Stolz war die Partei. Stark. Und nahezu unbezwingbar. Jedenfalls über viele Jahre. Mit Wahlergebnissen von 40 Prozent plus x – und einer Machtfülle, die jenseits der Schwesterpartei in Bayern bundesweit einzigartig war. Für die SPD gab es dort nie was zu gewinnen, für die Grünen lange auch nicht. Und die FDP musste froh sein, wenn sie mitregieren durfte. So stark war die CDU in Baden-Württemberg über Jahrzehnte. Sie prägte das Land im Guten wie im Schlechten. Hauptsache: Sie prägte.
Man tritt Friedrich Merz nicht zu nahe, wenn man sagt: Davon träumt er. Und zwar schon lange.
Dann aber geschah im Südwesten etwas, und das müssten Merz und seine Gegner in der CDU genau studieren. Als es um die Nachfolge des biederen, aber nach heutigen Kriterien immens erfolgreichen Erwin Teufel ging, kam es zum Bruch. Und das in vier Etappen: Die einen (rund um Günther Oettinger und Wolfgang Schäuble) waren zu ungeduldig und wollten Teufel aus dem Amt drängen; die anderen (rund um Teufel, Volker Kauder und Annette Schavan) kämpften dagegen – und erzwangen, was es noch nie gegeben hatte: eine Mitgliederbefragung. Im Zorn begannen die Oettinger-Leute, mit allen Mitteln zu kämpfen, mit üblicher Kritik genauso wie mit vergiftenden Attacken. Und als Schavan dann verloren hatte, akzeptierte ihr Lager dieses Ergebnis nicht, sondern kämpfte vom ersten Tag an darum, Oettingers Macht zu begrenzen.
Die Folgen merkte man nicht sofort; die Macht schwand schleichend. Aber der Riss, der sich durch die Partei zog, wurde zu einem tiefen Graben. Keine Seite schaffte die Brücke, keine Seite schaffte den Sprung, sich mit der anderen zu versöhnen. Und am Ende steht heute eine Partei, die seit 2011 nur noch ein Schatten früherer Zeiten ist. In den Zahlen halbiert, in der Macht beschnitten, auch eine Regierungsbeteiligung hat daran bis heute nichts geändert. Eine Partei, zwei unversöhnliche Lager – das führte zum Absturz.
Schaut man auf die Bundes-CDU im Sommer 2023, dann droht ihr ein ähnliches Schicksal. Erst Streit, dann mehrere Mitgliederentscheide, am Ende ein Vorsitzender, der kaum Kraft entfaltet – und dazu eine immer noch ungeeinte Partei, in der ein großer Teil nicht akzeptieren will, wer da an die Spitze gewählt wurde. Will die CDU da heraus kommen, müssten sich viele Christdemokraten gut überlegen, wie auch aus persönlicher Sicht eine kluge Strategie aussehen könnte.
Der wichtigste Grund für die Misere ist der Parteivorsitzende selbst. Und das hat eine kommunikative und eine inhaltliche Komponente. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Merz bei seinem jüngsten Malheur nicht absichtlich die eigene Linie im Kampf gegen die AfD aufbrechen wollte. Zu vermuten ist eher, dass ihn die Frage beschäftigte, wie man mit einem gewählten AfD-Kommunalpolitiker umgehen soll – und er nicht in die Gefahr geraten wollte, durch komplette Verweigerung undemokratisch zu erscheinen. Ein Bemühen, das vor allem östliche Landesverbände von ihm gefordert haben.
Nur: Merz hatte sich nicht auf die präzise Ausformulierung eines rechtlich und politisch intelligenten Umgangs vorbereitet. Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz hat das im Table.Media-Interview so beschrieben: Man habe bei den Worten von Merz schlicht den Eindruck gewinnen können, dass er über eine Kooperation auf Kommunalebene nachdenkt.
Den Eindruck gewinnen können – das klingt beiläufig und trifft doch Merz‘ Problem. Immer wieder geschieht genau das: dass er etwas anspricht, aber nicht zu Ende denkt. In diesem Fall setzte er einen Gedanken in die Welt und war nicht darauf vorbereitet, was der Gedanke auslösen würde. Dabei müsste er längst wissen, dass mindestens die Hälfte des Landes seit Jahren bei jedem seiner Auftritte nur darauf wartet, dass er etwas sagt, was das Klischee über ihn als unsensiblen, fehlerhaften Politiker bestätigen könnte.
Merz kann das doof finden und ärgerlich und ungerecht. Aber das ändert nichts. Er hätte die Gesetze der Kommunikation und seiner eigenen Situation darin einfach akzeptieren müssen. So musste er am Ende mal wieder die eigenen Worte noch einmal erklären – was im politischen Geschäft selbstverständlich als Korrektur interpretiert wurde.
Nichts untergräbt seine Autorität aktuell mehr. Zumal es nicht das erste Mal gewesen ist. Auch nach Äußerungen zum Asylrecht und seiner unsensiblen Wortwahl, als er die eigene Partei als die „Alternative für Deutschland mit Substanz“ bezeichnete, staunten Beobachter über schludrige Begriffe und denkwürdige Zuspitzungen. Wieder musste er Erläuterungen hinterherschicken, was seine Botschaften nicht verständlicher macht, sondern verschwimmen lässt.
