Analyse
Erscheinungsdatum: 21. August 2024

Bodo Ramelow: Schrödingers Wahlkampf

Mit Bodo Ramelow könnte die Linke nach der Landtagswahl ihren einzigen Ministerpräsidenten verlieren – die Umfragen sehen nicht gut aus, dabei ist Ramelow sehr beliebt. Wie kann das sein? Eine Antwortsuche im Wahlkampf.

„AfD auf die 1“ hat jemand in gelber Farbe auf den Asphalt gesprüht. Dabei ist es eigentlich ein Heimspiel für Bodo Ramelow in der Plattenbau-Siedlung „Roter Berg“ an einem Montag, knapp zwei Wochen vor der Landtagswahl in Thüringen. „Schön, dass sie auch mal hierherkommen“, sagt eine Bewohnerin mit Rollator – der Unterton leicht ironisch. „Ich bin ständig hier“, sagt Ramelow und streckt den Arm aus, „sehen sie, meine Kirchengemeinde ist direkt dort drüben.“ So richtig überzeugt wirkt die Frau nicht.

Ramelow ist das letzte Bollwerk der Linken und einer ihrer wenigen Erfolgsgeschichten. Seit zehn Jahren ist er Ministerpräsident von Thüringen, für viele ein Landesvater. Gerade ist er in einer fast absurden Situation: Seine persönlichen Beliebtheitswerte sind unverändert hoch. Viele Thüringer schätzen ihn. Trotzdem wird der Linken in den Umfragen ein Erdrutsch-Verlust von fast 15 Prozent der Stimmen vorausgesagt. Ramelow ist wie Schrödingers Katze in dem Gedankenexperiment: Sie sitzt in einem Kasten mit giftigem Gas, das sie unweigerlich umbringen wird, sobald ein Mechanismus betätigt wird. Aber niemand weiß, ob das passieren wird oder schon passiert ist. Schrödingers Katze ist also gleichzeitig tot und lebendig. Ramelow ist politisch quasi schon erledigt, aber noch voller Kraft im Wahlkampf – und keiner weiß wirklich, was am Ende passieren wird.

Wie fühlt sich das an? Es seien nur Umfragen, sagt Ramelow, während er durch den Roten Berg läuft, wo die Menschen am Ende ihr Kreuz setzen, sei noch lange nicht entschieden. Vermutlich hat er damit gleichzeitig recht und unrecht. Denn eigentlich ist die Lage in Thüringen und auch im Roten Berg nicht schlecht. Wirtschaftlich liegt Thüringen im Bundesvergleich zwar noch immer auf den hinteren Plätzen, dennoch konnte das Land in den vergangenen Jahren aufholen. Trotz Problemen durch Wegzug und alternder Bevölkerung wuchs die Wirtschaftskraft seit 2018, auch die Gehälter stiegen. Im Viertel sind die Kitas und Schulen saniert, sagt Karola Stange, die Direktkandidatin in Erfurt Nord. Sie wird im Roten Berg viele Male angesprochen und umarmt, die Menschen kennen sie. „Wir haben viele Kämpfe zusammen ausgefochten“, sagt die skeptische Dame mit Rollator, etwa gegen die Wohnungsbaugesellschaft, die sich gar nicht mehr um die Bewohner kümmere.

