Analyse
Erscheinungsdatum: 26. Juni 2023

Der AfD-Sieg von Sonneberg: Ausrutscher oder Trend?

25.06.2023, Thüringen, Sonneberg: Björn Höcke, Vorsitzender der AfD Thüringen (l) und Tino Chrupalla, AfD-Bundesvorsitzender (r) gratulieren im Garten des Restaurants Frankenbaude dem Wahlsieger des Thüringer Kreis Sonneberg, Robert Sesselmann (AfD,M). Der ehemalige Landrat Hans-Peter Schmitz (parteilos) war aufgrund einer langwierigen Erkrankung in den Ruhestand versetzt worden. Der AfD-Abgeordnete Robert Sesselmann hatte in der ersten Runde die meisten Stimmen erhalten. Er wäre der erste AfD-Landrat in Deutschland. In der Stichwahl tritt er gegen Jürgen Köpper (CDU) an. Foto: Martin Schutt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die AfD zieht aus dem Sieg in Sonneberg historisches Selbstbewusstsein. Auf großer wie regionaler Ebene können die anderen Parteien lernen. Viele Faktoren führten zu dem Ergebnis. Die Erklärung, dass der Wahlkampf mit Bundesthemen der Partei zum Sieg verholfen hat, greift zu kurz. Eine Analyse.

Der AfD ist zehn Jahre nach Parteigründung erstmals gelungen, einen Chefposten in der Politik zu erobern. Knapp 57.000 Menschen leben im südthüringenschen Landkreis Sonneberg, den Robert Sesselmann künftig regiert. Die AfD schöpft historisches Selbstbewusstsein daraus.

Von einem „politischen Erdbeben im Osten“ sprach der rechtsextreme AfD-Landeschef Björn Höcke, „auf dem Weg zur Volkspartei“ wähnte sich und seine Gesinnungsgenossen Wahlsieger Robert Sesselmann. Und ganz Mutige träumen bereits von 30 Prozent Wählerstimmen im Bund.

Im demokratischen Berlin mäanderte die Stimmung zwischen Betroffenheit und Entsetzen über das Ergebnis. Der AfD-Wahlsieg ist das eine, die hohe Wahlbeteiligung das andere. Dass vor allem Nichtwähler der AfD in den Sattel verhelfen würden, ist mit dem Sonneberg-Ergebnis als Argument hinfällig. Dem Moment der Erschütterung folgten nur Stunden später doch wieder die gleichen Rituale. Das Erörtern der Frage nämlich, wer überhaupt Schuld trägt am Erstarken der Rechtsnationalen.

Es sind jene Rituale, die die AfD nicht zuletzt stark gemacht haben. So beschuldigte der CDU-Generalsekretär Mario Czaja die Ampelregierung, sie spalte das Land und habe zu viele Themen und Vorschläge im Angebot, die im Land nicht auf Konsens gestoßen seien. Friedrich Merz schiebt eine Kampfansage an die Grünen nach. Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken räumt Versäumnisse und auch ihrer Partei eine Teilschuld ein – um dann gleich wieder in Richtung Union auszuteilen: Die müsse doch endlich einsehen, wer im rechtspopulistischen Kulturkampf letztlich siege. Die Vorsitzende der CDU Sonneberg wiederum sieht eine Mitschuld bei der Bundesspitze ihrer Partei.

Was alle demokratischen Parteien einte, ist die Frage: Wie sollen sie künftig umgehen mit einer Extrem-Partei, die womöglich Landräte und Bürgermeister stellt oder sich gar zur stärksten Fraktion in Landtagen aufschwingt? Weiter die Zusammenarbeit verweigern? In ganz ausgewählten Fällen kooperieren? Was hat die Strategie des Ausgrenzens in Sonneberg gebracht? Und hat die große Allianz der Demokraten in Thüringen womöglich vor allem den Trotz der Wählerinnen und Wähler beflügelt und so Sesselmann erst ins Landratsamt befördert? Und schließlich: Was heißt das alles für die drei Landtagswahlen im kommenden Jahr im Osten?

Das Ergebnis sei Alarmsignal, Denkzettel und Warnung nach Erfurt, Berlin und Brüssel zugleich, sagt Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer Table.Media. Es bilde die Stimmung nicht nur in Sonneberg ab. „Die Motive sind Wut, Frust, Enttäuschung und Angst vor neuen Umbrüchen, aber auch teilweise ein positiver Resonanzboden für völkisch-nationalistische Politik und Rechtsextremismus.“ Von allen Seiten sei das eigene Leben gefühlten Bedrohungen ausgesetzt: „Es fühlt sich zunehmend fremdbestimmt an durch die vielen Krisen bis hin zur digitalen Transformation und zum Klimawandel“, sagt Kramer. „Und dann kommt eine Bundesregierung und mischt sich in den Privatbereich ein“ – den Heizkeller.

