Die Schmerzen werden weniger. Schlafen kann Friedrich Merz auch wieder. Und das ist ein großer Fortschritt, wenn man bedenkt, wie heftig der Unfall beim CDU-Vorsitzenden einschlug. Im letzten Sommer war er im Urlaub schwer gestürzt. Seither hält eine große Metallplatte sein Schlüsselbein zusammen. In ruhigen Momenten spricht Merz schon mal von seinem „Fremdkörpergefühl“ und wie sehr ihn das belaste. Vor einigen Wochen war er bei den Ärzten, die ihn operierten. Sie signalisierten ihm: Alles läuft, alles in Ordnung. Was ihn ein bisschen beruhigt hat, auch wenn sein eigenes Gefühl damit noch nicht übereinstimmt.
Dass die Heilung lange dauert, hat auch mit ihm selbst zu tun. Obwohl die Ärzte ihn warnten und enge Mitarbeiter abrieten, entschied er sich beim letzten Parteitag, ohne Armschlinge aufzutreten. Er wollte diese Bilder nicht. Er wollte als noch frischer Parteichef einfach nicht schwach aussehen. Also kämpfte er sich unter Schmerzen durch seine Rede, und die Folgen waren fatal. Die ganze Sache entzündete sich, er musste noch mehr aufpassen. Und Ruhe geben. Nachts ohne Schlaf, tagsüber gefühlt mit Blei an den Füßen. Er hatte es nicht glauben wollen und musste es schmerzvoll lernen.
Lernen – das ist ein großes Thema für Merz, spätestens seitdem er vor viereineinhalb Jahren auf die politische Bühne zurückgekehrt ist. Wie kaum ein Politiker vor ihm polarisierte er schon vor seinem ersten Auftritt. Er hatte seine Kandidatur für den Parteivorsitz zunächst nur schriftlich angekündigt – und schon gab es heftige Kommentare. Die einen, vor allem in konservativen Zirkeln der CDU, jubilierten. Mindestens genauso viele in der Partei und noch viele mehr in der Öffentlichkeit schüttelten dagegen den Kopf, weil sie sein Ziel, Angela Merkel zu beerben, wahlweise verrückt, unangemessen oder gar unverschämt fanden. Bis hinein zum damaligen Regierungssprecher war das die Losung.
In dieser Tonlage empfangen zu werden, hätte manchen schnell vertrieben und andere zum Nachdenken über sich selbst gebracht. Merz aber reagierte zunächst so wie seine lautesten Kritiker: Er fand das gemein und unverschämt. Und er erlebte es als besonders unangebracht bei all denen, die ihn gar nicht kannten. Die also, so sein Eindruck, nur vom Bild lebten, das sich in den Jahren davor von ihm festgesetzt hatte: Kalt gegenüber ärmeren Menschen, konservativ in gesellschaftlichen Fragen, ignorant bis ablehnend gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen.
Merz erkannte sich da nicht wieder – und reagierte trotzig. Sprach von „grottenschlechter Regierung“ und schimpfte über ein „Establishment“, das ihn nicht wolle. Ohne zu verstehen, dass auch dieses Wort vergiftet war, seit die AfD es für sich vereinnahmt hatte, und zwar als Schimpfwort gegen alle demokratischen Parteien, auch die CDU.
Die logische Folge: Die Polarisierung um die Person Merz verschärfte sich noch. Er nahm sich kaum zurück und seine Gegner warteten nur auf Ausrutscher. Seinem Aufstieg half das zunächst und dann schadete es ihm immer mehr. Es half ihm, bekannt zu werden; es half ihm in Teilen der CDU, zur großen Projektionsfläche für alles zu werden, was sie an der Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel störte. Konservative, die sich an Merkels „Wir schaffen das“ gestört hatten; Wirtschaftsliberale, für die Merkel zu viel SPD war; und dazu ein paar Jüngere, die von weniger Staat und mehr politischer Leidenschaft träumten.
