Überall und ständig fallen Züge aus – trotz einer ordentlichen Lohnerhöhung im Sommer. Was ist los bei der Bahn?
Die Kollegen sind unzufrieden. Es ist nicht nur das Geld, es sind die Arbeitsbedingungen, es sind die Schichten, die fehlende Wertschätzung – es ist ein ganzes Bündel von Gründen. Und trotzdem machen die Kollegen einen tollen Job.
Wie konnte es dazu kommen?
Wir haben über Jahrzehnte nicht in die Schiene investiert. Durch Baumaßnahmen und die damit verbundenen Fahrplanänderungen ist eine vernünftige Schichtplanung fast nicht mehr möglich. Die Kollegen bekommen am Donnerstag, manchmal am Freitag den Dienstplan fürs Wochenende. Und wissen auch erst dann, ob sie am Wochenende frei haben. Baumaßnahmen werden kurzfristig begonnen, verlängert oder abgesagt. Verbunden mit der Frage: Gibt es genug Material? Kriegen wir genug Sperrungen hin? Ein Rad greift ins andere, am Ende funktioniert das System einfach nicht mehr. Jedenfalls ist klar: So geht es nicht weiter.
Sie haben gerade eine Tarifrunde hinter sich, mit ordentlichen Lohnerhöhungen und einer Einmalzahlung von 2.850 Euro netto für alle. War das nicht genug? Sind Ihre Mitglieder zu gierig?
Die Mitglieder sind sicher nicht gierig. DB Regio ist ein Unternehmen bei der Bahn, das über viele Jahre moderate Abschlüsse hatte. Weil es immer hieß, wir hätten zu viel Personal an Bord. Und wir haben lange auf Beschäftigungssicherung gesetzt, auch deswegen während Corona eher niedrig abgeschlossen. Das hat sich in den letzten zwei Jahren schlagartig gedreht: Viele Abgänge, eine hohe Fluktuation, der demographische Wandel ist jetzt voll da. Die Arbeitsbelastungen werden immer höher, die Anforderungen durch Fahrgäste und Politik auch. Ja, wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene, haben aber Kapazitätsprobleme.
Warum hat nur die Hälfte Ihrer Mitglieder dem Schlichterspruch zugestimmt?
Das war ein ehrliches Ergebnis, eines, das sicher kommunikativ nicht gut rüber kam. Aber Sie haben Recht: Aus Sicht der Mitglieder hat das Ergebnis nicht den Puls der Zeit getroffen.
Warum nicht?
Wir hatten eine Großbaustelle mit Tarifverhandlungen in allen Bereichen. Bei der Bahn, bei allen Wettbewerbern. Als wir anfingen, diese Tarifrunde vorzubereiten, gab es keine Pandemie und keinen Krieg. Wir hatten eine breite Diskussion unter den Mitgliedern, dann kamen Corona, ein Krieg, eine massive Inflation, die Menschen wussten nicht mehr, wie sie das alles bezahlen sollen, und haben viele Hoffnungen in den Tarifabschluss gesetzt. Und obwohl es der beste Tarifabschluss aller Zeiten ist, ist es uns nicht gelungen, das entsprechend zu kommunizieren.
Wie viele zusätzliche Mitarbeiter bräuchte es, um den Betrieb am Laufen und die Belastungen in Grenzen zu halten?
Bei der DB Regio waren für 2023 1.000 Stellen mehr vorgesehen, nur für die Planung und um die Beanspruchung der Strecken auszugleichen. Von diesen 1.000 Stellen sind 950 nicht besetzt, weil wir die Leute nicht bekommen. Ich kann noch mal 2.000 Leute mehr fordern – es gibt sie nicht. Deshalb: Wir müssen die Fluktuation stoppen und über die Arbeitsbedingungen reden. Ich bin seit 40 Jahren in dem Unternehmen, eine Fluktuation von zehn Prozent innerhalb eines Jahres hatten wir noch nie. Und inzwischen liegen wir teilweise sogar darüber. Dazu haben wir dauerhaft einen Krankenstand von fast acht Prozent. Das hat doch Gründe.
Warum ist die Stimmung so schlecht?
