Herr Snower, wie steht Deutschland in der Welt da? Welche Rolle hat das Land global?
Einerseits steht Deutschland sehr stark da, weil Deutschland im Zentrum Europas ist und Europa ein ganz wichtiger Baustein der zukünftigen Weltordnung ist, wenn man sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verlassen will. Andererseits sehen viele Länder, dass Deutschland faktisch Schwächen hat. Deutschland ist noch immer von China und anderen Staaten abhängig, denen man zunehmend misstraut. Deutschland betreibt weiterhin eine Exportwirtschaft für hergestellte Waren in einer Zeit, in der Roboter, Daten und Künstliche Intelligenz immer stärker das wirklich lukrative Geschäft bestimmen. Daher wird es für Deutschland eine große Herausforderung sein, mit den Schwächen umzugehen, um seine Bedeutung zu behalten und in der Welt eine nützliche Rolle zu spielen.
Made in Germany war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Marke weltweit. Vielleicht war es das Label, das Deutschlands Wirtschaftswunder gesichert hat. Wie viel von der Wucht des Made in Germany ist noch übrig?
Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich werde mich jetzt auf das Technologische konzentrieren. Made in Germany ist noch immer sehr wichtig, weil damit eine sehr große Vertrauenswürdigkeit verbunden ist. Deutschlands Exportwirtschaft lebt davon, dass das produzierende Gewerbe eng mit Dienstleistungen verbunden wird. Es gibt nur noch wenige Länder, die bis heute so sehr auf Industrie setzen. Besser gesagt: wegen des Erfolgs setzen können. Aber das hängt eng damit zusammen, dass die dazu gehörende Dienstleistung mitgeliefert wird. Das macht quasi niemand sonst.
Dienstleistung heißt, dass man nicht nur etwas verkauft, sondern es anschließend auch betreut und die Wartung sicherstellt?
Genauso ist es. Das ist das Wichtige heutzutage. Vieles kann inzwischen ziemlich billig produziert werden. Aber die Betreuung und die Weiterentwicklung des Produkts anhand der Erfahrungen, die man aus der Betreuung gewonnen hat – das ist der große Mehrwert. Nur: Dieses Bild bröckelt, und ein zentraler Grund dafür ist der Dieselskandal. Er war in der ganzen Welt ein negativer Volltreffer im Herzen der deutschen Reputation. Gerade so etwas darf Deutschland nicht passieren. Und weil das jeder weiß, wurde es im Ausland ganz besonders genau verfolgt. Als man dann noch sah, dass die Konsequenzen daraus lange dauerten und nicht mit der zwingend notwendigen Härte betrieben wurden, hat das große Zweifel geweckt. Ich bin mir nicht sicher, ob die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland das Ausmaß der beschädigten Reputation wirklich verstehen.
Geht es vor allem um den Ruf? Das Image?
Nein, auch der Vorsprung durch Technik ist in Gefahr. Dieser Vorsprung war zentraler Bestandteil der Werbung, der Geschichte, des Selbstverständnisses. Und er war mit einem Mal in Frage gestellt. Made in Germany ist stark beschädigt worden. Und dazu kommt ein riesiger technologischer Wandel, getrieben durch die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. In beiden Fällen hat Deutschland keine Spitzenposition mehr.
Was bedeutet das?
Deutschland droht, seine Kraft zu verlieren. Wirtschaftlich und politisch. Es ist durchaus möglich, dass ein Großteil der Industrie einfach zu Zulieferern der großen digitalen Monopole werden und damit ihre Selbstständigkeit einbüßen. Autos könnten wertvoll werden wegen der Informationen, die sie den digitalen Monopolen liefern, und nicht für das, was sie leisten. Hinzu kommt, dass wir in eine Wirtschaft übergehen, bei der es nicht mehr so sehr um Besitz geht, sondern um Kunden, Daten, Dienstleistungen.„
Handelt die Regierung angemessen?
In Bezug auf den Vertrauensbruch durch den Dieselskandal wurde nicht adäquat gehandelt. Das hätte sehr schnell und mit großer Härte vollzogen werden müssen, um klarzustellen, dass so etwas einfach komplett inakzeptabel ist. Und wenn Sie Wirecard nehmen, einen vergleichbaren Skandal in der Finanzbranche, dann ist das ein weiterer Beleg dafür, dass das Land, das sich so sehr auf vertrauenswürdige Reputation stützt, mit dieser Reputation schlecht umgeht.
