Analyse
Erscheinungsdatum: 18. Februar 2024

Afghanistan-Enquete: „Unsere Strategie ist gescheitert"

Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission zum deutschen Einsatz in Afghanistan liegt vor. Das ernüchternde Fazit: Falsche Einschätzungen, mangelndes Wissen und fehlende Koordination an allen Ecken und Enden.

53 deutsche Soldaten kamen ums Leben, viele mehr wurden verletzt, Hunderte kehrten traumatisiert zurück – eine Enquete-Kommission des Bundestages unter Leitung des SPD-Außenpolitikers Michael Müller (SPD) hat jetzt einen Zwischenbericht des fast 20 Jahre währenden deutschen Afghanistan-Einsatzes vorgelegt. 338 Seiten stark, detailliert, mit erstaunlich (selbst)kritischen Einschätzungen der Abgeordneten. Selbstgestecktes Ziel der Kommission: das gesamte deutsche außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Handeln in Afghanistan nach 2001 aufzuarbeiten und Lehren für das künftige vernetzte Engagement in der Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen.

Das Ergebnis ist ernüchternd: Mangelnde Kenntnis von Land und Leuten, Ressortegoismen in Berlin, eine defizitäre Koordination der internationalen Allianz, falscher Umgang mit den Taliban, die Konzentration auf die großen Städte des Landes – die Liste der Fehleinschätzungen und unzureichenden Strategien ist lang.

Immerhin, für den größten deutschen Auslandseinsatz seit 1945 liegt nun eine umfassende Bilanz vor. Eine Bilanz, die auch die Chance bietet, allfällige weitere internationale Einsätze besser vorzubereiten und umzusetzen. Vielleicht verdankt der Bericht seinen besonderen Wert, auch seine Ernsthaftigkeit, dem Umstand, dass an den Afghanistan-Entscheidungen während der 20 Jahre Politiker von Union, SPD, Grünen und FDP beteiligt waren; abgesehen von AfD und Linkspartei konnte sich also niemand der Verantwortung entziehen.

Schon der Start nach dem 11. September 2001, das Hineinstolpern in den Einsatz, war eher der bedingungslosen Solidarität gegenüber den USA als einem eigenen strategisch hinterlegten Kalkül geschuldet. Und so ging es weiter. „Eine fortlaufende, selbstkritische Bestandsaufnahme hinsichtlich der sehr hoch gesetzten Ziele, deren Realisierbarkeit und dem dafür notwendigen Ressourceneinsatz hat nicht ausreichend stattgefunden“, heißt es in dem Bericht.

Zu viel ging schon im Ansatz schief. Der Aufbau der afghanischen Armee etwa begann ohne vorhandene Streitkräftestrukturen. Geführt wurde er von den USA mit deren Einsatzgrundsätzen, Strukturen und Waffensystemen, die nicht am afghanischen Bedarf orientiert waren. Am Aufbau der Polizei, die eine entscheidende Bedeutung für die nachhaltige Stabilisierung eines Landes haben sollte, war Deutschland zwar maßgeblich beteiligt. Bei den jährlichen Mandatsberatungen für den Einsatz der Bundeswehr spielte die Polizeikomponente jedoch fast nie eine Rolle.

„Unsere Strategie ist gescheitert“, analysiert auch die Obfrau der SPD in der Kommission, Derya Türk-Nachbaur. „Wir haben die Menschen vor Ort zu wenig einbezogen. Die Akzeptanz war nicht so wie gewünscht.“ Sie erinnert an den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der schon 2007 empfohlen hatte, die gemäßigten Taliban zu Friedensgesprächen dazu zu holen und dafür heftige Prügel einstecken musste. „Beck hatte damals Recht – Frieden schließt man mit Feinden, nicht mit Freunden.“ Heute heißt es in dem Bericht, die verschiedenen Bundesregierungen hätten sich „zu wenig mit den Taliban als Teil der Gesellschaft und zentralem Konfliktakteur" befasst. Berlin habe „ihren zunehmenden Einfluss unterschätzt und ihre Erfolgschancen nicht ernst genommen“.

Oder der Umgang mit der Korruption im Land. „Die alle Bereiche und Ebenen umfassende Korruption war von Beginn an bekannt, wurde toleriert und seitens der westlichen Staatengemeinschaft nicht konsequent und nachhaltig bekämpft“, heißt es in dem Bericht. Die Weltbank habe 2010 geschätzt, dass etwa 30 Prozent der Finanzhilfen abgezweigt worden seien. Zum Teil sei die Korruption „sogar unbeabsichtigt befördert“ worden. Das habe „das Ansehen der westlichen Akteure in Afghanistan nachhaltig beschädigt“.

Ein Polizeiführer, der als Sachverständiger vor der Kommission auftrat, formulierte es so: „Sie wissen selbst von der Breite dieser Korruption, die sich ja wie ein Krebsgeschwür durch alle Ebenen durchgezogen hat, auf unterer und oberer Ebene, sind wir ihr nie Herr geworden. Und wir haben vielleicht nicht immer so hingeguckt, wie man es vielleicht hätte machen können.“

Ernüchternd fällt auch die Bewertung der Unterrichtung im Bundestag aus, der das Bundeswehr-Mandat regelmäßig verlängern musste – und das auch weitgehend anstandslos tat. Die Bundesregierung informierte in der Regel unvollständig und ereignisbezogen. „Ein realistisches Lagebild stand den Abgeordneten über weite Strecken nicht zur Verfügung“, heißt es im Bericht. Zu oft hätten die Bundesministerien die Lage „positiv im Stil von Fortschrittsberichten“ dargestellt, dies habe das „rechtzeitige Lernen aus Fehlentwicklungen verhindert“.