Es gibt keine geregelten Schichten mehr. Die Leute können nicht mehr planen. Früher haben wir es verkraftet, wenn der Krankenstand mal ein Prozent nach oben ging. Die Kollegen haben Schichten verlängert oder sind am Wochenende mehr gefahren. Aber wenn das zur Regel wird, und die Regel heißt inzwischen drei Wochenenden hintereinander zu arbeiten, ein Wochenende frei, dann sinkt die Stimmung. Und wenn ich dann mit privaten Dingen komme und den Chef frage, ich bräuchte jetzt wegen eines Geburtstages mal frei, und der sagt, tut mir leid, ich kann dir nicht freigeben, obwohl der Kollege schon oft eingesprungen ist, dann sagt dieser Kollege nur noch: Ich weiß mir zu helfen. Und dann hilft er sich.
Und wird krank?
Könnte sein.
Es ist die schlichte Überlastung?
Die Arbeitsverdichtung ist ein Thema, die Entlohnung auch. Es ist aber auch die Wertschätzung. Es ist vielschichtig. Der eine Kollege braucht ein gutes Wort, der andere ein paar Euro mehr, und der dritte braucht eine Perspektive. Durch Corona und Home-Office hatten wir keine Leute mehr vor Ort, die Ansprechpartner waren nicht mehr da, Probleme wurden nicht mehr gelöst. Die Kollegen sollen alle Tätigkeiten möglichst digital, mit dem Handy oder Tablet machen – aber die Systeme sind nicht kompatibel, meine Maske passt nicht zu der des Kollegen. Der navigiert mich zwei Stunden durch das System, und dann ist alles plötzlich wieder weg. Es gibt einfach zu viele solcher Herausforderungen.
Es geht also nicht nur um höhere Löhne?
Eine Umfrage hat letztes Jahr eindeutig ergeben: Die weichen Faktoren fehlen. Wir hatten mal Bahnwohnungen, die haben wir verkauft. Wir hatten mal ein Bahnsozialwerk, die haben günstige Urlaube ermöglicht. Da konnte ich trotz schmalem Gehalt für 100 D-Mark auf Sylt Ferien machen. Das gibt es noch; aber nicht mehr zu günstigen Konditionen. All die Dinge sind nicht mehr da.
Die EVG steht nach der Tarifrunde unter Druck. Wird die nächste Tarifauseinandersetzung noch härter?
Wir haben für drei von sechs Funktionsgruppen etwas erreicht. Für die anderen drei müssen wir am Ende der Tarifzeit nachziehen. Wir wollen für die Lokführer einen eigenen Tarifvertrag, um uns auch von den Mitbewerbern abzugrenzen. Wir wissen, dass wir im Bereich der Verwaltung, Planung und Disposition keine Leute mehr finden. Also müssen wir auch da etwas machen. Auch im Cargobereich muss etwas passieren, auch da gibt es den reinen Mangelbetrieb.
Weiß der Bahnvorstand, dass Sie nachlegen wollen?
Ich hoffe, dass er das weiß.
Jetzt dauerte die Tarifauseinandersetzung sechs Monate – und es wird nicht einfacher werden beim nächsten Mal.
Ganz sicher nicht. Der Bahnvorstand muss sich einfach fragen lassen, ob er mit seinen Angeboten noch zeitgemäß ist. Als Belegschaftsvertreter hat mir dieser Abschluss nicht geholfen, um neue Kollegen und Kolleginnen zu finden. Wir haben in NRW eine Ausschreibung gegen einen Wettbewerber verloren. Der hatte einen Headhunter eingeschaltet, der auf den Bahnhöfen unsere Leute abgeworben hat, mit Lohnzusagen, die 200 bis 500€ Euro über unseren Löhnen lagen.
Ist die Arbeit im Personennahverkehr wirklich nicht mehr attraktiv?
Der Schienenpersonennahverkehr ist 365 Tage im Jahr im Einsatz, sieben Tage die Woche. Wenn wir die Berufe im ÖPNV nicht attraktiver machen, wird niemand mehr Busfahrer, Lokführer oder Straßenbahnfahrer. Wir haben insbesondere bei Busfahrern und Zugbegleitern eine hohe Zahl an Übergriffen, die sind noch einmal signifikant gestiegen – es hatte also nicht nur mit Maske und Corona zu tun. Deshalb ist der Beruf nicht mehr attraktiv, und wir müssen alles tun, damit er wieder attraktiv wird. Wir brauchen die Menschen.