Was müsste im Umgang mit den digitalen Monopolen passieren?
Der Technologie nachzulaufen unter den jetzigen Bedingungen, ist wahrscheinlich keine gute Strategie, weil insbesondere die Vereinigten Staaten und China einen so großen Vorsprung haben, dass das Nachahmen zu nichts führen wird. Aus dem Grund sollte Deutschland zwei Wege gehen – und der erste ist einer, den Deutschland schon kennt, aber noch nicht genügend genutzt hat.
Welcher?
Deutschland sollte sich auf seine eigenen Stärken besinnen – und dann schauen, wie neue Technologien diese Stärken noch erhöhen könnten. Das ist so ähnlich wie mit den Dienstleistungen und den Gütern. Was machen wir gut und wo ist unser komparativer Vorteil?
Ein Beispiel?
Ein Beispiel wäre die kreative Verbindung von der Herstellung erneuerbarer Energien mit den neuesten Wind-, Solar- und Biomassetechnologien. Deutschland hat eine starke Reputation in diesem Gebiet, das durch neue Fortschritte in Künstlicher Intelligenz verstärkt werden könnte. Außerdem ist Deutschland führend im Maschinenbau und in der Herstellung fortschrittlicher Geräte, die in Automatisierung, Robotik und Industrietechnik eingesetzt werden. Hier gibt es auch große Chancen, KI in neuen Bereichen einzusetzen.
Und der zweite Weg?
Der ist viel, viel wichtiger. Aber er ist in Deutschland bislang regelrecht vernachlässigt worden. Deutschland hat großen Einfluss in Europa, und der europäische Raum ist für die digitale Welt sehr wichtig, weil es so viele Menschen in diesem Raum gibt. Außerdem sind nicht wenige Menschen wohlhabend, auch das wirkt sich als Basis aus. Europa, angetrieben von Deutschland, muss sich ein neues digitales Grundsystem geben.
Wie meinen Sie das?
Die Datenschutzgrundverordnung ist eine europäische Errungenschaft. Und eine Grundlage zum Schutz der Daten für jeden einzelnen. Sie wird in Europa studiert, aber sie wird noch viel mehr in den USA studiert. Weil die Amerikaner verstanden haben, insbesondere ihre digitalen Monopole wie Apple, Google, Microsoft, was es bedeuten würde, wenn Europa einen neuen Weg einschlägt.
Bitte genauer.
So, wie die digitale Welt heute ist, führt sie zur Ausbeutung des Einzelnen und hat eine zerstörerische Kraft für alles, was wir nach der industriellen Revolution als soziale Ausgleichsmechanismen geschaffen haben. Es dient den Monopolen und nimmt dem einzelnen die Selbstbestimmung. Die Macht erschließt sich über einen modernen Tauschhandel: Handel, Unterhaltung, Gesundheit – gegen meine Daten.
Sie wählen drastische Worte.
Das muss ich. Es gibt riesige Netzwerkeffekte. Je größer das Netzwerk, desto nützlicher ist es. Diese Netzwerke funktionieren nach einem sehr einfachen Prinzip, und das lautet, dass man digitale Dienstleistungen umsonst oder zu sehr niedrigen Preis bekommt. Und dafür gibt man Informationen über sich selbst. Meistens, ohne das wirklich zu wissen. Und dieser Tauschhandel wird finanziert von denen, die die digitalen Konsumenten beeinflussen wollen. Entweder wirtschaftlich, indem sie unsere Interessen bis ins kleinste Detail studieren und für sich nutzen, zum Beispiel durch Schleichwerbung. Oder politisch, indem sie unsere politischen Interessen studieren, bespielen, uns bombardieren oder in unserem Zorn befeuern. Sieht am Anfang relativ harmlos aus, ist es aber nicht.
Welche Folgen hat das?
Dieses Prinzip kann nur zum Abgrund führen. Die sozialen Spaltungen werden immer größer; die politischen auch, weil Demokratien untergraben werden. Und was meistens – noch! – übersehen wird: wenn immer mehr Handel durch Tauschhandel ersetzt wird, dann kann keine Marktwirtschaft existieren.
Was könnte Deutschland tun?