Diese Gruppen sorgten dafür, dass er im Kampf um die Parteispitze zweimal beinahe die Hälfte der Delegierten für sich gewinnen konnte. Aber sie reichten eben genau nicht, um ihn wirklich mehrheitsfähig zu machen. Dass er nach der katastrophalen Niederlage bei der Bundestagswahl 2021 im dritten Anlauf Vorsitzender geworden ist, hatte wenig damit zu tun, dass er plötzlich für mehr Mitglieder und Delegierte attraktiver geworden wäre. Seine Chance kam, als die Partei endgültig verloren hatte. Im Jahr 2000 hieß die Trümmerfrau der CDU Angela Merkel; zwei Jahrzehnte später ist Merz in dieser Rolle gelandet.
Nun wäre es falsch zu behaupten, Merz hätte seither gar nichts versucht, um aus der Ecke des Polarisierers herauszukommen. Es gab immer wieder Bemühungen, ob im Umgang mit der Regierung oder beim Aufbrechen alter Weltbilder. Sein Auftritt am Tag der Zeitenwende, als der Kanzler am 27. Februar 2022 einen umfassenden Neuanfang bei der Ausstattung der Bundeswehr ankündigte, bot Merz seine Kooperation an. Dass die nicht gleich zustande kam, lag weniger an ihm und mehr am Kanzler. Im Streit um den Mindestlohn ließ sich Merz von einem strikten Nein abbringen, und in der Debatte um das Bürgergeld gelang es seinem Sozialexperten Hermann Gröhe im Bündnis mit einigen CDU-Ministerpräsidenten, ihn von einer Zustimmung zu überzeugen.
Doch statt dieses Bild als Beleg für ein größeres soziales Verständnis öffentlich wirken zu lassen, damit es bei den Menschen als neuer Blick des CDU-Vorsitzenden ankommt, schafft es Merz, diese Botschaften mit einem Auftritt wieder kaputtzumachen. Mitten hinein in diese Phase moderaterer Töne spricht er Ende September in einem Interview im Zorn über einige Ukrainer, die mehrfach Hilfen beantragt hätten – und nennt sie „Sozialtouristen“. Mit der harschen Zuspitzung schafft er es, die Debatten im Land für Tage zu dominieren. Und zwar mit einer Botschaft, die alle seine Gegner und Kritiker als Steilvorlage verwenden: Er sei im Grunde seines Herzens ja doch gegen alle Menschen, die in der Not nach Deutschland kämen.
Dass er das so gar nicht sagen wollte, spielt schnell keine Rolle mehr. Er setzt nur ein Wort in die Welt und merkt erst, wenn es zu spät ist, was er für sich selbst – und für die CDU – damit anrichtet. So heftig ist die Kritik, dass er sich 24 Stunden später entschuldigt. Ergebnis: Er hat alle in Wallung versetzt; er hat das alte Klischee bestätigt; er hat seine eigene Aufbauarbeit zunichtegemacht.
Und das ist keine Ausnahme, es passiert wieder. Zuletzt am vergangenen Mittwoch sagte Merz auf einem Treffen mit CDA-Vertretern im Konrad-Adenauer-Haus fast schon sensationelle Sätze. Er erklärte, dass es Unternehmen mit starken Betriebsräten schlicht und einfach deutlich besser gehe als Unternehmen mit schwachen oder keinen Betriebsräten. Für Gewerkschaftsmitglieder ist so ein Satz selbstverständlich, zum Klischee des kalten Wirtschaftspolitikers Merz passt es kaum bis gar nicht.
Sein Problem: Diese – man könnte sagen – neue Nachdenklichkeit bekam niemand mit, weil seit dem Vorabend alle Welt nur noch über seinen Auftritt bei Markus Lanz im ZDF sprach. Dort hatte er über die möglichen Täter bei den Gewaltausschreitungen in der Silvesternacht diskutiert, von den kleinen „Paschas“ geredet, von „zwei Dritteln Arabern“ und von Menschen, die nicht in dieses Land gehörten.
Problem eins: Er konnte die Zahlen nicht belegen. Problem zwei: Er sprach von jungen Leuten, die zumindest teilweise längst einen deutschen Pass haben. Und Problem drei: Er nannte ohne Empathie gerade auch jene, die seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren als Zugewanderte in Deutschland leben und unter den Ausschreitungen zum großen Teil am meisten leiden.
