Analyse
Erscheinungsdatum: 30. Juli 2023

Afghanistan-Enquete-Chef Michael Müller: „Es gab Fortschrittsberichte, aber keinen Fortschritt“

MdB und ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin Michael Müller im Interview in Berlin am 16. März 2023. Michael Mueller *** MdB and former governing mayor of Berlin Michael Mueller in interview in Berlin on 16 March 2023 Michael Mueller
Michael Müller, SPD, ehemaliger Berliner Bürgermeister und heute Bundestagsabgeordneter, sitzt der Enquete-Kommission Afghanistan vor, die das knapp 20-jährige Engagement am Hindukusch aufarbeiten und Lehren aus dem Scheitern ableiten soll. Müller benennt Fehleinschätzungen, Defizite in der Vorbereitung und grundlegende Versäumnisse in der deutschen Außenpolitik.

Können Sie nach einem Jahr Arbeit in der Enquete-Kommission eine Zwischenbilanz ziehen?

Ich bin sehr positiv erstaunt über die ernsthafte und konstruktive Atmosphäre, die starke Beratung und Unterstützung durch die Sachverständigen. Natürlich haben wir noch nichts abschließend festgehalten, aber wir haben schon erste Erkenntnisse, die sich in den Anhörungen verdichten und wiederholen, was den Einsatz als solchen und die Koordinierung anbelangt.

Worin bestehen die Erkenntnisse?

Die mangelnde Ressortkoordinierung hier in Berlin, aber auch vor Ort; und das, obwohl viele Ministerien gefordert waren, es waren nicht nur das Außen- und Verteidigungsministerium. Wir lernen, wie wichtig auch andere Ressorts waren, Inneres, BMZ, Wirtschaft, Finanzen, bis hin zu Bildung. Fast jedes Ressort war irgendwie beteiligt. Aber eine weitgehende Abstimmung hat offensichtlich weder in Berlin stattgefunden noch vor Ort: Wer macht eigentlich was und mit welchem Ziel?

Dazu gab es keine Abstimmung?

Wie wir immer wieder hören, zumindest keine von allen Beteiligten.

War denn die Bundeswehr ihrer Aufgabe gewachsen?

Sie war nicht hinreichend vorbereitet. Vielleicht konnte sie es auch gar nicht sein nach dem 11. September. Es musste alles sehr schnell gehen, insbesondere nach der Erklärung der uneingeschränkten Solidarität von Gerhard Schröder. Die hat auch Außenminister Joschka Fischer noch mal betont. Und ein dritter Punkt, der immer wieder auftauchte: Wir haben das Land nicht wirklich verstanden; wir haben die Taliban nicht wirklich verstanden. Wir haben sehr viel an der Situation in den Städten festgemacht, aber eigentlich wussten wir nicht ausreichend, was in diesem riesigen Land passiert und wie die Entscheidungsstrukturen sind.

Fast 20 Jahre waren Bundeswehr und NGOs im Land. Warum sind in dieser langen Zeit die Lehren und Lernerfolge so bescheiden geblieben?

Ich weiß nicht, ob man das so pauschal behaupten kann. Es gab ja Erfolge, beim Aufbau der Infrastruktur, Bildungsangebote, 20 Jahre bedeutet ja Bildung für fast eine Generation, für Menschen, die etwas völlig anderes erlebt haben als vorher. Es gab eine wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherheit wurde besser, der Kampf gegen Drogen – das hat ja alles stattgefunden und von dieser Erfahrung bleibt auch viel. Aber es ist uns nicht gelungen, das nachhaltig abzusichern. Und es ist auch nicht gelungen, in irgendeiner Form einen Staatsaufbau voranzutreiben, wie wir ihn verstehen und wie wir es eigentlich vorhatten, also mit einer Verwaltung, Justiz und einem funktionierendem Polizeiapparat. Da müssen wir selbstkritisch sagen: Das hat gar nicht oder zumindest nicht hinreichend funktioniert.

Warum gab es nach einer Spanne von fünf, sechs, sieben Jahren nicht den Versuch, mal eine Zwischenbilanz zu ziehen: Was hat funktioniert, was nicht, wo müssen wir umsteuern?