Deutschland kann aufmerksam machen, dass dieses Governance System, das derzeit in diesem Bereich gilt, ein extrem schädliches System ist, weil es viele Leute ausbeutet und sehr, sehr ungerecht ist. Es ist mit der Leibeigenschaft zu vergleichen. Durch Leibeigene wurden vor zweihundert Jahren wenige sehr reich. Es war eine Unterdrückung, die Menschen waren nicht frei.
Meinen Sie Amazon? Der Chef ist Milliardär, die Mitarbeiter sind hart an der Ausbeutung?
Es geht nicht hauptsächlich um die Mitarbeiter, sondern um die digitalen Nutzer. Und nicht nur Facebook, Amazon und andere digitalen Machthaber, sondern auch die Datensammler und -verwerter, Acxiom und andere. Es ist ein riesiger Tauschhandel der persönlichen Daten, der erfolgt, ohne dass man wirklich weiß, wer die Daten über einen bekommt.
Warum wehren sich die Menschen nicht?
Weil sie gar keine Alternative mehr sehen. Oder wenn sie eine sehen, dann eine schlechte. Wie bei Leibeigenen. Hätte man diese vor 200 Jahren gefragt: Sind Sie zufrieden mit dem System? Dann hätten sie vermutlich gesagt: Okay, welche andere Chance habe ich? Wäre ich kein Leibeigener, dann wäre ich frei, würde aber wahrscheinlich dem Hungertod ins Auge schauen. Genauso verhalten sich die meisten digitalen Konsumenten. Sie geben diese Informationen preis, persönliche Informationen – und sagen, dass das eben die Bedingung sei, um überhaupt in der digitalen Welt zu existieren.
Ist das noch zu verhindern?
Wir müssen verhindern, dass unser ganzes soziales und wirtschaftliches Leben Daten generiert, über die wir keine Herrschaft mehr haben. Mindestens muss die Politik das versuchen. Wir müssen die Ungerechtigkeit des Systems viel deutlicher machen. Deutschland könnte innerhalb Europas eine wichtige Rolle spielen, um dieses digitale System zu ändern. Man muss den digitalen Nutzern Kontrolle über ihre eigenen Daten geben. Die Selfies, die Briefe, die Einkäufe – sie gehören den Menschen.
Was verlangt das konkret?
Man muss die Daten gesetzlich schützen. Wie die Gesetze, die Patienten und Ärzte verbinden, vertraulich und nur im Interesse der Patienten, nicht für ein Geschäftsmodell, das dabei ist, das System der Welt in seinem eignen Interesse zu verwandeln. Das gilt im Umgang mit Facebook und Co und noch mehr für das Arbeiten mit Daten durch Dritte. Kein Zugang und keine Nutzung, der ich nicht zugestimmt habe. Mein soziales Leben muss wieder unter meine Kontrolle kommen.
Also auch die Macht, Dinge wieder zu löschen, wenn ich sie löschen will.
Auch das. Genau. Sobald man den Vergleich mit Patienten und Ärzten nimmt, leuchtet das jedem ein. Trotzdem gibt es keine Gesetze.
Ist diese Entwicklung nicht längst unstoppbar geworden?
Nein. Genau das ist sie nicht. Aus zwei wichtigen Gründen. Der erste heißt: Europa. Die EU ist der einzige Raum, der das immerhin versucht. Mit der Datenschutzgrundverordnung. Mit dem Data Services Act und dem Data Markets Act. Sie gehen alle in diese Richtung. Aber sie behandeln viele Symptome. Was ich beschrieben habe, ist die darunterliegende Krankheit. Wenn wir in Brüssel mit Entscheidungsträgern reden, leuchtet das jedem ein. Trotzdem passiert noch nicht genügend.
Hat der Einzelne da nicht auch eine Verantwortung? Muss man sich nicht erstmal selbst befähigen, bevor man diese Entscheidungen treffen kann?
Das ist der Vorwurf, der oft gemacht wird. Ich glaube, wenn digitale Nutzer die Kontrolle haben, dann würden sich ganz neue Mechanismen installieren, so wie im Finanzsektor. Nehmen wir mal an, jemand hat Ersparnisse und möchte die anlegen oder für etwas investieren. Muss er Finanzexperte werden, um das zu tun? Nein. Man holt sich einen Finanzberater. Und der fasst das Risikoprofil zusammen. Und dann wird im Interesse des Kunden gehandelt. Im digitalen Bereich könnte genau dasselbe geschehen. Man hätte Repräsentanten, die man selbst wählen könnte, und die würden die Interessen, die Interessen der Nutzer repräsentieren. Und das wäre besonders wichtig in der Data Commons. Wo die Leute nur bestimmte Daten unter einem bestimmten Personenkreis tauschen wollen. Das müsste gesetzlich gesichert werden. Wir haben im Offline-Bereich viel Erfahrung mit solchen Gesetzen, aber sie werden im digitalen Raum nicht angewendet. Es wäre ein Boom an neuen Beratungen, und das völlig zurecht.
