Analyse
Erscheinungsdatum: 02. März 2023

Da ein Marschbefehl, dort fehlende Weitsicht

Stefan Braun, Horand Knaup
In Berlin nehmen CDU und SPD Koalitionsverhandlungen auf. Für Kai Wegner und Franziska Giffey ein Teufelsritt. Wegner wird massive Zugeständnisse machen müssen, Giffey kämpft um ihr politisches Überleben. Die Erwartungen sind enorm – weshalb in dreieinhalb Jahren die Grünen als die eigentlichen Gewinner aus der Wahl 2022 hervorgehen könnten.

Die Botschaft war glasklar: Rot-Grün-Rot stelle in Berlin derzeit „kein gemeinsames dauerhaftes und belastbares Projekt“ dar, die Grünen hätten „erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Verabredungsfähigkeit aufkommen lassen“ und bei den Linken arbeiteten „zentrale Protagonist:innen derzeit aktiv an einer Spaltung der Partei“.

Das war am Mittwoch der schriftlich abgefasste Marschbefehl von Franziska Giffey und ihrer SPD-Sondierungskommission an den Landesvorstand der Partei. Mit der CDU hingegen hätten sich „in allen Bereichen große Schnittmengen“ ergeben, und es könne „eine positive Prognose zur realistischen Umsetzbarkeit“ eines Koalitionsvertrages gegeben werden. Im Klartext: Ich, Franziska Giffey, will als Juniorpartnerin eine Koalition mit der CDU.

Co-Vorsitzender Raed Saleh, nach der Wahl noch strikt gegen eine Große Koalition, hatte die Volte als einer der Ersten vollzogen. Artig nickte dann auch der Vorstand den Wunsch der Noch-Regierenden ab: Mit 25 zu 12 Stimmen votierte er für Koalitionsverhandlungen mit der Union – und versetzte damit Teile der Partei in Aufruhr. Die Jusos hatten sich schon vorab gegen eine Große Koalition ausgesprochen. Andere folgten. „Das habe ich noch nie erlebt“, sagt eine lang gediente Berliner Genossin, „die Leute sind vor den Kopf gestoßen“. Der Vorgang sei „ein ganz großes Drama“ und „der Partei kaum erklärbar“.

Auch die ehemalige Vorsitzende der Berliner Jusos und heutige Bundestagsabgeordnete Annika Klose äußerte sich kritisch: „Zu glauben, dass man in dieser Konstellation auf Dauer mehr für eine soziale Stadt erreichen könnte als mit einem progressiven Parteienbündnis, halte ich für einen Fehlschluss.“ Sich in der alten Allianz weiter zu vertändeln, wäre zwar gewiss kein Zukunftsmodell gewesen. „Dennoch hatte R2G von allen Konstellationen nach wie vor die größte Zustimmung unter den Wähler:innen.“

Auch im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale, war niemand amüsiert über den forschen Durchmarsch. Generalsekretär Kevin Kühnert hatte frühzeitig offen für eine Fortsetzung des alten rot-grün-roten Modells geworben. Andererseits hatte sich Giffey – kaum hatte sie sich vom Schreck des Wahldesasters erholt – bereits am Morgen nach der Wahl die Rückendeckung von Präsidium und Vorstand geholt, offensiv in Sondierungen zu gehen. Für sie ging es um: einen hauchdünnen Platz zwei - und einen hauchdünnen Faden, an dem ihr politisches Überleben hängt. Nun wollte sie auf niemanden mehr Rücksicht nehmen – auf das Willy-Brandt-Haus nicht, auf die Berliner Partei nicht und auch nicht auf den Bundesrat, wo die Mehrheitsfindung mit der dann womöglich einzigen Großen Koalition aller Bundesländer nicht leichter wird.

Noch ist unklar, ob die CDU/SPD-Allianz zustande kommt, in der sich Giffey eine Art Superministerium erhofft – und natürlich mehrere Senatorenposten für ihre Partei. Doch vieles spricht dafür. Sollte eine Koalitionsvereinbarung mit der CDU zustande kommen, steht noch einmal eine hohe Hürde an: ein Mitgliederentscheid der Sozialdemokraten. An seinem Ausgang würde sich dann der Landesparteitag orientieren, der formal die letzte Entscheidung trifft.

In der CDU wiederum können sie ihr Glück kaum fassen. Trotz des überraschenden Erfolgs am Wahlabend gab es nicht wenige in der Landes- und Bundespartei, die eher Zweifel hatten, den Regierenden Bürgermeister stellen zu können. Zu fest schien das Linksbündnis zu stehen – und zu groß die Bereitschaft Giffeys, im Roten Rathaus einfach weiterzumachen. Deshalb war das freundliche CDU-Vokabular nach der Wahl zunächst reine Rhetorik; man wollte die andere Seite ein bisschen locken, ein bisschen reizen. Aber dass die Frage sehr konkret werden könnte und mit welchen Angeboten man auf einen möglichen Partner zugehen könnte, erwogen zu Beginn die wenigsten.

Jetzt liegen die Dinge genau andersherum. Das leise Glücksgefühl hat sich nun mit der Frage vermengt, was das im Detail bedeutet. Und diese Frage, so viel steht fest, dürfte kein Spaß werden. So entschieden Giffey und ihre Landes-Spitze den Schwenk zur Union vollzogen haben, so entschieden werden sie Kompromisse einfordern.Ohne diese Kompromisse droht die Koalition zu scheitern, bevor sie startet : am Nein der Landes-SPD bei einem absehbaren Mitgliederentscheid.