Das wird genau der Punkt sein, den wir noch genauer anschauen müssen. Auch, um in Zukunft besser zu werden. Es muss eine offene Fehlerkultur geben und die Möglichkeit, jenseits von Fortschrittsberichten, die immer vorgelegt wurden, offen und ehrlich zu überprüfen, was können wir militärisch, finanziell, humanitär und was wollen wir in Zukunft. Der Name sagt es ja aus: Es wurden Fortschrittsberichte vorgelegt, auch wenn es gar keinen Fortschritt gab.

Sind wir zu einer ehrlichen Aufarbeitung in der Lage?

Der Auftrag hat sich ja auch verändert. Nach dem Kampf gegen den Terror ging es um Sicherheit, dann auch um Stabilität und humanitäre Hilfe. Aber diese selbstkritische Reflexion, was können wir eigentlich und was wollen wir, unabhängig von Briten und Amerikanern – das hat nicht stattgefunden.

Noch einmal: Warum hat diese Selbstüberprüfung nicht stattgefunden? Der Bundestag hat immer wieder das Mandat verlängert, es wurde oft debattiert – aber die selbstkritische Debatte, die Sie jetzt anmahnen, gab es in dieser Form nie. Warum nicht?

Tja, in der letzten Anhörung, gerade auch mit ehemaligen Ministern wie Joschka Fischer, Heidemarie Wieczoreck-Zeul oder Thomas de Maizière, ist für mich deutlich geworden, dass es Sorgen gab vor den Konsequenzen. Wenn wir bei einer Evaluation zu dem Schluss gekommen wären, es ist nicht gut weiterzumachen, wie hätten dann die Konsequenzen ausgesehen? Sowohl was das Bündnis angeht als auch die Solidarität mit den Amerikanern? Wir hätten zuschauen müssen, wie sich das Land entwickelt, ohne dass wir noch hätten Einfluss nehmen können. Ich würde heute sagen, es war kein böswilliges Wegschauen, es waren eher Ressort-Egoismen und die Sorge vor den möglichen Folgen, hätte die Evaluierung einen Abzug nahegelegt.

Hatte womöglich gar niemand Interesse an einer Evaluierung – aus Angst vor genau diesen Konsequenzen?

Es war das erste Mal, dass die Bundeswehr in einem solchen Einsatz war, auch mit gefallenen Soldaten. Insofern glaube ich nicht, dass es kein Interesse an einer Aufarbeitung gab. Es gab eher große Unsicherheiten, wie machen wir es richtig. Und so wurde dieser Evaluierungsprozess immer weiter aufgeschoben, vielleicht auch in der Annahme, die Situation würde sich doch irgendwann verbessern.

Es gab keine Alternative zum Engagement?

Sich zu engagieren, zusammen mit den Amerikanern, war richtig. Man darf nicht vergessen, wir waren auch in der Pflicht, weil sich die Attentäter ja auch in Hamburg vorbereitet hatten. Auch später dann drin zu bleiben, war richtig, das verlangte schon die humanitäre Situation.

Sie haben es angedeutet: Eigentlich wussten wir nichts über das Land, in das wir unsere Soldaten geschickt haben. Alles musste mühsam gelernt werden. Was heißt das für künftige Einsätze?

Für mich ist die Schlussfolgerung: Zu den 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr gehört künftig auch, dass wir eine wissenschaftliche Begleitung brauchen, um andere besser zu verstehen – andere Länder, andere Kulturen, andere Religionen. Wir werden in Zukunft international mehr gefordert sein. Dazu brauchen wir wissenschaftliche Expertise, Erfahrungsberichte von vor Ort. Wir müssen Entscheidungen auf einer besseren Basis treffen können, als es in Afghanistan der Fall war.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Mahnung fällt auf fruchtbaren Boden?

Ich will mich nicht überschätzen. Ich weiß ja, wie die Entscheidungsstrukturen im Bundestag und bei Haushaltsberatungen sind. Und trotzdem, die Abgeordneten sind immer mehr gefordert. Sie müssen sich zum Einsatz im Irak verhalten, zum Einsatz in Mali oder auch auf dem Balkan und den baltischen Staaten. Es wird immer klarer, dass wir jederzeit humanitär, aber auch militärisch gefordert sein könnten. Dazu brauchen wir mehr Informationen und Kenntnisse.

Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat 2008 Gespräche mit den Taliban vorgeschlagen und ist heftig dafür kritisiert worden. Zu Unrecht?