Sie sind Optimist.
Nein. Ich schaue auf die Geschichte. Nehmen Sie England, als der Feudalismus zu Ende ging, die industrielle Revolution begann und ein Arbeitsmarkt in England zustande kam. Vorher gab es Leibeigene und sehr viele Leute, die in großer Abhängigkeit arbeiteten. Jetzt auf einmal konnte man die eigene Arbeitskraft verkaufen, so wie wir jetzt. Dadurch hat England enorm viel wirtschaftliche Aktivitäten an sich gezogen. Heutzutage sind wir in einer analogen Lage. Wenn wir Kontrolle hätten, unsere Daten verkaufen oder verwalten könnten, wie wir wollten – das würde enorme wirtschaftliche Aktivität nach Europa ziehen.
Wie erklären Sie sich den Widerspruch, dass Menschen mit ihren Daten gegenüber dem Staat hochsensibel, gegenüber den beschriebenen Monopolen aber so nachlässig sind?
Die zwei Seiten sind miteinander verbunden. Jeder weiß intuitiv, dass persönliche Daten ohne informierte Einwilligung genutzt werden. Im privaten Bereich in vielen Weisen, von denen man überhaupt nichts weiß. Und da kann man sich nicht wehren, weil die Monopole in einer so bequemen Lage sind. Gegenüber dem Staat ist das ganz anders. Dann denkt man sofort, dass diese Daten anders genutzt werden könnten. Dass Geheimdienste von mir erfahren, was ich mache oder weiß. Es sind vage Vorstellungen, die man hat, wenn persönliche Daten missbraucht werden. Und dieser Missbrauch ist jedem unterschwellig bewusst. Doch sobald man sich wehren könnte, sobald man sagen könnte, für was man sie gibt und für was nicht, dann wäre das ganz anders. Und zwar in beiden Fällen. Es ist ein radikales Umdenken mit einer enormen Konsequenz.
Nochmal zurück zur Befähigung: Ist die nicht doch zwingend nötig, wenn man bedenkt, wie während der Pandemie durch vage Kenntnis immer mehr Misstrauen entstanden ist?
Das stimmt. Und das hängt mit diesem Problem zusammen. Die großen digitalen Monopole leben davon, dass sie möglichst viele Daten verkaufen können in anderen Bereichen. Und das tut man, indem man Aufmerksamkeit maximiert. Und wie maximiert man Aufmerksamkeit? Indem man Streit fördert, um uns daraufhin Bedrohungen vor Augen zu halten. Streit bedeutet Bedrohung. Daher haben wir ein System, das von sich aus natürlich die Gesellschaft spaltet.
Sie wollen das System ändern. Welches genau?
Als wir noch Leibeigene auf der Welt hatten, war das ein schlechtes System. Und diejenigen, die sich bemüht haben, dieses System zu ändern, haben für echten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gesorgt. Jetzt sind wir wieder an dieser Stelle angelangt. Wir brauchen eine Revolution, die die digitale Welt verwandeln kann. Das jetzige System untergräbt die Demokratie. Aufmerksamkeit wird maximiert durch Streit und Zwist. In einer Demokratie braucht man genau das Gegenteil. Man muss Verständnis haben für Meinungen anderer, auch wenn sie stark divergieren von den eigenen. Man muss auf gemeinsame Lösungen hinarbeiten können. Und man muss sich als Gesellschaft verstehen.
Sind wir so gefährdet?
Wir entfernen uns weiter und weiter von der Demokratie. Wir müssen zu den Grundbedürfnissen der Menschen zurückkehren: dem sozialen Zusammenhalt, der Solidarität, ohne die wir in einer Gesellschaft nicht existieren können. Und wir brauchen menschliche Befähigung. Ich muss die Möglichkeit haben, mein Leben durch meine eigenen Kräfte zu schmieden. Was passiert stattdessen: Die Solidarität bröckelt, die Bevölkerung bröckelt auch, weil wir spüren, dass wir immer weniger Kontrolle über unser Leben haben – durch die Globalisierung, durch Roboter und so weiter.
