Table.Media: Warum haben Sie eine Statue von Rosa Luxemburg im Garten und nicht Marx und Engels?
André Brie: Ich habe sie schon immer geliebt und bewundert. Im November 1989 habe ich gegen Krenz mit einem selbstgemalten Plakat demonstriert, unter dem Banner von Rosa Luxemburg! Außerdem war es ihr 150 Geburtstag.
Sie waren ihr ganzes politisches Leben bei der Linken – zuerst in der PDS, dann vor allem im Europaparlament – wie blicken Sie heute auf Ihre Partei?
Ganz zuerst war ich in der SED. Da war ich sehr unzufrieden und auch heute bin ich sehr unzufrieden mit meiner Partei. Nach dem Erfurter Parteitag, als Martin Schirdewan sagte: Wir sind wieder da. Da dachte ich, wo sind wir? Wir sind doch gerade tief unten, und zwar überall. In Brandenburg nur noch sieben Prozent. Da haben wir mal mitregiert. Und so ähnlich sieht es ja fast überall aus. Und mir scheint es wirklich manchmal – das war ja mein Leben seit 1989, etwas Neues zu machen – aber das scheint jetzt alles kaputt zu gehen.
Wie ist es dazu gekommen?
Wenn man ein bisschen zurückschaut, ungefähr 2013, als es mit Gregor Gysi und Oskar Lafontaine zusammenging, da haben wir die Leute noch erreicht, die ein Ventil brauchten, eine Alternative. Heute ist die AfD diese Alternative, obwohl sie in Wirklichkeit keine Alternative anbietet. Aber sie ist jetzt dieses Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen. Das sind nicht mehr wir.
Woran liegt es, dass die Lage so schlecht ist?
Es gibt viele Probleme. Angefangen damit, dass wir nicht mehr so viele Mitglieder haben. In den 90er Jahren waren wir zumindest im Osten eine mitgliederstarke Partei und waren in jedem Verein, auf jedem Stadtfest, in jeder Kommune vertreten. Dadurch konnten wir die Menschen erreichen. Das können wir so nicht mehr. Das ist auch nicht so schnell zu ändern. Heute ist die Partei vor allem im Osten einfach zu alt.
Dabei gäbe es doch genug Themen – warum kann die Linke davon nicht profitieren?
Uns fehlen die Mitglieder. Wir sind nicht mehr so richtig an der Basis. Die Linke kann nur wieder Kümmererpartei werden, mit Mut, Kreativität, mit Aktionen. Sie müsste den Menschen zeigen, wir sind keine Partei wie jede andere. Aber all das passiert zurzeit nicht. Die Linke macht heute vor allem Parlamentsarbeit. Reden halten, Anträge stellen, all das ist ja auch gut, aber damit erreicht man die Leute nicht wirklich. Die Themen sind alle da und die Linke spricht sie im Bundestag an, aber sie spricht nicht die Menschen an, die betroffen sind. Deshalb müssten wir mehr Öffentlichkeitsarbeit machen. Nicht mit Papier, nicht mit Kommerz, sondern mit Aktionen. Mit wirklichem Mut.
Wie könnte das aussehen?
Bei mir im Carport liegen drei vier mal fünf Meter große Transparente, die wir mal hochgezogen haben und die man immer noch nutzen könnte – zum Beispiel gegen die Banken. Ich habe 2018 ein Plakat entwickelt, zum Reformationstag. Gregor Gysi sagte damals, dann brauchen wir auch 95 Thesen – wie Martin Luther – und 95 Menschen, die das unterzeichnen. Und ich habe das geschafft: Das waren Menschen aus der katholischen und der evangelischen Kirche, Künstler und Politiker.
Warum ist Sahra Wagenknecht so beliebt?
Die Menschen sind von ihr beeindruckt, wenn sie sie im Fernsehen sehen. Außerdem kann sie durch die Differenzen zur Partei punkten. Hier auf den Dörfern in Mecklenburg und Brandenburg gibt es kaum noch Leute, die die Linke wählen. Aber Wagenknecht erreicht sie eben auch mit ihrer Kritik an der Linken. Natürlich auch mit ihren Argumenten und Kenntnissen, aber vor allem, wenn sie der eigenen Partei widerspricht. Das erkenne ich an.
Auch, wenn es der Partei schadet?
Das ist ein größeres Problem der Linken, dass sie zerrissen ist. Das betrifft nicht nur Sahra, das geht weit darüber hinaus.
Der Parteivorstand hat eine Zukunft ohne Wagenknecht beschlossen – finden Sie diese Entscheidung richtig?
Ich habe keinen Kontakt mehr zu Sahra Wagenknecht, aber bei allen Problemen hätte ich sie bei einer sozialistischen Partei auch gerne dabei und nicht in der Opposition zur Linken. Das hatten wir in den 1930er Jahren, als die Linke so zerrissen war. Es nützt immer nur der Rechten.
Sie waren in den 90er Jahren in der Grundsatzkommission der PDS – bräuchte die Linke heute wieder ein neues Grundsatzprogramm?
Ja unbedingt. Damals haben wir in der Kommission viele verschiedene Strömungen in der Partei eingeladen und Ortsverbände, um mit ihnen zu diskutieren über soziale Unzufriedenheit oder Ökologie. So eine Kommission gibt es heute nicht mehr. Wir haben uns damals auch, was ein großer Krach in der Partei war, nicht nur auf Karl Marx und Friedrich Engels bezogen, sondern auch auf Kautsky. Ich würde mir wünschen, dass in einem neuen Programm auch jemand wie Walter Benjamin eine Rolle spielt. Um zu zeigen, wo überall linke Ideen zu finden sind.
Wenn Sie Ihrer Partei jetzt einen Rat geben könnten – welcher wäre das?
Viel mehr Mut haben, viel mehr Empathie mit den Menschen. Und dann programmatisch wieder in die Öffentlichkeit kommen – dafür gibt es unendliche Möglichkeiten! Natürlich müsste sie die Moderne einbeziehen und auch den Intellektuellen deutlich machen, wie aktuell nach wie vor Sozialismus ist. Allein in diesem Buch [zeigt auf die Autobiografie von Barack Obama auf seinem Couchtisch], gäbe es viele Zitate. Der hat als junger Mensch Karl Marx gelesen. Ehrlich gesagt, wegen einer jungen Frau, die er wahrscheinlich beeindrucken wollte. Aber es gibt so viele Bezüge sozialistischer Ideen ins Heute. Ich habe erlebt, dass es vor 33 Jahren hieß: „Karl Marx ist tot, Jesus lebt“. Das würde heute niemand mehr sagen. Selbst die FAZ schreibt heute viel über Sozialismus, die Linke müsste diesen Diskurs wieder für sich gewinnen.