Analyse
Erscheinungsdatum: 19. Februar 2023

„Das System ist an seine Grenzen gelangt“

(Bild: IMAGO / Chris Emil Janßen)
Der Bundesgesundheitsminister hat viel vor in diesem Jahr. Über ein Dutzend Gesetzesvorhaben will sein Ministerium umsetzen. Im Interview erklärt Karl Lauterbach, warum er seine Krankenhaus-Reform eine Revolution nennt, wie er Hausärzte entlasten und die elektronische Patientenakte endlich einführen will. Außerdem erzählt er, wie er mit persönlichen Drohungen umgeht.

Berlin Table: Herr Lauterbach, seit gut einem Jahr sind Sie Gesundheitsminister. Würden Sie sagen, Sie haben eine gesunde Work-Life-Balance?

Karl Lauterbach: Nein, es ist mehr work als life. Das ist der Tatsache geschuldet, dass ich am Anfang eine Doppelschicht hatte. Mein Team und ich mussten Corona bewältigen und gleichzeitig große Reformen vorbereiten für das laufende Jahr, das ein entscheidendes sein wird.

Sie sind nach wie vor auch präsent mit Meinungsäußerungen. So twitterten sie etwa unter dem Eindruck der Silvesternacht, dass Chaoten, die Pflegekräfte angreifen, die Wohnung gekündigt gehöre. Ihre ehemalige Ministerkollegin Lambrecht hat am Ende ein Video auf Instagram das Amt gekostet. Haben Sie nie Sorge, dass Ihnen so etwas passiert?

Natürlich muss man als Minister beim Twittern aufpassen, dass diese Äußerungen dem Amt angemessen sind. Und den besagten Tweet habe ich ja auch sofort wieder gelöscht. Aber da hatte ich mich spontan empört. Ich habe als Student selbst in der Intensivmedizin und Notfallversorgung gearbeitet, und weiß: Die Rettungskräfte, die hier Menschen retten, leiden unter hohen Mieten, die sie selbst kaum bezahlen können.

Zu den vielen Reformen zählen allein bisher 15 Gesetzesvorhaben. Wie priorisieren Sie Ihre Ziele?

Priorität haben die große Krankenhausreform und die Reformen zur Digitalisierung. Hier ist Jahrzehnte viel liegengeblieben. Beides brauchen wir, um die Babyboomer gut zu versorgen. Außerdem hatte ich mir früh vorgenommen, Reformen für die Kinder zu machen. Sie haben in der Pandemie besonders stark gelitten, und Kinderkliniken sind derzeit in großer Not. Daher war eine Kinderkrankenhaus-Reform prioritär: Bei der Finanzierung schaffen wir einen Korridor, sodass die Kinderkliniken ihr komplettes Budget bekommen, auch wenn sie nur 80 Prozent der Fälle machen. Wir müssen die Pflegeleistungen verbessern. Und ich arbeite an einem Gesetz gegen Lieferengpässe bei Medikamenten. 200 bis 400 Medikamente fehlen im Durchschnitt jedes Jahr, sogar für die Krebsbehandlung.

Ihre Krankenhausreform haben sie eine Revolution genannt. Warum?

Bisher gilt im Grundsatz: Mehr Fälle, mehr Budget. Weniger Fälle: Defizite drohen. Wenn Sie viele Fälle preiswert erbringen, machen Sie Gewinn. Das funktioniert ähnlich wie im Discounter: niedrige Preise, hoher Umsatz. Und hier kommt die Revolution: Künftig bekommen die Krankenhäuser einen großen Teil des Geldes schon dafür, dass sie nachweislich gute Strukturen vorhalten. Das hat bisher kaum eine Rolle gespielt. Deshalb wurden Leistungen wie Operationen teilweise ohne die medizinisch dafür notwendigen Voraussetzungen erbracht – aus Patientenperspektive ein Problem. Wir werden dafür sorgen, dass eine gute Ausstattung auch gut bezahlt wird – während die Behandlungen mit einem geringeren Betrag entlohnt werden. Das ist eine komplette Umkehr des Systems. Und es ist in der gesamten Krankenhausszene als Verbesserung wahrgenommen worden.

Na ja.

Die Universitätskliniken zum Beispiel stehen geschlossen hinter dem Vorschlag. Aber auch viele wissenschaftliche Fachgesellschaften. Sie kennen die Qualitätsprobleme im System.

Wenn sie eine offene Tür einrennen, ist das keine Revolution. Revolutionen sind typischerweise schmerzhafte Umwälzungen. So wie die Krankenhausreform in Dänemark, bei der in den letzten 20 Jahren die Hälfte aller Kliniken geschlossen wurden.

Dänemark ist kein Vorbild für uns. Weder, was die Zahl der Krankenhäuser angeht, noch die Art der Finanzierung. Und von Widerständen auf allen Ebenen gehe ich aus. Das muss man stehen.

Wir meinen die Klinikschließungen, die im Raum stehen. Die tun weh. Oder wollen Sie alle 1.800 Krankenhäuser in Deutschland erhalten?