Bedauerlich sei, „dass gerade Thüringen mit dieser Wahl Schlagzeilen macht.“ Angesichts der Radikalisierungshistorie der AfD in Thüringen allerdings auch nicht wirklich überraschend.

Die Politologin Ursula Münch aus Tutzing bei München diagnostiziert, dass die ohnehin vorhandene Verunsicherung vieler Menschen in Folge mehrerer Krisen in ostdeutschen Bundesländern stärker ausgeprägt sei als im Westen. „Man hat viele Umbrüche erlebt, hat andere Erwartungen an die Regierung: starkes Durchregieren, eine starke Hand“, sagt Münch. Ein Bedürfnis nach Autoritäten. Die AfD wisse zudem, wie sie Krisen, Emotionen weiter schüre und von ihnen profitiere, indem sie Sündenböcke definiere.

Sesselmanns Erfolg erstaunt in einem Bundesland, dessen AfD-Chef schon zu den radikalsten Parteigrößen gehörte, bevor Andreas Kalbitz in Brandenburg und André Poggenburg in Sachsen-Anhalt ihre Posten räumen mussten; der den Fallstricken manch früherer Parteivorsitzender immer wieder entgehen konnte, so eng seine Kontakte ins tief rechtsextreme Milieu auch sind: Der rechtsextreme Vordenker Götz Kubitschek gilt ebenso als enger Vertrauter von Björn Höcke wie der frühere NPD-Thüringen-Chef Thorsten Heise, auf der Pegida-Bühne in Dresden ist Höcke ein so bejubelter wie regelmäßiger Gast. Gleichzeitig gibt es keinen Landeschef, der so populär, so bekannt und beliebt ist wie Höcke. Die jetzige Partei-Führung im Bund versucht gar nicht erst, den früheren Westfalen loszuwerden – im Gegenteil. Alice Weidel schloss seine Kanzlerkandidatur vergangene Woche nicht aus.

Die Frage, wie sie die AfD verhindern können, stellt sich den anderen Parteien seit Jahren; in Ost- noch mehr als in Westdeutschland. Nach der Bundestagswahl 2021, dem Abgang von Ex-Chef Jörg Meuthen und der Einordnung des Verfassungsschutzes als in Teilen rechtsextrem wähnten viele die Partei auf dem Weg gen Bedeutungslosigkeit. Seit einigen Monaten ändert sich die Richtung, die Umfrageergebnisse auf Bundesebene wachsen, die Verunsicherung bei den anderen auch.

Die Uneinigkeit der Berliner Parteien dürfte zum Erfolg der AfD beigetragen haben. Auch Wahlen in den Jahren 2020, 2021 und 2022 fanden unter schwierigen bundes- und europapolitischen Vorzeichen statt. Die Pandemie, das Klima, Russlands Krieg gegen die Ukraine. Aber die Politik hat sich auf Bundesebene konsensorientierter gezeigt. Auch bei einer Reihe von Landratswahlen 2022 warb die AfD mit kontrovers diskutierten Themen, mit denen ein Landrat wenig zu tun hat: der Krieg gegen die Ukraine, Sanktionen gegen Russland, Corona-Maßnahmen – die Themen verfingen am Ende nicht; zumindest nicht genug.

Jetzt ist die Lage anders. Die Ampel reibt sich an kleineren und größeren Themen auf; Friedrich Merz stellt öffentlich aus, was potenzielle Unions-Anhänger schon 2021 abstraften: Streit über die nächste Kanzlerkandidatur und der Versuch, mit AfD-Themen zu punkten.

Die Politologin Münch geht davon aus, dass die Anhäufung der Krisen durchaus zum Erfolg der AfD beigetragen hat. Aber nicht nur. Auch die Uneinigkeit der Koalitionäre schüre Frust. „ Wir als Wählerinnen und Wähler haben die drei Ampelparteien zusammengebracht, die keine so hohe Kohärenz haben im Vergleich zur Opposition.“ Eine FDP fühle sich der Union ungleich näher als den eigenen Koalitionspartnern. Politisches Versagen sei das erstmal nicht, und doch: „ Wenn wir Alt-Parteien-Bündnisse haben, fühlen die Leute in ostdeutschen Bundesländern sich an Zeiten der Blockparteien erinnert.“

Union und die Freien Wähler in Bayern hätten in dieser Lage zugleich Stimmung gemacht, „ ohne substantielle sachpolitische Argumente entgegenzusetzen“. Dass „seriöse Parteien die Stimmung mit schüren“, bezeichnet Münch als „Geschenk an die AfD “. Kritik an der Ampel sei legitim, Wettbewerb gehöre zur Parteienpolitik. „ Aber es gibt einen Unterschied zwischen sachlicher Kritik und dem Schüren von Stimmung.

