Analyse
Erscheinungsdatum: 01. Mai 2023

Der 1. Mai 1987: Als Kreuzberg in Flammen stand

Deutschland, Berlin, 1987-05-01 Vermummte werfen mit Steinen auf Polizisten am Rande des Strassenfestes am Lausitzer Platz in Kreuzberg.

Germany Berlin 1987 05 01 Vermummte throw with Stones on Policemen at Edge the Street festival at Lusetian square in Kreuzberg
Der Mythos 1. Mai in Berlin hat einen Anfang. Er begründet sich im Selbstverständnis einer linksalternativen Kreuzberger Gesellschaft der 1980er Jahre. Heute heißt die Devise: Party.

Der Mythos Randale-Event ist am 1. Mai 1987 entstanden. Linksromantische Revolutionäre schwärmen bis heute von der Kurzzeit-Anarchie in Kreuzberg36. Straßenbarrikaden aus Bauwagen und Autos, Pflastersteine, viel Wut gegen den Staat. Polizistinnen und Polizisten hatten zeitweise keinen Zugang mehr zu den eingebunkerten Plätzen des Stadtteils, der Groll stiftete sogar Menschen aus der politischen Mitte an, den Supermarkt Bolle zu plündern.

Christian Ströbele und sein Fahrrad gehören zum Inventar eines Stadtteils, der damals als „Hinterhof Westberlins“ Mitleid bis Spott auf sich zog. Ungeachtet der Jugendarbeitslosigkeitsquote von 40 Prozent im Bezirk „SO36“, also Kreuzberg, will der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen das 750. Jubiläum der Stadt mit einem opulenten Fest in den ICC Hallen feiern, die anstehende Volkszählung erzürnt linksliberale Berliner Gemüter, die ihre Persönlichkeitsrechte angegriffen sehen. Polizei und Hausbesitzer-Szene bekämpfen einander ohnehin seit fast einem Jahrzehnt mit wachsender Gewalt. Am Tag der Arbeit, dem „ Tag X “, kumulieren Wut und Schlachten um die Deutungshoheit über den Kiez – die Hochburg linken Widerstands gegen Autoritäten des CDU-geführten Senats.

Persönlichkeiten wie Hans-Georg Lindenau, bis heute verschroben-umschwärmte Kiezlegende im „M99 – Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“, erschaffen ihre Legenden. Der 1. Mai 1987 also. Erste Steine fliegen, bald eskaliert die Lage. Schlagstöcke, Pfefferspray und Wasserwerfer genügen der Polizei bald nicht mehr, um den Mob zu bändigen. Zeitweise müssen die 900 Kräfte kapitulieren.

Der britische Fotograf Michael Hughes hat den Tag mit seiner Kamera eingefangen. „Eine ganze Meute warf Steine nach der Polizei, ich fotografierte sie und die Wasserwerfer, mit denen die Polizei vorbeikam“, sagte der Fotograf zum 30. Jubiläum der Eskalation. „Eine Reihe von meinen Fotos wurde nichts, weil ich Wasser auf der Linse hatte. Zwischendurch musste ich mir die Augen wegen des Tränengases auswaschen.“

Wagen stürzen auf die Seite, Autonome verschanzen sich auf dem Hügel oberhalb des Spreewaldplatzes, werfen mit Pflastersteinen nach der Polizei, den „Bullen“. Lebensmittel, Barrikaden, Geschosse und Groll verwirbeln zum Geröll der Schlacht. Linke Utopien verwandeln sich für den Moment in unwirkliche Realität.

Berlin wacht länger, ruht später und seltener als andere Städte. Gegen Morgen des 2. Mai schlummern die Wütenden dann doch allmählich ein. 36 geplünderte Läden, 35 Brände, Hunderte Verletzte zählt die Polizei da.

In den frühen 2000er-Jahren erkennt die Stadt, womit sie ihre Menschen vom Protest weglocken kann: Party statt Protest. Großeinsätze der Polizei gehören bis heute zur Tradition; friedlicher sind die Szenerien freilich geworden. Zum „Myfest“ stampfen, stolpern und spazieren heute Tausende über Kreuzbergs Straßen.

Gewiss, um eine Neuauflage des „Tag X“ bemühen sich Schwärmerinnen und Schwärmer revolutionärer Randale-Romantik immer wieder, hoffen zum 30. Jubiläum auf eine neue Chance. Ausmaße wie 1987 erreichte die Mai-Randale nie wieder. Zumindest bis heute, Stand 1. Mai 2023, 21 Uhr 25.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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