Wie machen Sie den Beruf wieder attraktiv?
Wir müssen über Arbeitszeitmodelle nachdenken, über Schichtmodelle. Wir müssen dafür sorgen, dass auch Frauen wieder solche Jobs machen. Dazu gehört Sicherheit, auch subjektive Sicherheit, da ist aber auch der Staat gefragt. Wir haben doch teilweise Räume aufgegeben und dem Recht des Stärkeren überlassen. Solange der Seehofer-Erlass bei der Bundespolizei gilt, dass wir nämlich zunächst einmal die bayrischen Außengrenzen schützen, bevor wir auf die Sicherheit der Bahn gucken, haben wir ein Problem.
Warum werden Busfahrer, die ja nichts anderes tun, als ihren Job zu machen, attackiert?
Manchmal scheint es mir ein Sport zu sein, scheint es geil zu sein, einen Busfahrer anzupöbeln oder anzugreifen. Es gibt Menschen, die steigen in einen Bus, schalten die Kamera ein und filmen, dass sie jetzt jemandem auf die Schnauze hauen. Die Aggressivität in der Gesellschaft nimmt zu. Warum? Ich kann es nicht erklären.
Stichwort Aggressivität: Die Bahn beklagt enorme Schadenssummen durch mutwillige Zerstörungen am Rollmaterial. Wie sehen das ihre Leute?
Verrohung und mutwillige Zerstörungen heißt, dass Sitze herausgerissen werden, Türen eingetreten, Scheiben eingeschlagen. Eine besondere Rolle spielen die Fußballfans. Es gab ein Spiel zwischen Dynamo Dresden und Bayreuth. Da ist ein Rolltrupp von Dresdener Hooligans durch den Zug, professionell vorbereitet. Die kommen mit Klebeband und Spraypistolen, kleben die Kameras ab, verwüsten die Züge und steigen wieder aus.
Das sind Regel- oder Sonderzüge?
Regelzüge. Wir haben mittlerweile Schäden im zweistelligen Millionenbereich pro Jahr. Aber was noch viel schlimmer ist: Die Bundespolizei bleibt auf dem Bahnsteig, weil die Hundertschaft angeblich zu klein ist, um in den Zug rein zu gehen. Aber gleichzeitig sollen die kleine Zugbegleiterin und der kleine Zugbegleiter im Zug für Ruhe sorgen. Das geht so nicht mehr. Wir brauchen Doppelbesetzungen, damit Kollegen sich gegenseitig helfen können. Auch die Bodycam ist ein Thema. Damit ich sehe, wie sich was hochschaukelt. Damit nicht der Mitarbeiter am Ende den Kürzeren zieht.
Befürworten Sie Bodycams und was sagen Ihre Mitglieder dazu?
Ich befürworte alles, was uns beim Thema Sicherheit nach vorne bringt. Dazu gehört auch die Bodycam. Wir haben das lange diskutiert, haben mit Landespolizeien und Bundespolizei gesprochen, wo die Kameras bereits eingeführt sind. Wir wollen Standards haben. Entscheidend ist die Tonaufnahme. Natürlich muss es freiwillig bleiben. Wir machen im Moment einige Pilotprojekte. Das war zu Beginn eher schwierig; da wurde auf den Preis geguckt, es musste wie immer erst was passieren. In diesem Fall war es der Messerangriff bei Hamburg – und dann gingen plötzlich Dinge, die vorher nicht gingen. Wir brauchen auch einen Notfallknopf, damit wir Alarm schlagen können. Die Kollegen sind ja oft allein unterwegs. Nicht wie im Fernverkehr, wo der Zug alle 200 Kilometer hält. Bei uns kann der Übergriff überall passieren und zwei Kilometer weiter steigt der Täter aus.
Sind Doppelbesetzungen nicht Standard?
Das hängt immer von der Bestellung der Länder ab und ist inzwischen eher die Ausnahme als die Regel. Und wenn die Länder aus Kostengründen Züge ohne Zugbegleiter bestellen, fahren die Züge eben ohne Zugbegleiter.