Ja. Im Rückblick muss man sagen, er hatte recht. Es gab in unseren Anhörungen Vertreter, die es eine Ursünde nannten, dass die Taliban nicht von Anfang an Gesprächspartner waren. Wir haben mit dem alten Königshaus gesprochen, mit der Nordallianz, mit der Regierung, aber wir hatten zu dieser für das Land so wichtigen Gruppe keinen direkten Kontakt. Also, Kurt Beck hatte recht. Aber wie das 2007/2008 hätte umgesetzt werden können, weiß ich auch nicht.

Für die NGOs ist seit langem die Rollenverteilung glasklar: Sie sind für die humanitäre Hilfe zuständig, die Bundeswehr für die Sicherheit. Und Überschneidungen sollte es möglichst nicht geben. Warum konnte es trotzdem dazu kommen?

Die Bundeswehr war mit erheblichem Einsatz und finanziellen Mitteln vor Ort. Sie hatte die Kommunikationsmöglichkeiten, die Generäle waren für viele auf afghanischer Seite der erste Ansprechpartner. Und so kam die Bundeswehr auf einmal in eine Rolle, humanitäre Einsätze nicht nur zu begleiten, sondern ein Stück weit auch zu steuern.

Was sie aber nicht wirklich kann.

Richtig, dafür ist sie nicht ausgebildet, das ist auch nicht der Auftrag von Soldaten. Dafür gibt es andere. Auch daraus haben sich Konflikte ergeben. NGOs und Entwicklungshelfer haben vor Ort gesagt, ich unterstehe doch nicht der Bundeswehr, wir haben andere Zugänge zur Zivilgesellschaft.

Warum hat der Bundeswehr niemand gesagt, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, einen Staat aufzubauen?

Was wäre die Konsequenz gewesen? NGOs hätten zu vielen Entscheidern in Afghanistan keinen Zugang gehabt. Die Amerikaner und Briten hatten ja ein ganz anderes Interesse. Die Konsequenz wäre gewesen, dass vieles, was uns wichtig war, nicht stattgefunden hätte. Und man darf nicht vergessen: Es ist trotz mancher Fehler in dieser schwierigen Konstruktion durch das Engagement der Bundeswehr auch etliches gelungen.

Was ist gelungen?

Der Aufbau von Infrastruktur. Die Sicherheit. Für die Bevölkerung war die Bundeswehr über viele Jahre ein wichtiger Partner. Sie ist anders aufgetreten als andere. Wir sollten Fehler nicht unter den Tisch kehren, wir wollen ja daraus lernen. Aber wir sollten auch nicht sagen: Alles war schlecht.

Haben wir uns zu abhängig gemacht von den Amerikanern?

9/11 hat in den USA stattgefunden. Die Amerikaner haben dem Terror den Krieg erklärt, und sie haben militärische Fähigkeiten wie kein anderes Land der Welt. Wir haben uns solidarisch mit den Amerikanern erklärt, was nachvollziehbar war in dieser Situation. Und natürlich waren wir insofern auch abhängig von deren Engagement.

Die Amerikaner haben bald begonnen, sich auf den Irak zu konzentrieren. Wäre das für uns nicht der Moment gewesen, unser Engagement zu überdenken?

Das wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen. Es gab ja auch viel Aufregung, als der Kanzler gesagt hat, wir gehen nicht in den Irak. Dabei hat sich ja bestätigt, wie richtig diese Entscheidung war. Insofern gab es durchaus eine kritische Reflexion. Wenige Monate nach Beginn des Engagements in Afghanistan haben die Amerikaner ihren Fokus auf den Irak gelenkt. Da war das, was wir verabredet hatten, nämlich der Kampf gegen den Terror in Afghanistan, noch nicht abgeschlossen.

Jeder Bundeswehr-Offizier weiß, dass man zu Beginn einer Operation immer das Ende, also die Exit-Strategie mitdenken sollte. Wie konnte es zu diesem Hals-über-Kopf-Abzug aus Kabul im Sommer 2021 kommen?

