Es ist nicht lange her, da musste ein erfahrener FDP-Bundestagsabgeordneter an einer Straßenecke in Hannover erleben, wie schwer es werden kann als Wahlkämpfer für die Liberalen. Wenige Tage vor der Abstimmung in Niedersachsen Anfang Oktober stand er an einer Kreuzung und machte Wahlkampf. Zunächst kam er mit einem Mann ins Gespräch, der beklagte, dass die FDP in der Berliner Ampel zu wenig Kontur habe. „Sie machen ja alles mit“, schimpfte der Mann, „ich kann Sie nicht mehr wählen.“ Keine halbe Stunde später stand an der gleichen Kreuzung ein zweiter Mann, der das Gegenteil behauptete. „Sie blockieren in Berlin alles, deshalb kriegen Sie meine Stimme nicht mehr.“
Auch wenn das nur ein kurzer Ausschnitt ist – wie unter einem Brennglas zeigt die Episode, was das politische Leben für die FDP so kompliziert macht. Es gibt mindestens zwei Anforderungen gleichzeitig. Und die können sich gegenseitig ausschließen. Wenige Tage später passierte, was der Wahlkämpfer längst ahnte: Seine Partei flog aus dem Landtag. Seinen Namen möchte der Parlamentarier nicht öffentlich zitiert sehen. Zu groß ist seine Angst, dass die kleine Erzählung als Kritik an der Parteiführung interpretiert werden könnte. Als hochrangiges Mitglied der Bundestagsfraktion will er eines auf keinen Fall: eine neue Debatte über seine Partei anstoßen.
Und doch zeigt der Vorgang, mit welchem fast unlösbaren Spagat es die FDP in Regierungszeiten zu tun hat. Und es erklärt, warum die Liberalen nach einem Jahr in der Ampel ganz besonders um öffentliche Anerkennung (und bessere Umfragewerte) kämpfen müssen. Auf den ersten Blick kann es deshalb kaum überraschen, dass Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner zwischen den Jahren mit der Ankündigung an die Medien ging, neben der außenpolitischen Zeitenwende werde er für eine Zeitenwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen. Ähnliches hatte er im vergangenen Mai schon einmal angekündigt.
Lindner möchte der FDP Zustimmung sichern, gerade bei den besonders kritischen Mittelständlern und Unternehmern im Land, die sich von der FDP alles, aber nicht die Zustimmung zu gigantischen Stützungspaketen erwartet hatten. Den Parteichef befeuert die Hoffnung, dass sein Vorstoß eine Wende einleiten kann. Ob das realistisch ist? Ein Blick auf die Wahlergebnisse und Umfragen der letzten 15 Jahre trägt nicht unbedingt zur Zuversicht bei.
Die Zahlen weisen aus, dass Jahre der Großen Koalition Stützungsprogramme für die FDP sind; die Wahlergebnisse 2009, 2017 und 2021 belegen das deutlich. Aber sie zeigen auch, wie tief die Einbrüche bei Wählern und Anhängern der FDP werden können, wenn aus der Oppositions- eine Regierungspartei geworden ist.
So erinnert das, was sich in den letzten 13 Monaten ereignet hat, an die Phase, die schon 2010 und 2011 Guido Westerwelle überrollte. Der Erfolg 2009 war noch größer, entsprechend war der Absturz damals noch heftiger. Aber im Kern geht es heute um den gleichen Mechanismus: Eine selbstbewusste Wahlkampf-FDP musste plötzlich realisieren, dass sie in ihrer Rolle als Regierungs-FDP wegen komplett veränderter Realitäten vielfach nur noch reagieren und fast gar nicht mehr agieren konnte. Das Ergebnis: Die liberalen Pragmatiker sind noch an Bord, wenn auch ächzend; viele anspruchsvolle Anhänger einer reineren Lehre sind dagegen abgesprungen.
Wieder muss die Parteiführung erleben, dass die Wählerinnen und Wähler der FDP nicht nur zwei unterschiedlichen Flügeln angehören, wie das bei SPD, Union und Grünen auch der Fall ist. Sie hat zwei Wählerschaften, die nahezu konträr zueinander stehen, wenn die FDP als Teil einer Koalition mit harten Realitäten konfrontiert ist. Nur in der Opposition kann sie beide Gruppen gleichzeitig mobilisieren: weltoffene, an einer politischen Liberalität interessierte Sympathisanten, die einst für einen Gerhart Baum oder eine Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihre Stimme gaben – und Anhänger eines scharfen wirtschaftsliberalen Kurses, für die, gespeist aus einem mächtigen ökonomischen Selbstbewusstsein, die Berliner Politik zu langsam ist, zu viele Auflagen erlässt, überhaupt zu unentschieden und zu schlecht agiert. Beide Gruppen sind sich weitgehend einig, solange es um Versprechen geht; sie haben aber ein grundsätzlich anderes Verständnis davon, wie man sich in einer Koalition verhält.
