaltend und ohne gewollt inszenierte Auftritte, am Ende Früchte tragen werde. Schließlich, so Scholz’ Selbstanalyse, habe auch Angela Merkel 16 Jahre lang so regiert. Bekanntlich mit einigem Erfolg. Deshalb blieb er in der Ukraine-Debatte lange zurückhaltend, mit den Waffenlieferungen genauso wie mit öffentlichen Einlassungen. Deshalb verzichtete er auch auf Ampel-Machtworte und Ich-bin-der-Chef-Gesten. Und aus dem gleichen Grund dauerte es zuletzt auch lange, bis er sich ins Hochwassergebiet begab.
Doch die Zeiten haben sich radikal geändert. Kriege, Energiekrisen, das drängende Klimaproblem, die kaum lösbare Migrationsfrage, ein weiter erodierendes Parteiensystem und ein massiver Vertrauensverlust in die politischen Akteure – mit Beschwörungsformeln á la Merkels „Sie kennen mich“ ist es nicht mehr getan. Unsicherheiten haben sich tief in die Gesellschaft hineingefräst. Die Meinungsforscher registrieren bis in materiell abgesicherte Milieus hinein Irritationen und Existenzängste. Unsicherheiten, die natürlich auch bei den Abgeordneten der Regierungsparteien ankommen.
Die Irritationen sind deshalb grundsätzlicher geworden. Und sie konzentrieren sich mehr denn je auf Kommunikation und Außendarstellung des Regierungschefs. „Der Kanzler muss ein Angebot machen, dass er sich um 180 Grad ändert“, sagt ein einflussreicher Abgeordneter. „So kann es nicht weiter gehen.“ Die Abgeordneten erwarten, und so sehen es viele in der SPD, nicht nur neue Antworten, sondern auch neue Formen der Ansprache und des Auftritts. Dynamischere, empathischere, perspektivischere Antworten, als sie der Kanzler in den letzten zwei Jahren geboten hat. Und mit einiger Wahrscheinlichkeit hat auch Fraktionschef Mützenich Olaf Scholz gemeint, als er in der vergangenen Woche im Interview mit Table.Media diejenigen Genossen zu einer besseren Kommunikation angemahnt hat, die „eine gewisse Reichweite haben, wenn sie kommunizieren“.
Nach der Haushaltseinigung Mitte Dezember zwischen Scholz, Habeck und Lindner war die Selbstdarstellung der Regierung in der Öffentlichkeit, vorsichtig formuliert, suboptimal. Keiner kannte Details, niemand aus den Parteispitzen war verlässlich sprechfähig, ja, selbst Minister waren überrascht, und zu allem Überfluss distanzierten sich der grüne Agrarminister und mehrere Liberale gleich wieder von dem gerade mühevoll erarbeiteten Konsens. Und Scholz selbst? Erklärte sich und die Einigung einmal 15 Minuten lang in trockenen Sätzen in „Farbe bekennen“. Reicht das?
„Vertraut mir“, hat der Kanzler seinen Genossen immer wieder zugerufen. „Ich habe einen Plan, ihr könnt euch auf mich verlassen.“ Über zwei Jahre haben sie ihm und seinen Plänen Vertrauen geschenkt, zuletzt beim Parteitag Anfang Dezember, als sie ihm für eine nicht wegweisende, aber durchaus sozialdemokratische Rede minutenlang Beifall zollten. Doch ein gelungener Parteitagsauftritt ersetzt keine Kommunikation in die Gesellschaft hinein und ist auch kein Ausweis für gelungene Regierungsführung. Sowohl Stimmungs- als auch Umfragewerte weisen seither eher nach unten als aufwärts.
In diese Stimmungslage hinein versammelt sich die Fraktion nun am Donnerstag zur Jahresauftaktsklausur. Zwei Aspekte zeichnen sich ab: Sie ist streitbereit – etwa beim Thema Schuldenbremse. „Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sind unabdingbar“, heißt es in einem Klausurpapier. Und: „Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist nicht mehr zeitgemäß.“ Auch wenn der Befund eine harte Auseinandersetzung mit der FDP nach sich ziehen wird. Für die SPD-Fraktion „braucht es einen starken Staat“, weshalb sie „eine moderne, zukunftsorientierte Haushaltsführung im Grundgesetz verankern“ will.
Und sie wird ihren Kanzler herausfordern. „Interne Beratung“ heißt es zurückhaltend in der Einladung. Wobei die Fraktionsmitarbeiter nicht teilnehmen sollen. Erfahrene Abgeordnete erwarten deshalb eher eine offene Aussprache, wobei dem Kanzler einiges an Kritik zuteil werden wird.
Ob das Kropfleeren reicht? Wohl kaum. „Wir verlangen von der ganzen Welt, dass sie sich ändert, dass sie umsteuert, dass sie die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung einsieht“, sagt ein erfahrener Abgeordneter. Und lässt dann die rhetorische Frage fallen: „Nur der oberste Chef bleibt sich treu und macht einfach weiter wie immer….?“
Scholz hat, unausgesprochen und ausgesprochen, viel von Angela Merkel abgeschaut. Dabei könnte ihm verborgen geblieben sein, dass die Altkanzlerin eine Schwäche hatte, die auch er jetzt offenbart: Merkel war in ihrer Partei bekannt dafür, dass sie nichts davon verstand, wie Mannschaftssport funktioniert. Nicht technisch, sondern emotional. Sie blieb auch in Momenten kühl bis kalt, als die ganze Truppe nach Teamgeist, Temperament und Leidenschaft verlangte. Der Merkel-Nachahmer Scholz (der joggt und rudert) ist auf dem besten Weg, ihr auch an dieser Stelle zu folgen. Mit ungewissem Ausgang.