Wenn die Länder sparen wollen, gibt es keine Zugbegleiter?
Genau. Wir sind an einem Punkt, an dem das Motto „Geiz ist geil“ nicht mehr geht. Wenn die Politik eine Verkehrswende möchte, geht es nur mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verkehrsunternehmen, und es geht nur, wenn die Kollegen gerne arbeiten. Wir reden über technischen Fortschritt in den Zügen, über modernes Design, sexy Züge – aber am Ende muss man auch die Frage stellen: Wer fährt diese Züge? Das kommt mir viel zu kurz. Die Besteller müssen wissen, wenn wir kein Geld bekommen, können wir nicht liefern.
Was sagt eigentlich der Bundesverkehrsminister zur Gewalt in den Zügen? Immerhin hat er dem EVG-Vorsitzenden vor einem Jahr ja Unterstützung versprochen?
Vor wenigen Tagen war genau das das Thema mit über 300 Betriebsrät*innen in Fulda. Da haben der Verkehrsminister und DB-Regio-Chefin Evelyn Palla noch einmal versprochen, die Themen Sicherheit und Wertschätzung sehr prioritär zu behandeln. Wir sind gespannt.
Die öffentliche Hand nimmt in den nächsten vier Jahren 24 Milliarden Euro zusätzlich für die Infrastruktur in die Hand. Wie weit kommen wir damit?
Die Regionalisierungsmittel wurden auf 17,1 Milliarden Euro fast verdoppelt. Daraus speisen sich ÖPNV und Straßenpersonennahverkehr. Aber das reicht nicht, das sichert nur den Status Quo, aber keinen Schritt mehr. Gestiegene Energie- und Personalkosten, die Fahrzeugpreise haben sich fast verdoppelt, verschiedene Bauteile dürfen Sie wegen kritischer Infrastruktur nicht mehr verbauen. Wenn wir Verkehrswende wollen, müssen wir investieren. Und die Politik muss sagen, wohin sie will.
Die 24 Milliarden reichen nicht?
Nein, sie reichen nicht. Vor allem aber brauchen wir einen Langfristplan. Kein Bauunternehmer kauft sich einen Bagger, wenn er weiß, nach zwei Jahren ist kein Geld mehr da.
Was bringen die Streckenertüchtigungen von Berlin nach Hannover oder auf der Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt?
Sie bringen tolle Dinge. Aber wir müssen auch über die Knotenpunkte reden. Und wenn Sie auf die Knoten Frankfurt oder Mannheim schauen, sind die heute schon zu 120 Prozent überlastet. Wenn ein Besteller Geld übrig hätte und wollte zehn Züge am Tag zusätzlich nach Frankfurt schicken, müsste jedes Unternehmen ablehnen, weil es Frankfurt nicht anfahren kann. Weil Frankfurt voll ist. Es nützt nichts, nur die Strecken zu machen, wir müssen in die Bahnhöfe rein. Wir brauchen Bahnhöfe auf der Strecke als Einfallstor, wir brauchen Mobilitätshubs – öffentlich zugängliche Knotenpunkte, an denen verschiedene Fortbewegungsmittel jederzeit zur Verfügung stehen.
Aber in Mannheim oder Frankfurt können Sie doch gar nicht mehr erweitern.
Richtig, da geht nichts mehr. Da brauchen wir intelligente Lösungen, intelligente Streckenführung, wir müssen die Potenziale vor und hinter dem Bahnhof ausreizen.
Für das Bundesinnenministerium steht der chinesische Software-Konzern Huawei auf dem Index, die Bahn hat viel mit Huawei zusammengearbeitet. Was heißt der Ukas für die Bahn?
Wir haben zahlreiche Systeme, die mit Bauteilen von Huawei ausgestattet sind. Alles was eingebaut ist, wurde seinerzeit von den Sicherheitsbehörden freigegeben. Wenn wir das alles ausbauen müssten, käme wohl ein mittlerer dreistelliger Millionenbetrag zusammen. Ich stelle mir das katastrophal vor und weiß nicht, ob wir Stuttgart 21 dann in den nächsten 15 Jahren fertig stellen. Aber es gibt bisher keine Anweisung, irgendwas zu verändern.