Es war ihnen alles zu viel geworden. Matthias Klopfer, Richard Arnold und Boris Palmer kennen sich, kämpfen alle gegen die ähnlichen Probleme – und sie wissen, wie man die Öffentlichkeit erreicht: Also formulierten die Oberbürgermeister aus Esslingen, Schwäbisch Gmünd und Tübingen, alle zwischen 60.000 und 100.000 Einwohner groß, einen Klagebrief und adressierten ihn an den Kanzler. 14 Seiten lang ist er geworden, und er gewährt einen düsteren Einblick in den Alltag kommunaler Verwaltungen. Sie haben einen Brief, „quasi aus dem Maschinenraum der Republik“, verfasst, „um zu veranschaulichen, wie absurd sich viele Vorschriften auswirken“.
Von A bis Z haben sie Beispiele zusammen getragen. Sie beschreiben eindrücklich, wie arbeitssuchende Migranten die Ausländerämter lahmlegen, weil diese für jeden Stellenwechsel – und davon gibt es in der Zeit nach der Ankunft üblicherweise viele – eine Erlaubnis ausstellen müssen, die über das Bundesverwaltungsamt an die Bundesagentur für Arbeit weiter geleitet wird. Allein in Esslingen gebe es 1.000 Personen im erwerbsfähigen Alter: „Bei einem regelmäßigen Arbeitgeberwechsel ist es nicht selten, dass ein Kunde sechs bis acht Mal im Jahr vorstellig wird.“ Eine Erleichterung wäre es deshalb schon, „wenn die Anfragen an die Bundesagentur entfallen würden“.
In Tübingen ist die Festung Hohentübingen hoch über der Stadt für Klassikkonzerte unzugänglich, weil dies die Vorschriften für Fluchtwege und Brandschutz in öffentlichen Gebäuden unmöglich machen. „Der Innenhof des Schlosses ist gekiest, brennen kann da nichts, und ein Attentäter käme mit einem LKW nicht mal durch das Tor“, heißt es in dem OB-Schreiben. Trotzdem seien Konzerte nicht möglich, „weil die Herzöge von Württemberg vor 500 Jahren die heutigen Normen für Fluchtwegbreiten missachtet haben“.
Weil der Landes-Datenschützer in Stuttgart bemüht ist, landesweit den Einsatz von Microsoft an Schulen zu begrenzen, versuche sich das Land „für viele Millionen Euro – jedoch erfolglos – an Eigenentwicklungen für Dienstleistungen wie eine E-Mail“. Weil, so spotten die Stadtchefs, „Microsoft durch die US-Regierung gezwungen werden könnte, die E-Mails einer schwäbischen Stadtverwaltung herauszugeben“. Mit der möglichen Folge, so das Schreiben, „dass im Ergebnis wieder Laufmappen zum Standardinstrument der Kommunikation in der Stadtverwaltung“ würden.
So listen sie Beispiel für Beispiel auf, obligatorische – aber sinnlose – Lärmschutzwände für Autoparkplätze, 200.000 Euro teuer, die am Ende den Geräuschpegel für die Anwohner eher erhöhen als absenken. Oder die Gebührenbefreiung für Vereine ins Transparenzregister: Voraussetzung für die Befreiung ist die Gemeinnützigkeit. Anstatt deren Nachweis bei den Finanzämtern abzurufen, wo er regelhaft vorliegt, müssen die Vereine einen schriftlichen Antrag stellen. Was wiederum überflüssig wäre, wenn der Datenaustausch in Deutschland funktionierte.
Oder das Beispiel von Tübingens größter Solaranlage, direkt an einer vierspurigen Bundesstraße gelegen. Der Bau dauerte acht Wochen, für die Planung gingen acht Jahre ins Land. Die Straßenbehörden verlangten ein Blendschutzgutachten, und als nichts blendete, wollten sie einen Abstand von 20 Meter zur Fahrbahn freihalten. Oder die Sache mit dem digitalen Anwohnerparkausweis. Pflicht ist ein Muster aus dem Verkehrsblatt des Jahres 2002, das für den Ausweis Kartonstärke verlangt. Ergebnis: „Das kann niemand zu Hause ausdrucken, also muss man doch wieder zum Amt.“ Oder die Kinderausweise, die inzwischen nicht mehr alle sechs Jahre, sondern jährlich neu beantragt werden müssen. Die drei Rathauschefs sprechen von „einem nicht messbaren Sicherheitsgewinn“ und einem stattdessen „sechsfach erhöhten Aufwand gegenüber der früheren Regelung“. Zugleich führe die Personalbelastung dazu, deutlich wichtigere Aufgaben aufzuschieben.