Das klärt ja ein eigener Untersuchungsausschuss. Wie konnte es zu diesem unrühmlichen Ende kommen, das ja auch mit sehr viel Leid für die Afghanen verbunden war? Das darf man nicht vergessen. Aber auch da fand ich sehr beeindruckend, was der ehemalige Kanzleramtschef Thomas de Maizière gesagt hat: Was hätte es bedeutet, immer das Ende mitzudenken? Wenn man nicht sicher sagen kann, wie das Ende aussieht, dürfte man nie anfangen. Und das kann nicht das Wesen von Außen- und Sicherheitspolitik sein. Man muss sich oft engagieren, weil man gefordert ist, und muss dann auf der Strecke sehen, wie man ein gutes Ende verabredet. Man kann nicht jede Eventualität von Anfang an mitdenken.

Die Amerikaner haben ihr Engagement quasi ohne Rücksprache mit den Partnern beendet. Für viele ist das der Grund, dass der Abzug so desaströs vonstatten ging. Ist das auch Ihre Sicht?

Das wäre zu einfach. Sicher, die Doha-Verhandlungen, die die Amerikaner mit den Taliban geführt haben, aus einem Eigeninteresse heraus und ohne Beteiligung anderer, brachten vieles ins Rutschen. Trotzdem hätte man erwarten können, dass die eigenen Kenntnisse der Situation vor Ort so fundiert sind, dass man weiß, wie sich die Situation entwickeln, dass sie eskalieren kann und dass man sich dann darauf vorbereitet. Deshalb wird das ja auch im Untersuchungsausschuss hinterfragt.

Was haben Sie gelernt aus der Enquete-Kommission?

Mit dem Wissen von heute würde ich sagen: Es muss in Regierung und Parlament ein stärkeres, selbstbewussteres Analysieren der eigenen Fähigkeiten geben. Wir waren vor Ort doch sehr abhängig vom Engagement der Amerikaner.

Und wie sollten Exekutive und Legislative künftig mit einem solchen Einsatz umgehen?

Na ja, die öffentliche und mediale Diskussion spielt in der Politik immer eine Rolle. Man muss erklären und werben für einen Weg. Das war nicht einfach. Wir waren das erste Mal in einem Krieg gefordert, auch mit toten Soldaten. Das hat sehr belastet. Ich würde eher sagen, dass vieles gelernt worden ist. Aber wir müssen vielleicht doch auf Regierungs- und Parlamentsebene in irgendeiner Form institutionalisiert einen solchen Einsatz begleiten. Das muss nicht der Nationale Sicherheitsrat sein, es kann auch ein Parlamentsgremium sein. Aber ein Gremium, in dem die Ressorts gemeinsam von den Abgeordneten befragt werden. Darüber sollte man schon nachdenken, auch als Konsequenz und Lehre aus Afghanistan.

Das wäre ein Vorschlag fürs Parlament. Was raten Sie der Exekutive?

Ein Gremium wie der Bundessicherheitsrat, der ja von den Amerikanern und ihrem Präsidialsystem abgeguckt ist und deshalb für uns vielleicht nicht so wirklich geeignet ist, weil unsere Ministerien Ressortverantwortung haben, ein solches Gremium macht nur Sinn, wenn alle es wollen und es auch Entscheidungskompetenz hat. Eine weitere Diskussionsrunde auf Regierungsebene brauchen wir nicht. Die Frage wäre eher, ob es eine andere parlamentarische Begleitung braucht.

Und? Braucht es die?

Ich finde, ja. Eine solche Kommission muss ja nicht ständig tagen. Einfach eine Einrichtung, in der die Ressorts im Krisenfall oder in Sondersituationen zusammengeführt werden. Das könnte auch ein besonderer Ausschuss sein.

Das Kapitel Afghanistan ist ja nicht zu Ende. Wie sollten wir künftig mit der Herausforderung Afghanistan umgehen?

Wir müssen in jedem Fall weiter helfen. Auch wenn es umstritten ist, weil jede Hilfe eine Hilfe ist, mit der die Taliban weiter Politik machen können

…und die das System stabilisiert.

Ich sehe das durchaus. Und trotzdem: Wir müssen weiter helfen. Denn jeder Rückzug bedeutet unfassbares Leid, Hunger und Not für die Bevölkerung. Und ich finde gerade nach diesen 20 Jahren können wir die Menschen nicht allein lassen. Es sind Temperaturen im Winter von minus 25 bis 30 Grad, im Sommer Hitze, es ist Hunger, die Einschränkung des öffentlichen Lebens, die mangelnde medizinische Versorgung, insbesondere auf dem Land – da darf man nicht einfach zugucken.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!