In der Pandemie und in der Reaktion auf den Krieg haben wir als Land und als Europa nicht Solidarität gezeigt, sondern Egoismus. Den Impfstoff haben wir nicht geteilt und nach dem Krieg überall Energie gekauft. Macht uns das als Reformer der Welt nicht unglaubwürdig?
Beides war nicht gut, überhaupt keine Frage. Aber das hat auch damit zu tun, dass Politiker zu oft und zu viel an die nächste Wahl denken – denken müssen. Das macht ihre Entscheidungen kurzfristig, das zwingt sie, erstmal an die eigenen Leute zu denken. In diesen beiden Fällen zu sehr. Man kann leichter Wahlen gewinnen, indem man sagt: Okay, ich beschütze mal meine eigenen Bürgerinnen und Bürger. Das sieht vordergründig jeder ein. Auch wenn das weltweit schadet – und wenn alle Länder das gleichzeitig machen, am Ende alle viel schlechter dastehen, als wenn sie kooperieren würden. Ich sehe da einen Teufelskreis, aus dem wir einfach nicht rauskommen, solange wir nicht ein anderes, solidarischeres Selbstverständnis entwickeln.
Klingt schön und sehr unwahrscheinlich.
Leider. Aber ich bleibe optimistisch. Nehmen Sie die jungen Leute, die sagen: Okay, Klimawandel ist etwas Globales, daher muss das eine globale Bewegung sein. Wir denken über Ländergrenzen hinaus. Das ist ein guter Instinkt. Wenn wir das besser verstehen würden, könnten Politiker viel freier handeln. Bislang sind Politiker, die mit gutem Gewissen global handeln, sehr auf sich allein gestellt. Aber genau dafür müssen wir kämpfen: Diese Freiheit möglich zu machen.
Ist Deutschland bei den beschriebenen Schwächen und Egoismen wirklich in einer Rolle, global was zu wirken? Zum Beispiel mit einer Klimaaußenpolitik?
Deutschland ist auf der moralischen Ebene zumindest in der entwickelten Welt, trotz aller Skandale in einer sehr starken Lage. Der Grund dafür ist die Nachkriegszeit. Deutschland ist eines der sehr wenigen Länder, die der eigenen Vergangenheit ins Auge geschaut haben und heute sagen: Das darf nie wieder geschehen. Daher, wenn Deutschland sich innerhalb Europas für einen globalen Klimaschutz oder auch einen Umbau der digitalen Welt einsetzt, kann es viel bewirken.
Kann die Wissenschaft dabei helfen? Muss sie es sogar?
Nicht so, wie die meisten Experten sich das denken. Die einfach unterschwellig sagen: Ich verstehe viel mehr als du. Und deshalb ich kann dir sagen, wie du dein Leben zu managen hast. Das läuft nicht, aus den verschiedensten Gründen, die wir sofort verstehen, wenn wir uns auf die Grundbedürfnisse des Menschen besinnen, wie Solidarität, Freiheit, Gemeinschaft. Daher sollten Wissenschaftler sagen: Okay, ich habe meine Einsicht hier, aber ich kann nicht automatisch erwarten, dass diese Einsicht von der Bevölkerung angenommen wird, einfach weil jemand anderer mir trauen soll. In dieser misstrauensvollen Welt zumal.
Das klingt nach Resignation.
Nein. Man soll einfach sagen: Okay, Wahrheit ist ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Wohlergehens, aber Solidarität und Befähigung und Nachhaltigkeit sind es auch. Und natürlich die Demokratie, in der alles ausgehandelt werden muss. Das verträgt niemanden, der von vornherein sagt: Ich weiß es besser als du. Viel besser ist es, wenn ich sage: Ich habe eine gute Idee – und ich will dich davon überzeugen. Wahrheit alleine ist einfach nicht das einzige Wichtige. Die Suche nach Stabilität, die Suche nach Geborgenheit und Liebe, die Suche nach materiellen Gütern ist viel stärker als die Suche nach Wahrheit. Wir als Experten sollten uns nicht einbilden, dass wir etwas haben, das Priorität haben muss.