Analyse
Erscheinungsdatum: 04. August 2025

Caritas-Chef: „Wer jetzt spart, zahlt später mehr"

Weltweit wird die Humanitäre Hilfe zusammengekürzt. Die Einschnitte treffen ein System, das ohnehin an seiner Belastungsgrenze arbeitet. Oliver Müller, Chef von Caritas International, rechnet mit teuren Folgeerscheinungen

Die humanitäre Hilfe, wie wir sie über Jahrzehnte entwickelt, verteidigt und kontinuierlich verbessert haben, steht an einem historischen Wendepunkt. Politische Prioritäten verschieben sich, Haushaltskürzungen treffen das Herz der internationalen Solidarität – ausgerechnet in einer Zeit, in der sie dringender gebraucht würde als je zuvor.

Mehr als 300 Millionen Menschen sind in diesen Tagen auf humanitäre Hilfe angewiesen – das dritte Jahr in Folge. Doch die internationalen Hilfe-Budgets schrumpfen in dramatischer Geschwindigkeit. Die Vereinigten Staaten kürzen ihre Hilfe um 40 Milliarden Dollar, die Bundesregierung reduziert ihre humanitären Mittel um mehr als zwei Milliarden Euro. Unsere Berechnungen auf Basis öffentlich zugänglicher Haushaltspläne zeigen: Im Jahr 2025 werden global rund 60 Milliarden Dollar weniger zur Verfügung stehen als noch 2024. Das entspricht einem Rückgang um ein Drittel. Und weitere Kürzungen sind bereits absehbar – sowohl international als auch auf nationaler Ebene.

Diese Entwicklung ist nicht bloß eine haushaltspolitische Fußnote – sie ist ein humanitärer Einschnitt mit verheerenden Folgen. Die Vereinten Nationen kündigten unlängst an, dass sie weltweit statt wie geplant 180 Millionen Menschen nur noch 114 Millionen erreichen können. 66 Millionen Menschen fallen aus dem Hilfesystem. Nicht, weil ihr Bedarf gesunken wäre – sondern weil das Geld fehlt.

Die Zahlen sind bedrückend, die Auswirkungen greifbar. Ein exemplarischer Blick in unsere Projektarbeit verdeutlicht das Ausmaß:

  • In Äthiopien erhalten über zwei Millionen Menschen keine Nahrungsmittelhilfe mehr.

  • In Bangladesch fällt für tausende Rohingya-Kinder der Schulunterricht weg.

  • Im Kongo brechen medizinische Programme weg, auf die Tausende dringend angewiesen sind.

  • An der Grenze zwischen Myanmar und Thailand fehlt es 81.000 Geflüchteten an sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung.

Diese Beispiele sind keine Einzelfälle. Sie sind Ausdruck einer systemischen Krise, die humanitäre Organisationen weltweit an ihre Grenzen bringt. Allein bei Caritas mussten wir in den letzten Monaten in Äthiopien 1.200 Stellen streichen, in Bangladesch 280. Global gehen wir von mehr als 5.000 Stellenverlusten bei Caritas-Partnerorganisationen aus – Teil einer Entwicklung, die laut unseren Schätzungen weltweit rund 60.000 humanitäre Arbeitsplätze gefährdet. Das bedeutet: Ein Drittel der Helferinnen und Helfer, die vor Ort in Krisenregionen lebensrettende Arbeit leisten, kann diese nicht länger tun.

Auch in Deutschland hinterlässt diese Entwicklung tiefe Spuren. Die Kürzungen im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beeinträchtigen unsere Arbeit massiv. Für humanitäre Hilfe sind im Bundeshaushalt 2025 nur noch eine Milliarde Euro vorgesehen – ein Rückgang um 53 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch die Entwicklungszusammenarbeit wird zum dritten Mal in Folge um eine Milliarde Euro gekürzt. Die 0,7-Prozent-Zusage – also der Anteil des Bruttonationaleinkommens, der für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe aufgewendet werden soll – wird mit dem aktuellen Haushalt klar verfehlt. 

Diese Kürzungen sind nicht nur falsch, sie sind fatal. Sie treffen Menschen in ihrer verletzlichsten Lage – und sie treffen ein System, das ohnehin an der Belastungsgrenze arbeitet. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man könne sich angesichts wachsender Krisen aus der humanitären Verantwortung zurückziehen. Wer jetzt spart, spart nicht – er zahlt später mehr: an Instabilität und Fluchtbewegungen. Die Verantwortung dafür tragen nicht Hilfswerke oder Ehrenamtliche, sondern Regierungen und Parlamente. Es ist ihre Aufgabe, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen und internationale Verpflichtungen einzuhalten.

Und doch: Angesichts dieser globalen Rückzugsbewegung braucht es mehr als nur den Ruf nach mehr Geld. Wir als Hilfswerk sehen in der Krise auch einen Auftrag zur Erneuerung. Die humanitäre Hilfe muss sich strukturell verändern – und sie kann es auch. Ein zentraler Weg dahin ist die konsequente Lokalisierung.

Lokalisierung bedeutet nicht Ersatz für internationale Hilfe, sondern deren klügere Organisation. Es bedeutet, Macht und Ressourcen dorthin zu verlagern, wo Hilfe am direktesten wirkt: in die Hände lokaler Partnerorganisationen. Heute fließen rund 95 Prozent der humanitären Mittel an große internationale Organisationen. Aus unserer Sicht ist das ein Fehler. Macht und Ressourcen müssen gezielter in lokale Hände gegeben werden. Wir von Caritas machen damit seit Jahrzehnten gute Erfahrungen: Über 90 Prozent der von uns verwalteten öffentlichen Mittel gehen an lokale Partnerorganisationen in den Projektländern.

Lokalisierung ist ein vielversprechender Lösungsansatz in der Krise – aber sie allein wird nicht ausreichen. Es braucht wieder eine verantwortungsbewusste und auf rechtsstaatlichen Prinzipien aufgebaute Politik, die den Schutz aller Menschen ins Zentrum ihres Handelns stellt. Nur dann kann humanitäre Hilfe ihrem Anspruch gerecht werden: unabhängig, neutral und ausschließlich am Bedarf der Menschen orientiert zu sein.

Solidarität und Menschlichkeit bleiben unser Antrieb – doch die politische Realität wird derzeit zunehmend durch nationale Interessen und Nutzenkalküle dominiert. Gegen diese Entwicklung müssen wir Haltung zeigen – als Hilfsorganisation, als Zivilgesellschaft, als demokratische Gemeinschaft.

Oliver Müller, 60, ist seit 2006 Leiter von Caritas international, dem Hilfswerk der deutschen Caritas

Letzte Aktualisierung: 05. August 2025
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