Er tat damit genau das, wovor nicht nur Psychologen und Streetworker warnen, sondern mittlerweile auch der eigene Generalsekretär Mario Czaja. Im Interview mit dem Berlin.Table hat Czaja erst diese Woche erklärt, seine Partei werbe auch um jene zugewanderten Menschen, die sich bis heute nicht bei der CDU zuhause fühlten. Das aber werde nur gelingen, „wenn die Menschen auch mit dem Herzen dabei sind, also sich eingeladen fühlen“.
An diesem Wochenende in Weimar zeigte sich die Baustelle von Merz wie unter einem Brennglas. Dort musste die Parteispitze schmerzhaft miterleben, wie auch der schönste Plan nicht viel hilft, wenn er durch Äußerungen des Vorsitzenden überlagert wird. Merz selbst hatte entschieden, zur Klausur des Vorstands den Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest und die Klimaforscherin Antje Boetius einzuladen, um mit beiden über die künftige Wirtschaftspolitik und die Zwänge des Klimaschutzes zu diskutieren. Doch obwohl das gelang und der Vorstand leidenschaftlich debattierte, blieb davon öffentlich wenig hängen. Dabei hätte der Partei kaum etwas besser getan, als das zu zeigen. Nach innen wie nach außen. Wären da nur nicht die kleinen "Paschas" gewesen.
Und weil dieses Problem immer mehr Mitglieder des Bundesvorstands für eine echte Gefahr halten, hat es in Weimar einen spannenden Moment gegeben. Obwohl Merz später erklärte, über seine Pascha-Sätze sei gar nicht richtig diskutiert worden, gab es intern zwei Wortmeldungen, die vor den Türen von vielen Teilnehmern zitiert wurden. Erst stand Hermann Gröhe auf, danach Serap Güler. Und beide signalisierten, eingebettet „in fast schon liebevolle Worte“, wie es ein Teilnehmer schilderte, dass das so nicht weitergehen dürfe. Ihre Botschaft: Merz müsse sich im Umgang mit Zuwanderern und Migration ändern, differenzierter und nachdenklicher über Probleme sprechen. Ein unzweideutiges Signal an Merz sei das gewesen, hieß es.
Was nun kommt, ist offen. Es gibt mindestens drei Möglichkeiten. Erstens: Merz merkt, dass er sich an der Stelle rasch ändern, dass er hart an sich arbeiten muss. Oder zweitens: Güler, Czaja und andere entwickeln so viel Kraft, dass sie den Vorsitzenden zu Korrekturen in seinen Auftritten und in seinem Denken bewegen, vielleicht sogar zwingen können. Oder drittens: Czaja und andere dringen nicht durch. Dann ist für Merz die Gefahr groß, dass andere, jüngere wie die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Daniel Günther, ihn ohne große Unterstützung machen lassen, sich zurücklehnen, Distanz halten und abwarten. Zumal sich ohne ihr großes Zutun schon Netzwerke um sie herum gebildet haben. Berlin.Table berichtete darüber.
Für Merz wäre die dritte Option die mühsamste und wahrscheinlich schlechteste. Er muss jetzt zeigen, ob er Gefangener seiner selbst ist – oder doch noch einen neuen Weg einschlägt, gerade auf dem heiklen Feld von Migration, Flüchtlingen und dringend nötiger Fachkräfteeinwanderung. Selbst in der Parteispitze findet sich derzeit niemand, der sich eine Prognose zutraut. Über diese Frage, über künftige Erfolge, über den nächsten Kanzlerkandidaten.
Alle sind der Überzeugung, dass Merz nach wie vor und unbedingt Kanzlerkandidat werden möchte; aber kaum jemand würde jetzt schon sagen, dass das für die CDU und die Union auf alle Fälle gut wäre. Die Partei ist in einem fragilen Gleichgewicht. Niemand würde jetzt am Stuhl des Vorsitzenden sägen; kaum jemand ist wirklich begeistert.
Und Merz selbst? Er ist bemüht darum, cool zu wirken. Und wenn intern die Frage Kanzlerkandidatur auftaucht, dann erinnert der 67-Jährige – so wird berichtet – offenbar gerne an das fast schon biblische Alter seiner Eltern. Beide sind Mitte 90. Und dann fügt der CDU-Vorsitzende hinzu: „Wer bei mir auf eine biologische Antwort hofft, der muss lange warten.“