Carola Reimann, 54, ist seit anderthalb Jahren für 27 Millionen Krankenversicherte zuständig. Verantwortung ist für sie nichts Neues: Die AOK-Chefin war zuvor Ministerin in Niedersachsen für Gesundheit, Arbeit, Soziales und Gleichstellung. Davor, von 2000 bis 2017, saß die promovierte Biotechnologin für die SPD im Bundestag.
Reimann hat damals miterlebt, wie die Fallpauschalen als Finanzierungsmittel für die Krankenhäuser von ihrer Parteifreundin und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt 2003 eingeführt wurden. Und sie erlebt jetzt – quasi von der anderen Seite –, wie der Ausstieg aus diesem System in Angriff genommen wird.
Die Fallpauschalen sollten die Krankenhäuser zu einem besseren Umgang mit den Mitteln der Krankenkassen bringen, indem sie pro Eingriff einen spezifischen Preis definierten, statt wie bisher vor allem Tagessätze zu vergüten. „Am Anfang hat das funktioniert“, sagt Reimann. „Aber mit der Zeit steigerten die Krankenhäuser ihre Eingriffe, um damit mehr Einnahmen zu erzielen.“ Masse statt Klasse: Ärzte operierten schwierige Befunde in Kliniken, die dafür nicht so gut ausgestattet waren wie eigens zertifizierte Zentren. Herzinfarktpatienten kamen in Krankenhäuser, die gar kein Herzkatheterlabor hatten, und mussten weiterverlegt wären – wobei lebensrettende Zeit verstrich.
Dass Karl Lauterbach diese Praxis ändern will mit seiner Krankenhausreform, begrüßt Carola Reimann. Kern der Reform ist es, dass nur noch 40 Prozent der Vergütung über Fallpauschalen läuft. D as Gros der Kosten soll eine Vorhaltepauschale für das Krankenhaus als solches abdecken. Allerdings nur dann, wenn die betreffende Klinik die Qualifikation in ihren Fachbereichen nachweislich erbringt.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft verbreitet gerade eine Umfrage, an der 446 der 1719 deutschen Krankenhäuser teilgenommen haben. 60 Prozent der befragten Klinikleitungen glauben demnach nicht an eine Verbesserung der Qualität durch die Reform, 44 Prozent befürchten Schließungen von Fachabteilungen bis hin zu Standorten, 73 Prozent glauben nicht an eine Entspannung beim Personalmangel.
Die AOK-Chefin sieht das entschieden anders. „Die Krankenhausreform wird die Qualität der Versorgung verbessern“, sagt sie. Sie nennt ein Beispiel: In Kliniken, die weniger als 25 mal im Jahr ein Kniegelenk ersetzen, sei das Risiko einer erneuten Knie-OP mehr als 40 Prozent höher als in Häusern mit mehr als 53 oder mehr solcher Eingriffe. Spezialisierung diene dem Schutz der Patienten. „Und auch der Fachkräftemangel wird sich durch eine Konzentration der Versorgung verbessern.“
Insbesondere in den Ballungsräumen sieht Reimann Handlungsbedarf: In den meisten Großstädten gibt es viele kleine, unwirtschaftliche Kliniken. Wenn diese die geforderte Qualität und Ausstattung nicht erbringen können, würden sie aus der neuen Vorhaltefinanzierung fallen. Reimann hat erlebt, dass manche Fusionen besser angenommen werden als erwartet, sogar auf dem Land. In Niedersachsen sind in verschiedenen Regionen aus zwei oder drei Krankenhäusern ein zentraler Standort geworden. „In einem neuen Zentralkrankenhaus gab es anfangs sogar einen Shuttleservice für die Patienten, weil es vorher hieß, die Wege wären zu lang. Der wurde aber aufgegeben, weil die Leute ihn nicht nutzten“, erinnert sich Reimann an ihre Zeit als Gesundheitsministerin.
Klärungsbedarf sieht sie deshalb bei kleinen Kliniken auf dem Land, die dann beibehalten werden sollen, weil sie für die Versorgung der Bevölkerung notwendig werden. In Lauterbachs Eckpunkten heißen sie Level-1i-Krankenhäuser, „i“ steht für Integration der Sektoren. Sie sollen künftig nämlich neben stationären auch ambulante Eingriffe anbieten oder Tagespflege für Ältere. Wie genau die Finanzierung erfolgen soll in einem System, das bisher strikt zwischen ambulantem und dem stationären Sektor unterscheidet, ist unklar. „Noch sind die neuen 1i-Kliniken schillernde Projektionsflächen“, sagt Reimann schmunzelnd. Die Idee sei aber wegweisend.