Oder die Lauben für das sommerliche Weinfest in Esslingen. Sie werden nur für das Weinfest in den Sonnen-Monaten verwendet, müssen aber statisch und rechnerisch Schneelasten abbilden. Von „weltfremden Vorgaben“ spricht OB Klopfer, Vorgaben, die zu höheren Preisen in der Vermietung führten und „zu absolutem Unverständnis von Bürgerschaft und Mitarbeitenden der Stadt“.
Oder die Verpflichtung für Feuerwehren und andere Vereine, für ihre eigenen Kameradschaftskassen monatlich die Umsatzsteuer auszuweisen. Gleiches gilt auch für Schulfeste oder den Kuchenverkauf an Schulen – Einnahmen, die regelmäßig für Schullandheimaufenthalte oder Klassenreisen angespart werden. Ja, es gab seinerzeit den Protest der Café- und Restaurantbetreiber. Aber, so heißt es in dem Schreiben, „uns ist kein Cafébetreiber bekannt, der bankrott ging, weil die Mitarbeiter im Rathaus ohne Mehrwertsteuer trinken konnten“. Und die Autoren fragen: „Ist es denn wirklich nicht möglich, dass wir uns um wesentliche Probleme kümmern und darauf verzichten, neue Probleme zu schaffen, indem wir Probleme lösen, die eigentlich gar keine sind?“
So reiht sich eine Absurdität an die andere. Musikschullehrer, die bei ihrer Anstellung über die Risiken umfallender Instrumente aufzuklären sind, „insbesondere wenn leichtes Schuhwerk getragen wird“, Vorgaben für Toilettengrößen in Kitas, die keine klitzekleine Abweichung zulassen, während die Kinder zuhause ganz überwiegend Erwachsenentoiletten nutzen, bis hin zu präzisen Vorschriften, wie Waldkindergärten zu nutzen sind.
Nach der Aufzählung der Kuriositäten aus dem Alltag ihrer Ämter werden die Oberbürgermeister aber auch grundsätzlich. Sie schreiben, das von Olaf Scholz gewünschte Deutschlandtempo setze „ein grundsätzliches Umdenken voraus“. Es gebe „eine Eskalationsspirale der Angst“, für irgend Unvorhergesehenes zur Verantwortung gezogen zu werden. Eng damit verbunden sei „die Lust an der Suche nach Schuldigen“. Das Wissen um Risiken sorge dafür, „dass jedes noch so sinnlose Papier eingefordert wird, um selbst auf der sicheren Seite zu sein“. Und so werde kaum diskutiert, „ob es sich noch lohnt, auf ein Schutzniveau von 99% weitere 0,1% draufzusatteln“. Deshalb: „Wir müssen als Gesellschaft Risiken besser bewerten und Restrisiken als solche akzeptieren.“
Gelinge es nicht, Schneisen in den Dschungel der Vorschriften zu schlagen, gingen die kommunalen Verwaltungen schwierigen Zeiten entgegen : „Wenn wir es nicht schaffen, das Dickicht der Bürokratie zu lichten, wird der Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung das Problem auf unkonventionelle Weise lösen.“ Es gebe schlicht das Personal nicht mehr, das „all die Vorschriften lesen, verstehen und anwenden“ könne. Verwaltungen seien nicht mehr in der Lage, bestimmte Aufgaben zu leisten: „Der Tag ist nicht mehr fern. Zeit zu handeln. Am besten unbürokratisch.“
Deshalb ihre eindringliche Bitte an den Kanzler: „Geben Sie den Kommunen das Recht, begründet von Vorschriften und Normen abzuweichen, wo dies vor Ort notwendig erscheint.“ Und: „Wir brauchen eine kommunale Abweichungskompetenz von den zigtausenden Vorschriften, Normen und Richtlinien, die kein Parlament je beschlossen hat.“ Sonst heiße es in Kürze: „Die Bürokratie überwältigt die Demokratie.“