Analyse
Erscheinungsdatum: 29. August 2023

Aiwanger-Affäre: Viele offene Fragen und ein Dilemma für Makus Söder

Antisemitismus-Vorwuerfe: Soeder bestellt Aiwanger ein: Sonder-Koalitionsausschuss am Dienstag in Muenchen ARCHIVFOTO v.re:Ministerpraesident Dr. Markus Soeder und Hubert Aiwanger Vorsitzender Freie Waehler FW, Unterzeichnung des Koalitionsvertrags der CSU / Freie Waehler FW im Bayerischen Landtag in Muenchen am 05.11.2018 in Muenchen à *** Anti-Semitism accusations Soeder orders Aiwanger a special coalition committee on Tuesday in Munich ARCHIVE PHOTO v re State Premier Dr Markus Soeder and Hubert Aiwanger Chairman Free Voters FW , signing the coalition agreement of the CSU Free Voters FW in the Bavarian Parliament in Munich on 05 11 2018 in Munich Ã

Bild: Imago / Sven Simon
Während Hubert Aiwanger immer mehr Raum für Zweifel an seiner Darstellung öffnet, muss Markus Söder balancieren: Weder kann er einen Märtyrer durch Enthauptung gebrauchen – noch einen Antisemiten als Stellvertreter. Schon gar nicht fünf Wochen vor der Landtagswahl. Eine Analyse.

Wer in der Affäre um den Chef der Freien Wähler und stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger auf eine Entscheidung gesetzt hatte, entweder Entlassung oder Entlastung, lag falsch. Auch vier Tage nach dem ersten Bericht der Süddeutschen Zeitung, wonach Aiwanger in seiner Schulzeit vor 35 Jahren für ein antisemitisches Flugblatt verantwortlich gewesen sein soll, bleibt die Lage undurchsichtig. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hatte Aiwanger zu einer Krisensitzung einbestellt, bei der offenbar keine Klarheit über Aiwangers Grad der Verwicklung gewonnen werden konnte.

Von einer Entlassung Aiwangers, die vor allem die Opposition in Bayern fordert, sah Söder zwar ab, machte aber zugleich deutlich, dass sich das jederzeit ändern könnte, wenn weitere belastende Fakten auftauchen. Aiwanger muss jetzt – ein äußerst ungewöhnliches Vorgehen gegenüber einem Mitglied einer gemeinsamen Regierung – einen Katalog von 25 Fragen beantworten, den ihm sein Regierungschef Söder vorlegt. Er bleibt damit bis auf Weiteres ein Minister auf Abruf.

Dass die Lage so verworren ist, hängt zum einen mit Aiwangers Verteidigungsstrategie zusammen; zum anderen damit, dass durch neue Enthüllungen der Süddeutschen Zeitung weitere Fakten bekannt geworden sind, die den gesamten Sachverhalt wieder ein neues Licht gerückt haben. Ursprünglich hatte Aiwanger mehrfache detaillierte Fragen der Zeitung pauschal zurückgewiesen und für den Fall einer Veröffentlichung mit Klage gedroht. Möglicherweise hat er darauf gehofft, mit dieser Strategie eine Veröffentlichung verhindern zu können.

Als der erste Bericht dann erschienen war, änderte Aiwanger seine Strategie. Er bestritt zwar, selber der Verfasser des Flugblattes gewesen zu sein, teilte jedoch mit, dass er den wahren Verfasser kenne, der sich aber selber melden werde. Die SZ hatte inzwischen über ein von ihr in Auftrag gegebenes Schriftgutachten berichtet, wonach das antisemitische Flugblatt mit hoher Wahrscheinlich auf der gleichen Schreibmaschine geschrieben worden sei wie Aiwangers Facharbeit für die Schule. Kurz darauf erklärte sein elf Monate älterer Bruder, das Flugblatt seinerzeit verfasst zu haben.

Aiwanger selber gab dann zu, ein oder mehrere Exemplare des Flugblattes in seiner Schultasche gehabt zu haben und dafür auch vor einen Disziplinarausschuss der Schule zitiert worden zu sein und eine Strafe akzeptiert zu haben. (Die fiel mit der Verpflichtung, ein Referat über den Nationalsozialismus zu halten angesichts des menschenverachtenden Flugblattes unerklärlich milde aus). Auf Fragen der SZ hatte Aiwanger beides noch bestritten.

Nach diesen Erklärungen blieben viele Fragen offen, zum Beispiel, warum Aiwanger die Flugblätter in seiner Schultasche hatte, wo er mit der ganzen Sache doch angeblich gar nichts zu tun hatte. Hatte er sie möglicherweise in der Schule verteilt? Daran kann sich Aiwanger seiner eigenen Erklärung zufolge nicht mehr erinnern. Sein Bruder, der das Flugblatt aus Frust darüber, dass er sitzengeblieben war, verfasst haben will, erklärte darauf hin, sein Bruder Hubert habe die Flugblätter möglicherweise eingesammelt, um zu deeskalieren.

Nicht nur bei der Opposition, sondern auch in der CSU gibt es massive Zweifel an Aiwangers Darstellung. Sie haben durch einen weiteren Bericht der SZ neue Nahrung gehalten. Darin heißt es, dass bereits im Jahr 2008, als die Freien Wähler erstmals in den Landtag kamen, eine Emissärin der Partei bei Aiwangers ehemaligen Lehrer aufgetaucht sei, um sich zu erkundigen, ob von ihm eine „Gefahr“ für Aiwanger drohe. Für den Lehrer war klar, dass es bei dieser Frage um das Flugblatt gegangen sei. Und die gleiche Emissärin, eine Landtagsabgeordnete der Freien Wähler, hat sich dem SZ-Bericht zufolge am selben Tag, als Aiwanger mit den Vorwürfen konfrontiert worden sei, wieder bei dem Lehrer gemeldet.

Ministerpräsident Markus Söder steckt in der Causa Aiwanger in einem Dilemma, dass er sich allerdings selber eingebrockt hat. Er hat sich von Anfang an ausschließlich auf die Fortsetzung der Koalition mit den Freien Wählern festgelegt und vor allem zu den Grünen, die er vor zwei Jahren noch umgarnt hatte, alle Türen zugeschlagen. Wenn Söder Aiwanger entlässt, ohne dass ein hieb- und stichfester Beweis dafür vorliegt, dass Aiwanger beim Verfassen oder auch beim Verteilen dieses Flugblattes mitgewirkt hat, könnte das der CSU im Wahlkampf schaden und Aiwanger in der Märtyrerrolle zusätzliche Stimmen bescheren. Hält er dagegen an Aiwanger fest, ohne dass dieser die Vorwürfe glaubhaft entkräften kann, könnten sich liberale Teile der CSU-Klientel abwenden. Und er riskiert, dass der Ruf seiner Partei, die sich in ihrer Geschichte immer klar gegen jede Form von Antisemitismus ausgesprochen hat, nachhaltig beschädigt wird.

Söder hat sich in dieser Situation augenscheinlich für eine Art Mittelweg entschieden. Er lässt Aiwanger – noch – nicht fallen und signalisiert zugleich den Freien Wählern, dass eine Fortsetzung der bisherigen Koalition auch ohne Aiwanger möglich ist. Dieser Wink wiederum könnte dort eine ganz neue Dynamik auslösen. Denn während es an der Basis der Freien Wähler durchaus auch kritische Stimmen gibt, steht die Führung in Partei und Landtagsfraktion bisher fest hinter Aiwanger.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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