Die andere große Reform des Bundesgesundheitsministers ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens. „Wir brauchen bessere Daten für die Versorgung“, sagt Reimann. „Wenn die elektronische Patientenakte sich durchsetzt und wir Versicherer einen Einblick in die Daten haben, können wir zielgenau sehen, wo wir das System nachsteuern müssen, wo es vielleicht Über-, Unter-, Fehlversorgung gibt oder wo wir besondere Präventionsleistungen anbieten müssen.“
Ihr Parteifreund Karl Lauterbach hat ein ambitioniertes Ziel ausgegeben: B is Ende 2025 sollen 97 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger elektronische Patientenakten (Epa) haben, möglichst als App auf ihrem Handy. Reimann findet das Ziel richtig. In der Akte würden dann auch Medikamente geführt, so dass verschiedene Ärzte nicht aus Versehen problematische Arzneimittelkombination verschreiben. „Das passiert viel häufiger als man ahnt“, sagt Reimann. „ Zu viele und miteinander unverträgliche Medikamente gefährden die Gesundheit massiv.“ Auch Warnungen, wenn ein Medikament zurückgerufen werden muss, sollten die Patienten über die Epa-App erreichen.
Lauterbachs zeitliche Zielvorgabe bei der Digitalisierung hält Reimann freilich für unrealistisch. Zumal ein anderer Parteifreund, Ulrich Kelber, Deutschlands oberster Datenschützer, auf der Bremse stehe. „Ich habe mit Kelber geredet“, sagt Reimann kurz. Ob er noch einlenken wird? Das wisse sie nicht. Lauterbach versuche nun, die Datenschützer nur noch „ins Benehmen zu setzen“, was die Digitalisierung angeht.
Beim Gesetz selbst meldet Reimann Nachbesserungswünsche an. Im Entwurf steht, die Kassen sollten dafür sorgen, dass alte Befunde der Patienten eingepflegt werden in die Akten. „Wie soll das denn geschehen, etwa per Scan und Pdf?“ Reimann schüttelt amüsiert den Kopf. „Wir brauchen dazu strukturiert aufbereitete Daten, sonst nutzen die niemandem.“ Die Krankenkassen wären darüber hinaus schon aus Datenschutzgründen nicht die richtigen für diesen – aufwendigen und kostspieligen – Job. Ohne die Ärzte ginge das nicht. F ür die 18. August haben die Kassenärzte eine Krisensitzung zur Befüllung der E-Akte anberaumt.
Und dann sind da noch die „DiGA“, die digitalen Gesundheitsanwendungen. Die sollen demnächst mehr eingesetzt werden können. Nicht im Gesetzentwurf stehe leider, kritisiert Reimann, dass eine DiGA zuvor erstmal nachweisen muss, dass sie auch Verbesserungen bewirkt. „Für unspektakuläre Abspeckprogramme per DiGA für adipöse Patienten wurden schon astronomische Preise verlangt.“ Auch die vom BMG geplante Ausweitung der Telemedizin auf über 30 Prozent pro Kassensitz sieht Reimann kritisch. „Dann könnte ein Arzt in der Lausitz nur noch Patienten in Berlin und Hamburg betreuen, während vor Ort das Angebot fehlt.“
Umgekehrt aber könne Telemedizin Patienten Wege ersparen. Reimann berichtet von einer Familie auf dem Land, bei denen beide Kinder Diabetes haben. Bisher mussten sie regelmäßig ins Uniklinikum. Mit der virtuellen Diabetesambulanz für Kinder können sich die Eltern die Fahrt mittlerweile sparen: „Die Kinder haben jetzt einen Insulintracker. Die behandelnden Ärzte machen die nötige Neueinstellung nun am Video.“
Das Gute an den beiden Reformen – der Krankenhäuser und der Digitalisierung – sei, dass die Ampel geeint hinter ihnen stehe. Also inklusive der FDP. Den größten Reformbedarf sieht Reimann freilich bei der Pflege. Hier habe der Finanzminister zuletzt eine Milliarde Euro Bundeszuschuss gestrichen, so dass der Pflegevorsorgefonds nicht befüllt wird – dabei hätte nicht einmal dieses Geld gereicht, um die Finanzierungslücke zu schließen.
Stattdessen steht der Plan einer kapitalgedeckten Pflegeversicherung im Raum, für den die Privaten Krankenkassen werben. „Das wollen die Bürgerinnen und Bürger nicht“, sagt Reimann, „sogar die privat Versicherten befürworten laut einer aktuellen Befragung die kollektivvertragliche Absicherung.“
Ob sie ihren Job als Politikerin vermisse? Die AOK-Chefin lacht. „Nein! Ich finde meine neue Aufgabe mindestens genauso spannend und wichtig.“