Wir wollen dafür sorgen, dass gute Krankenhäuser für alle schnell erreichbar sind. Dass es eine flächendeckende Grundversorgung gibt – auch auf dem Land. Und dass die Spezialversorgung mit guter Qualität an ausgesuchten Standorten gebündelt wird. Dafür setze ich den Rahmen. Entscheiden, welches Krankenhaus welche Aufgabe übernimmt, müssen dann die Länder. Sie behalten die Planungshoheit – und müssen zur Not entscheiden, ob ein Krankenhaus schließen muss. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist die Frage sekundär. Es geht um ein neues, dreistufiges Versorgungssystem, bei dem die ortsnahen Basiskrankenhäuser auch ambulante Versorgung mit organisieren würden, gut abgestimmt mit den Praxen der niedergelassenen Ärzte.

Mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser sind defizitär, zum Teil seit Jahren, und die Länder nehmen sie trotzdem nicht vom Netz.

Zum Teil weil manche Kliniken so viele Fälle stationär machen, wie irgend geht, um am Netz bleiben zu können! Aus der Not heraus. Ein Teil der Fälle könnte wahrscheinlich ambulant gemacht werden. Das ist die Lage. Manchmal werden auch Eingriffe gemacht, die medizinisch nicht unbedingt notwendig sind, oder Patienten aufgenommen, die man nicht unbedingt aufnehmen müsste und das Personal weiter überlastet. Das System ist an seine Grenzen gelangt.

Die Reform soll sich selbst finanzieren, durch die erwarteten Effizienzgewinne und dadurch, dass unnötige Behandlungen wegfallen. Reicht das wirklich zur Finanzierung einer Revolution?

Die Investitionsmittel der Kliniken reichen derzeit definitiv nicht. Da fehlen mehrere Milliarden Euro pro Jahr. Das Problem muss definitiv gelöst werden.

Dänemark hat für seine Krankenhausreform fünf Milliarden Euro für Investitionen bereitgestellt. Bei uns entspräche das 70 Milliarden Euro.

Dänemark musste große Krankenhäuser erst schaffen. Die haben wir schon.

Aber Sie müssen doch eine Vorstellung haben, wie teuer die Reform wird, also reden wir eher von fünf oder von 75 Milliarden?

Das hängt von der Reform ab. Diejenigen, die sie blockieren wollen, verbreiten Panik mit solchen Zahlen.

Sind die Blockierer eher die Lobbyisten von der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder sind es Länder-Kollegen?

Wir werden die Reform so machen, dass sie gut funktioniert. Kritik und Widerstände gehören dazu. Wir müssen überzeugen. Daher das Einbinden der Länder und Fraktionen von Anfang an.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek hat beklagt, dass so viele ambulante Praxen in den Händen von privaten Investoren seien und Sie handeln sollten. Werden Sie handeln?

Ja. Das gehört zu den vielen Dingen, die in den vergangenen Jahren liegengeblieben sind. Das werden wir ändern.

Wie kann man das denn machen, ohne dass man gleichzeitig auch private Klinikbetreiber wie Asklepios und Helios enteignen könnte mit so einem Gesetz?

Erst einmal geht es darum, den Kauf durch Investoren, die hier Ketten bilden wollen, zu verhindern. Und das ist leistbar durch ein ausgeklügeltes Versorgungsgesetz.

Im ländlichen Raum fehlen zwar heute nicht unbedingt Krankenhäuser, aber niedergelassene Ärzte. Für Kinderärzte wollen Sie die Budgets abschaffen. Wie sieht es bei Hausärzten aus?

Wir diskutieren ähnliche Entlastungen für die hausärztliche Versorgung im zweiten Versorgungsgesetz. Fakt ist, wir haben zu wenige Hausärzte. Wir werden auch noch andere Maßnahmen benötigen: Zum einen müssen Allgemeinmediziner besser verteilt werden, auch in den Großstädten. Wir überlegen dafür, die Bedarfsplanung kleinteiliger und genauer zu machen.

Warum gibt es die Budgetierung für Praxen überhaupt?

Sonst wären die Kosten kaum kontrollierbar, zumal sich in der niedergelassenen Medizin die Leistungen in vielen Bereichen sehr stark steigern lassen.

Sie fordern auch mehr Medizinstudienplätze gegen den Ärztemangel. Die Patientenbeauftragte des Bundes, Claudia Schmidtke, hat schon mal laut über eine Männerquote nachgedacht, weil heute deutlich mehr junge Mädchen als Jungen den hohen NC schaffen. Zwei Drittel der Studierenden sind weiblich. Ein Problem?

Nein. Also die Zulassung zum Studium muss leistungsgerecht erfolgen. Wenn Mädchen mit hoher Leistungsbereitschaft und Qualität gute Noten haben, bekommen sie auch einen größeren Teil der Studienplätze. Eine Quote für Männer kommt mir abwegig vor.

Auch wenn die Frauen dann später oftmals nicht Vollzeit arbeiten und damit der Mangel langsamer behoben werden kann?