Kai Wegner steht deshalb vor der Aufgabe, insbesondere in der Klima- und Sozialpolitik mehr anzubieten, als er im Wahlkampf vorgab. Das heißt: Auch Wegner wird sich fragen müssen, wo er Verkehrsberuhigung, Tempo 30 und Fußgängerzonen mitträgt und beim Klimaschutz zulegen will.Nichts wäre für die Bundes- wie die Landes-CDU gefährlicher als jene Klischees auf offener Bühne zu bestätigen, die der Partei seit Jahren anhängen. Sie wird also über ihren Schatten springen müssen – und ihre Wahlkampf-Rhetorik schnell hinter sich lassen.

Dazu hat sie sich schon mal auf den Weg gemacht. Wegner und seine Leute haben eine Tischvorlage erstellt, in der sich die Union im Nahverkehr (unbefristetes 29€-Ticket, Radwegenetz), beim Mieterrecht und mit einem engagierten Klimaschutz deutlich auf die SPD zubewegt. Kniffliger könnte es in der Frage werden, wie man die Integration voranbringt. Hier gibt es bis heute sehr unterschiedliche Schulen in der CDU, selbst Bundeschef Friedrich Merz und sein Generalsekretär Mario Czaja versenden immer wieder widersprüchliche Botschaften. Umso genauer dürfte die SPD gerade in diesem Punkt auf die Veränderungsbereitschaft der CDU blicken. Zumal die Jusos die Frage zentral für ihre Kampagne machen möchte – gegen das neue schwarz-rote Bündnis.

Ganz anders sieht es bei den Grünen aus. Ihnen bleibt fürs Erste nur die Hoffnung, dass das Schwarz-Rote Bündnis im Regieren scheitert. Unwahrscheinlich ist das nicht, zumal auch die neue Koalition an den halbautonomen Bezirken wenig Freude haben wird. Fürs Erste ist Giffeys Coup eine schwere Niederlage für die Grünen. Dass ihr Generalsekretär einräumen musste, sie seien vom Schwenk der SPD völlig überrascht worden, zeigt vor allem eines: dass die Grünen nach der Wahl nicht besonders klug agiert haben. Dass es an strategischer Weitsicht fehlte. Es war schließlich alles möglich. Umso mehr überrascht, dass die Grünen offenbar frühzeitig glaubten, es gebe die schwarz-rote Option gar nicht.

Ein strategischer Blick also fehlte. Und dieser Eindruck erhärtet sich, wenn stimmen sollte, was die Berliner Grünen in ihrem Papier für den Vorstand festhielten: Maximale Forderungen an die SPD, dazu eine Regierende Bürgermeisterin, deren Einfluss man beschneiden wollte. Dass ein solches Paket das Bündnis nicht stärken, sondern weiter destabilisieren würde, schien den Grünen um Bettina Jarasch nicht bewusst zu sein.

Und so stellt sich die Frage, ob die Grünen nicht ihrerseits den Mut hätten aufbringen müssen, es wenigstens zu versuchen mit der Union. Dem eher linken Landesverband in Berlin wäre das schwergefallen. Aber den Grünen im Bund wäre es nur ein weiteres Zeichen für ihre Optionen geworden. Und nicht nur das: So mühsam das Regieren in der Ampel auch sein mag – die Grünen im Bund treibt weiter das Gefühl an, dass sie in der Regierung deutlich mehr tun können für Klimaschutz, Integration und die Ukraine als in der Opposition. Der Landesverband dagegen wird in die ungeliebte Rolle zurückfallen, in der er Ideen und Papiere produziert, aber davon in der Stadt nur wenig bis nichts umsetzen kann.

Für die Linken ist das vorläufige Ende der Koalition nahe einer Katastrophe. Es war zuletzt so etwas wie ein letzter Strohhalm gewesen, wenigstens in der Hauptstadt weiter eine zentrale Rolle zu spielen. Dem hat Giffey fürs Erste einen Riegel vorgeschoben. Gut möglich, dass auch die Linken um den durchaus beliebten Klaus Lederer auf eine Renaissance im Jahr 2026 hoffen. Aber die Partei ist deutlich schlechter aufgestellt. Nach wie vor hängt der Streit mit Sahra Wagenknecht bleischwer an der Partei. Und auch sonst hat sie keine Botschaft, hinter der sie sich ge- und entschlossen versammeln könnte.

So gesehen kann die Linke nur drauf hoffen, dass ihr Wagenknecht bald den Gefallen einer Entscheidung tut. Solange sie allerdings gerade aus den Spekulationen ihre Kraft zieht,wird die Partei wohl vergeblich warten. Die Moderaten, zu denen ihre beiden Berliner Noch-Senatoren Katja Kipping und Klaus Lederer zählen, müssen zugleich abwägen, ob sie sich im Frust zurückziehen – oder noch einmal für eine klare Entscheidung kämpfen. Schön sind alle Optionen für die Partei nich t. Trotzdem bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als sich der Frage nach dem Selbstverständnis jetzt in aller Entschiedenheit zu stellen.

Da haben es die Grünen besser, denen immerhin eine Hoffnung bleibt – und es ist nicht die unwahrscheinlichste, was die Realisierung angeht: Union und SPD verschleißen sich, ihre Ideen und ihr Personal bis 2026. Und die Grünen, potenziell längst auf Augenhöhe mit Union und SPD, stellen in dreieinhalb Jahren den Regierenden Bürgermeister. Dann vermutlich aber mit einem neuen Gesicht an der Spitze.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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