Sucht man nach Gründen, warum Merz so etwas immer wieder widerfährt, lassen sich drei anführen. Erstens scheint er immer noch zu glauben, dass er rhetorisch einfach zu überlegen ist, als dass ihm Pannen unterlaufen könnten. Dabei hätte ihm längst auffallen müssen, wie aufgeladen und nach Fehlern trachtend viele in der Republik all das beäugen und aufspießen, was er sagt.
Professionell wäre deshalb, wenn er daraus lernen würde. Also immer dann, wenn er wie im Fall der AfD an heiklen Fragen rührt, alles bis ins Detail vorher durchzuspielen. Was die von ihm immer bekämpfte Angela Merkel vielleicht zu viel machte, macht Merz zu wenig: die Dinge, die er anstößt, vom Ende her zu denken.
Zweitens fehlt ihm bis heute das, was Politiker zwingend brauchen: eine Sprecherin, einen Sprecher oder einen Berater, den er a) ernst nimmt, der b) zu ihm durchdringt, der c) weiß, was in der Hauptstadt welche Reaktionen auslöst, der d) den Mumm hat, ihm wirklich alles zu sagen und der also e) ein echter Sparringspartner ist, mit dem er sich gerade bei den wichtigsten Themen akribisch vorbereitet. Anders geht es nicht, erst recht nicht für einen wie Merz, der seit seiner Rückkehr auf die politische Bühne so sehr polarisiert wie im demokratischen Spektrum kaum jemand sonst. Merz hat einen solchen Counterpart auf Augenhöhe bis heute nicht gefunden. Vielleicht, weil er es nicht für nötig hält. Vielleicht, weil inzwischen niemand mehr möchte.
Und drittens hat er das nicht geschafft, was er beim Zusammenführen der Partei dringend benötigen würde. Er hat nicht wirklich versucht, das Bild vom altmodischen CDU-Mann durch mutige Neueinordnungen aufzubrechen. Er streitet sich eher mit einer Politikerin wie Serap Güler, anstatt ihre Talente zu nutzen. Sie bringt vieles mit, was er nicht hat. Aber er schafft nicht den Sprung, das zu tolerieren, gar zu nutzen. Lernt er nicht dazu, wird es ihm kaum gelingen, die Partei als neu, überraschend, mutig und zukunftsfähig zu präsentieren.
Trotz all der Schwächen von Merz liegt das Gefährliche an der Situation für die CDU auch an vielen anderen in der Partei. Jenen vor allem, die ihn wie viele liberalere Christdemokratinnen und Christdemokraten bis heute nicht wirklich akzeptiert haben, weil für sie seine Rückkehr eine bleibende und fast unerträgliche Provokation ist. Deshalb bleiben sie lieber am Spielfeldrand und kritisieren, statt sich mit Verve zu engagieren. Und es liegt an jenen, die als Regierungschefs in den Ländern vieles vom Gesamteindruck der Partei mitprägen könnten, bislang aber eher wie Konkurrenten auftreten. Das gilt besonders für Hendrik Wüst in Düsseldorf und Daniel Günther in Kiel. Sind sie bemüht, die Gesamtpartei zu unterstützen? Der Eindruck ist: Eher warten sie auf Fehler der Parteispitze, möglicherweise sogar auf das Scheitern des Parteichefs.
Bei der üblichen Betrachtung von Politikern scheint das normal und üblich zu sein; für die CDU ist es zur Gefahr geworden. Das Eigeninteresse wird massiv über das der Partei gestellt – ein Eindruck, den auch Merz nie ganz von sich fernhalten konnte, und ein Grundgefühl, das sich auf die wichtigsten Ministerpräsidenten und Landeschefs ausgebreitet hat. Leisten konnte sich das die Partei nie, aber es schlug lange Zeit nicht so durch. Das Beispiel Baden-Württemberg aber zeigt, wie nachhaltig ein derart schleichender Dissens eine einst stolze Partei schwächen kann.
Ruprecht Polenz hat vor zwei Tagen getwittert, eine Partei sei immer nur so stark, wie ihre Führung breit aufgestellt sei. Damit hat der frühere Generalsekretär wohl recht. Die Botschaft war nicht nur an den Vorsitzenden adressiert, der das zulassen muss. Sie richtete sich auch an alle anderen, denen am Wohl der Gesamtpartei gelegen sein müsste. Von Merz verlangt das mehr Offenheit, gerade gegenüber jenen, die in pluralen Kategorien denken. Er hat mit seiner Wahl keinen Sieg gegen seine Rivalen errungen, sondern ist „nur“ Parteivorsitzender geworden. Von allen anderen verlangt es, ihn nicht mehr zu beäugen. Sie müssten bereit und in der Lage sein, ihren politischen Egoismus zurückzustellen. Sonst droht der CDU der Verlust eines der zentralen Attribute, das ihr noch zugeschrieben wird: dass sie als Partei eben doch das Land als Ganzes im Blick hat.