Nun wäre das alleine schon eine für jede Parteiführung auf Dauer kaum zu lösende Aufgabe. Bei der FDP aber kommt seit 2009 noch etwas dazu: eine verwundete Seele. Eine, die von der Parteispitze abwärts alle Beteiligten nicht souveräner macht, sondern sie als politisches Trauma begleitet. Diese Geschichte begann nicht mit dem Absturz 2013. Im kollektiven Gedächtnis der Liberalen begann es schon am Wahlabend 2009 - und den Sondierungen, die sich nach der Wahl anschlossen.
Nach dem Triumph mit 14,6 Prozent der Stimmen geschah etwas, was die FDP nicht für möglich gehalten hatte. „Unser vermeintlich natürlicher Verbündeter, die Union, stemmte sich vom ersten Tag der Sondierungen an gegen das Gefühl, dass wir gleichberechtigt und als Partner einen gemeinsamen Weg gehen“, erzählt ein erfahrener Liberaler, der in all den Jahren dabei war und heute an zentraler Stelle mitregiert. Deutlichstes, aber nicht alleiniges Zeichen: Von der ersten Sekunde an verhinderte die CDU damals zwei Dinge, die der FDP als Versprechen im Wahlkampf zum großen Erfolg verholfen hatten: Steuersenkungen und die Aussicht, dass ein Liberaler künftig das Finanzministerium führen würde. Als besondere Provokation blieb vielen Liberalen in Erinnerung, dass die CDU-Seite in den ersten Gesprächen erklärt hatte, Zahlen über die Lage im Haushalt könne man der FDP noch nicht geben – es seien ja noch Sondierungen. Und unvergessen bleibt ihr ein Satz des damaligen CDU-Fraktionschefs Volker Kauder, man werde sich jede einzelne Stimme von der FDP zurückholen.
Nun wird im Rückblick manches in den Reihen der FDP verschärft oder verklärt. Und bei allen Steuersenkungsplänen der Partei sollte nicht vergessen werden, dass seinerzeit die Weltfinanzkrise alle schönen Ideen überragte. Am Schmerz der FDP, der bis tief sitzt, ändert das aber wenig, wenn man sich in der Partei umhört. Zumal am Ende dieser Kooperation der Absturz ins Bodenlose stand – erst unter die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013 und dann mit Umfragewerten, die ein Jahr später kaum mehr messbar waren.
Nur wer sich das bewusst macht, ahnt, mit welcher Vorsicht und mit welchen Unsicherheiten die neue FDP unter Christian Lindner 2017 in die Jamaikagespräche ging – und warum sie diese am Ende abbrach. Das hatte natürlich mit der Angst vor Überforderung und einem erneuten Scheitern zu tun. Aber im Kern, so erzählt es ein zweiter, überaus erfahrener Liberaler, ging es um eine Frage: „Ob die Kanzlerin mit der FDP dieses Mal auf Augenhöhe verhandeln würde. Ob sie uns und unsere Bedürfnisse also absolut ernst nehmen würde.“ Exakt dieses Gefühl hatten die Verhandler der FDP nach wenigen Wochen nicht mehr, heißt es heute bei den meisten, die auf FDP-Seite dabei waren. Als geflügeltes Wort gilt in diesem Zusammenhang das der damaligen Kanzlerin Merkel zugeordnete Zitat, Herr Lindner könne ja eine Kleine Anfrage im Parlament stellen, wenn er die Haushaltszahlen für die Verhandlungen haben wolle.
Ob der Satz tatsächlich so fiel, lässt sich nicht mehr überprüfen. Aber sicher ist: Offenkundig haben Kanzler Olaf Scholz und Vizekanzler Robert Habeck viel Mühe aufgebracht, um die FDP und Christian Lindner dieses Mal für die Ampel zu gewinnen. Und das, so heißt es aus der FDP-Spitze, ist der wohl größte Unterschied zu jener Legislaturperiode, an deren Ende 2013 die FDP nicht mehr auf die Beine kam. Hoffnung also bleibt aus Sicht der Liberalen, auch wenn sie nicht sonderlich groß ist.