Wer weiß denn, ob Frauen künftig nicht auch bis zum Renteneintritt zum größten Teil Vollzeit arbeiten? Wenn man sich den Studienplatz erkämpft hat, muss man selbst entscheiden dürfen, wie viel man wo arbeiten will. Und wenn zu wenige Ärztinnen und Ärzte in der Versorgung bleiben, muss die Zahl der Medizinstudienplätze erhöht werden. Sonst können die Babyboomer nicht ausreichend gut versorgt werden.

Machen wir einen Sprung von der Versorgung zu Corona: Wie sind wir auf die nächste Pandemie vorbereitet?

Technisch sehr viel besser als auf die letzte. Wir haben Verträge für neue Impfstoffe geschaffen, die uns zur Verfügung stehen würden, wenn für eine neue Pandemie neue Impfstoffe entwickelt werden müssten. Wir haben viel Schutzmaterial – etwa Masken – gelagert. Wir haben ein sehr elaboriertes System, mit dem wir bestehende und neue Viren auswerten können; zum Beispiel mit einem systematischen Abwassermonitoring. Und wir haben ein Netz von Praxen und Kliniken, die Atemwegserkrankungen systematisch auswerten.

Und was fehlt?

In der Kommunikation mit der Bevölkerung sind wir schlecht vorbereitet. Ich sehe mit Sorge, dass derzeit versucht wird, die Pandemie so umzudeuten, dass nicht das Virus ein Problem war, sondern die Maßnahmen. Die Erfolge, die es gab, und um die wir zum Teil im Ausland beneidet werden – weniger Tote mit vergleichsweise weniger harten Lockdowns – die werden jetzt in Deutschland infrage gestellt.

Was bedeutet das für die nächste Pandemie?

Dann wäre dieses Narrativ womöglich reflexartig wieder da. Sodass mehr Menschen versuchen könnten, das Ergreifen nötiger Maßnahmen zu blockieren.

Sie planen ein Institut für öffentliche Gesundheit oder Public Health. Wäre das auch für bessere Kommunikation zuständig?

Ja, auch wenn das nicht die einzige Aufgabe sein wird. Dort geht es auch darum, systematisch Daten über die Gesundheit der Bevölkerung zu gewinnen und auszuwerten. Diese Daten sollen helfen, besser vorzubeugen und zielgerichteter zu forschen. Aber tatsächlich ist ein wichtiges Ziel des Instituts, auch eine bessere Kommunikation für die Gesundheitsfürsorge insgesamt vorzubereiten und definitiv auch in einer Pandemie. Es würde besser erklären, wie wirken die Impfstoffe genau? Wieso sind sie notwendig? Wir haben uns beim Aufbau des Instituts von Kommunikationsexpertinnen sehr intensiv beraten lassen. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.

Dabei würde auch die Digitalisierung helfen. Sind denn die Gesundheitsämter und das RKI inzwischen miteinander verbunden?

Wir haben die Gesundheitsämter gut angebunden, und auch die Kliniken, sodass wir wissen, wie viele freie Betten es noch gibt, wie viele Intensivbetten und wo welche frei werden.

Aber die Baustelle bleibt: Wenn man heute einen ambulanten Patienten ans zugehörige Krankenhaus überweist, kann man oft die Daten nicht mit übermitteln. Genauso wenig wie vom Rettungswagen zur behandelnden Klinik. Ändert sich das?

In wenigen Wochen kommen genau dazu neue große Gesetze. Zur Digitalisierung und besonders das Datennutzungsgesetz. Daran arbeiten wir seit vielen Monaten, und da ist auch vorgesehen, dass die elektronische Patientenakte für alle Alltag wird, und zwar als Opt-Out-Variante.

Was heißt das?

Das heißt, dass für Sie automatisch eine elektronische Patientenakte angelegt wird und dass Ihre Behandlungsdaten dort gespeichert werden, wenn Sie dem nicht widersprechen. Das hilft beim Arztwechsel oder beim Hinzuziehen von Fachärzten. Alles, was an Daten verfügbar ist, ist dann auf einer Plattform und kann eingesehen werden. Natürlich nur mit Genehmigung. Befunde können über einen sicher verschlüsselten Messenger hin und her geschickt werden. Die Modernisierung wird spürbar sein.

Corona ist für die meisten keine tödliche Gefahr mehr. Bei Ihnen sind wir uns da nicht so sicher – die Bundesanwaltschaft hat gerade Anklage gegen vier Männer und eine Frau erhoben, die offenbar geplant hatten, Sie zu entführen und dabei den Tod Ihrer Leibwächter in zu Kauf nehmen. Wie halten Sie die ständigen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen aus?

Ich persönlich bin, was das angeht, sehr robust und habe keine Angst. Am meisten belastet es mich mit Blick auf meine Familie. Dass sie unter der Bedrohungslage leiden muss, bedrückt mich.

Sie selbst sind unter ständigem Personenschutz.

Ja, und mein Leben hat sich dadurch stark verändert. Aber damit muss ich eben leben. Glücklicherweise bin ich kein ängstlicher Mensch.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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