Die AfD begegne komplexen Mehrheitsverhältnissen damit, dass sie die Welt sehr einfach erkläre, „und die seriösen Parteien betten das stimmungsmäßig ein. Das ist ein wunderbares Geschäftsmodell. Da muss man nur noch abräumen.“ An dem Vorwurf der Grünen, die CDU würde die AfD „entschmuddeln“, sei einiges dran. „Aber die Aufgabe, die AfD zu verhindern, liegt nicht nur bei der CDU“, so Münch. Auf dem Präsentierteller habe die Regierung mit ihrem Heizungsgesetz und der Causa Graichen die Botschaft vermittelt, sich nicht „für uns kleine Leute, sondern nur für die eigene Blase, die Elite“ zu interessieren. „Da müssen die Grünen sich ganz schnell an die Nase fassen, bevor sie die Schuld der CDU geben.

Ein Mittel, das oft half, war ein starker Gegenkandidat zur AfD. „Eine ganz große Rolle spielen vertrauensvolle, redliche Persönlichkeiten“, sagt Ursula Münch. Im Kreis Görlitz wäre bei der Landratswahl 2022 mehr als denkbar gewesen, dass die AfD gewinnt. Immerhin hat dort selbst Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer 2017 sein Bundestagsdirektmandat verloren – an Tino Chrupalla, inzwischen AfD-Bundeschef. Doch für die CDU trat Stephan Meyer an, gab trotz Prophezeiungen einer steilen landespolitischen Karriere seinen Posten als Parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion ab, führte atemlos Wahlkampf, ließ sich bei jedem noch so kleinen Verein blicken. Er gewann.

Im für die AfD aussichtsreichen Landkreis Mittelsachsen punktet der parteilose Dirk Neubauer seit Jahren mit deutlicher Kritik an seiner früheren Partei, der SPD und der Bundesregierung an sich. Sein Buch „Rettet die Demokratie“ landete auf der Spiegel-Bestsellerliste. Auch er setzte sich durch, wurde 2022 Landrat.

Der CDU-Kandidat in Sonneberg, Jürgen Köpper, verkündete am Sonntagabend resigniert, dass es nicht um die Person gegangen sei. Als blass und nicht besonders bekannt galt sein AfD-Gegner in der Tat. Doch Köppers Strahlkraft genügte wohl selbst nicht aus, um viel entgegenzusetzen. Als früherer Landrats-Vize und einigen Monaten als kommissarischer Landrat lässt sich davon nicht allzu viel entwickeln. „ Wenn man nur geschäftsführend im Amt ist, ist es verdammt schwierig, sich den Rückhalt zu verschaffen“, sagt Ursula Münch.

Eine letzte, wenn auch leicht verzweifelte Hoffnung lautete bislang: Am Ende ziehen die Wähler es doch nicht durch. In Umfragen, vielleicht noch im ersten Wahlgang, wollen sie der restlichen Politik einen Denkzettel verpassen. Wenn es um tatsächliche Posten geht, schrecken sie doch vor der AfD zurück. „Es scheint zu verlockend zu sein, den Etablierten mal einen Denkzettel zu verpassen, weil mit dem Denkzettel vermeintlich nichts passieren kann“, sagte Sachsens Innenminister Armin Schuster im Table.Media-Interview kürzlich. Der Beleg dafür, dass die Menschen so denken und wählen würden, sei die Niederlage bei allen bisherigen Kommunalwahlen, bei denen die AfD sich Hoffnung gemacht hatte. Der vermeintliche Beleg hat sich verabschiedet.

Gemeinsam auf die AfD einzuschlagen, rät Münch Parteien nicht. Sie müssten sichtbar in ihren Unterschieden sein und dürften gleichzeitig nicht mit derart schäumender Kritik aufeinander losgehen wie zuletzt. „ Vielleicht kam es mit Sonneberg gerade noch rechtzeitig“, sagt Münch. „Meine Sorge war immer, dass wir schlafwandlerisch auf die drei ostdeutschen Landtagswahlen 2025 zusteuern. Man kann nicht nur auf die CDU als Brandmauer setzen.

In Sachsen halten es führende Christdemokraten für ausgeschlossen, dass ihre Partei jemals mit der AfD regieren wird. In unteren Parteiebenen fordert das längst eine ganze Reihe. Die AfD sei der natürliche Partner, nicht die aktuellen Koalitionäre SPD und Grüne. Wie dicht der versprochene Damm bleibt, lässt sich nur für die Gegenwart, nicht für die mittelfristige Zukunft abwägen. Oder wie Landesverfassungsschutzchef Stephan Kramer sagt: „Die entscheidende Frage ist: Was folgt jetzt draus für die kommenden Kommunal- und Landtagswahlen? Handelt es sich um einen Trend oder um einen Ausrutscher?“

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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