Ramelow ist ein zäher Wahlkämpfer. Dabei ist er kein wirklich herzlicher Typ, lächelt wenig, kommt manchmal ein bisschen knorrig daher – ein strenger Landesvater. Aber dadurch auch kein typischer Politiker, der Freundlichkeit aufsetzt. Ramelow ist ernsthaft an den Menschen interessiert und hört zu, wägt seine Antworten ab. So wie im städtischen Seniorentreff im Roten Berg. Die Damen-Rommé-Runde gibt sich selbstbewusst: „Wir treffen uns hier, damit unser Club erhalten bleibt“, sagt eine, die anderen stimmen lautstark zu. „Sie spielen hier also Kampf-Romy“, sagt Ramelow und landet einen Lacher. Dann kommen Sätze, die an diesem Tag im Roten Berg nicht nur einmal fallen: Die Nachbarschaft habe sich so sehr verändert, sagt eine Seniorin. „Die Leute sprechen gar kein Deutsch mehr und grüßen nicht.“ Man höre nur noch Polnisch und Tschechisch im Viertel. Ob sie wolle, dass nur noch Deutsche im Viertel lebten? „Ja, warum nicht?“ Da greift Ramelow ein und erzählt eine Geschichte von Seniorinnen in Thüringen, die Geflüchteten aus Afghanistan und Syrien Deutsch beibrachten. So könne man sich auch verständigen. Die Frauen werden etwas kleinlaut. So richtig überzeugt wirken sie aber nicht.

„Wir brauchen viel mehr Zuwanderung“, sagt Ramelow später, draußen. Die großen Friktionen der Gesellschaft zeigten sich im Viertel im Kleinen. Die Menschen, die Polnisch und Tschechisch sprechen, seien zum ganz großen Teil Arbeitskräfte bei Zalando. Der Onlinehändler hat bereits im Jahr 2012 in Erfurt ein Logistikzentrum angesiedelt, vom Freistaat gefördert. 1.000 neue Arbeitsplätze versprach der damalige SPD-Wirtschaftsminister.

Hinter Ramelow ist eine Baustelle. Sein Baudezernent Matthias Bärwolff ist dazugekommen. Leger in kurzen Hosen, sein Fahrrad mit Kindersitz schiebt er neben sich her. Das Zentrum des Roten Bergs existiert nicht mehr. Es gab mal ein Einkaufszentrum mit Supermarkt und Geschäften, einer Apotheke, Bäcker und Fleischer. Nun stehen auf der grünen Wiese ein paar Container, in denen die Supermarkt-Kette Rewe einen provisorischen Supermarkt eingerichtet hat. Seit fast vier Jahren ist das so, erzählt Bärwolff. Die Container seien eine Auflage an den Investor gewesen, der das neue Einkaufszentrum baut, damit die Versorgung der rund 5.000 Menschen im Viertel gewährleistet wird. Auch eine Container-Apotheke gibt es.

Diese Baustelle sei ein Sinnbild für alles, was nach der Wende im Osten schiefgegangen ist, sagt Ramelow. Private Investoren hatten das alte Einkaufszentrum billig gekauft und als Spekulationsobjekt verfallen lassen. Die Stadt habe keine Möglichkeit gehabt, einzugreifen, weil westdeutsches Recht Privateigentum über alles stelle. Es sei sehr schwierig gewesen, Investoren für den Roten Berg zu finden. „Wir können Aldi und Lidl ja nicht zwingen, sich hier anzusiedeln“, sagt Bärwolf. Und er richtet eine Forderung an die Bundesregierung: „Wir Kommunen brauchen mehr Freiheiten für die Einzelhandelsstruktur.“

Die Linke müsse einen Nutzwert für die Menschen haben, das ist einer von Ramelows Leitsätzen. Dafür werde sie gewählt. Lange Zeit war er der Beweis, dass die Linke auch pragmatische Politik machen kann, wenn sie regieren will. Im Roten Berg sollen die Menschen diesen Nutzwert bald spüren. Im Herbst nächstes Jahr soll hier alles fertig sein: Das neue Einkaufszentrum, der Spielplatz mit Skateboard und BmX-Platz für die Kinder. Eine Gartenstadt soll der Rote Berg werden, so wie er in der DDR ursprünglich geplant wurde, die Bebauung offen hin zum grünen Zoopark. Alles sei auf den Weg gebracht, heißt es, die Pläne würden jetzt umgesetzt.

Für Ramelow und seinen Baudezernenten ist das quasi schon Realität. Für die Wähler im Roten Berg aber ist es noch immer weit weg.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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