Über Einsätze des KSK etwa seien die Obleute von Auswärtigem Amt und Verteidigungsausschuss zwar regelmäßig unterrichtet worden – „von einer parlamentarischen Kontrolle war das aber weit entfernt“. Auch die Vorort-Besuche der Abgeordneten trugen nur bedingt zur Aufklärung bei. „Abgeordnetenbesuche wurden dann fragwürdig, wenn mittels reibungsloser Besuchsorganisation Fortschritt nur vorgespielt wurde, wenn Besucher/-innen nur ihre Meinungen bestätigt sehen wollten oder meinten, mit ihrer Kurzvisite einen Überblick über die Gesamtlage gewonnen zu haben“. Kritische Nachfragen von Abgeordneten an Kommandeure hätten „Zweifel an der Haltung parlamentarischer Auftraggeber“ geweckt. Sich verschärfende Sicherheitslagen habe die Bundesregierung mit „nur abwiegelnden Antworten“ quittiert. Soldaten vor Ort beklagten, „dass Berichte aus dem Einsatz auf dem Weg nach oben immer wieder abgemildert und schöngeschrieben“ worden seien.

Ungeschminkt attestieren sich die Abgeordneten selbst eine Überforderung, das Mandat angemessen zu begleiten. „Angesichts der Fremdheit und Komplexität des Konfliktlandes Afghanistan und seiner fragmentierten, kriegszerrütteten Gesellschaft“ seien „die Fachausschüsse und Abgeordneten in ihrer Aufstellung mit einem Stabilisierungseinsatz mit so anspruchsvollen Zielen strukturell überfordert“ gewesen. Dies sei von einer Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung begleitet worden, „der es an ressortgemeinsamer strategischer Orientierung, ehrlicher Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit mangelte“.

Vor allem aber gelang es der internationalen Gemeinschaft nie, das macht der Kommissionsbericht immer wieder deutlich, sich in der Breite der afghanischen Gesellschaft Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Zu viele „Entscheidungen (seien) ohne Einbindung der afghanischen Regierung und vor allem der Bevölkerung getroffen“ worden.

Weil die Allianz etwa mit ehemaligen Warlords des Bürgerkriegs kooperierte und diese sogar in die Regierung einband. Warlords, denen teilweise schwere Menschenrechtsverbrechen zur Last gelegt wurden. Ihre Wiedereingliederung habe von Beginn an den Aufbau staatlicher Strukturen und eines demokratischen Rechtsstaats unterlaufen. Der Einbezug zahlreicher Warlords in den Wiederaufbau ohne einen Aufklärungs- oder Aussöhnungsprozess habe sich „als eine der weitreichendsten Fehlentscheidungen der internationalen Gemeinschaft“ erwiesen. Ein neues Rechtssystem zu etablieren sei nahezu unmöglich gewesen, „wenn sich dieses System in Teilen auf die Schultern nachweislicher Kriegsverbrecher und deren Truppen stützte“. Und weil es gleichzeitig keine Bemühungen gab, die Taliban in den Friedensprozess einzubeziehen, seien diese erst in die Lage versetzt worden, sich als „legitime Opposition zu einer korrupten und vom Ausland bestimmten Regierung“ darzustellen.

Immerhin gab es auch vereinzelt positive Ansätze. Eine ganze Generation, darunter vor allem Mädchen, hatte immerhin die Chance, eine Schule zu besuchen. Die Bundeswehr zog schnell Lehren – im Einsatz, in der Vor- und Nachbereitung. Schon bei der gerade beendeten Operation in Mali hat die Truppe zahlreiche Erkenntnisse aus Afghanistan umgesetzt. Die Entwicklungszusammenarbeit stellte um auf eher kleinere, integrative Projekte. Überhaupt klappte die militärisch-zivile Kooperation vor Ort ganz passabel, besser jedenfalls als in Berlin.

Und die Lehren aus dem Kommissionsbericht? Einiges liegt auf der Hand. „Wir müssen bei künftigen Einsätzen Land und Leute besser kennen“, sagt SPD-Obfrau Türk-Nachbaur, „und wir müssen uns realistische Ziele setzen“. Vor-Ort-Berichte müssten „ungefiltert den Bundestag erreichen“. Und, so ihre Bilanz: „Die Abhängigkeit von den USA war zu hoch; wir hätten selbstbewusster auftreten müssen.“ Umso mehr sei nun erforderlich: „Wir brauchen künftig als Standard schonungslose Analysen aller internationalen Einsätze.“

Ursprünglich wollte die Enquete-Kommission ihren Abschlussbericht bis nach der Sommerpause vorlegen, inklusive Lernempfehlungen. Doch dieser Zeitplan lässt sich nicht mehr einhalten. „Ein Abschluss unmittelbar nach der Sommerpause 2024 ist vor dem Hintergrund der noch bevorstehenden Aufgaben nicht realisierbar“, heißt es in einem gemeinsamen Antrag von SPD, Union, Grünen und FDP, der in dieser Woche in den Fraktionssitzungen beraten werden soll.

Nun wird die Kommission bis Ende des Jahres weiter arbeiten, um konkrete Empfehlungen für das zukünftige Engagement Deutschlands in internationalen Einsätzen zu entwickeln. Der Abschlussbericht soll dann im Frühjahr 2025 vorliegen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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