Analyse | SPD-Parteitag
Erscheinungsdatum: 06. Juli 2025

SPD-Parteitag: Die Gründe, warum der SPD-Vorsitzende unter die Räder kam

Lars Klingbeil
Ein enttäuschter Parteivorsitzender: Lars Klingbeil (picture alliance/dpa | Kay Nietfeld)
Es war ein historisch schlechtes Wahlergebnis für den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil beim Parteitag in Berlin. Und ein Dämpfer für seine Ambitionen. Aber es gab durchaus Gründe für das misstrauische Votum der Mitglieder.

Der Parteichef brauchte ein paar Momente der inneren Sammlung. Unauffällig wurde der Parteitag für gut zehn Minuten unterbrochen. Dann trat Lars Klingbeil, nachdem Bärbel Bas für ihre 95,0 Prozent gefeiert worden war, an das Mikrofon. Mit belegter Stimme bekannte er: „Das ist ein schwieriges Ergebnis für mich.“

Der jähe Zorn der Delegierten, der sich in dieser Dimension nicht abgezeichnet hatte, war eine Demütigung für den vermeintlich starken Mann der SPD. Ja, er stand in der Kritik, er hatte sich nicht nur Freunde gemacht seit der Bundestagswahl, er hatte sich auf mehreren Landesparteitagen den Kritikern gestellt. Aber eine solche Abstrafung?

Klingbeil hatte sich einigermaßen sicher gefühlt. Er hatte sämtliche größeren Landesverbände unmittelbar vor dem Parteitag in einer Art Speeddating noch einmal besucht. Aus allen war ihm signalisiert worden: Unser Verband steht bei der Vorsitzendenwahl, wir stimmen für den Vorschlag der Parteiführung. Dass das nur für Bärbel Bas gelten würde, nicht aber für Klingbeil, hatten sie ihm nicht mitgeteilt. Das erklärt die Niedergeschlagenheit des SPD-Anführers in den Stunden nach der Wahl.

Die Gründe für das schlechte Ergebnis

Es gibt aber auch eine Reihe von Gründen für dieses Ergebnis. Keiner war für sich betrachtet ausschlaggebend, aber in der Summe ergaben sie eine für Klingbeil politisch toxisch Melange.

Der Parteichef hat unterschätzt, wie viele ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete den Parteitag bevölkern. Ex-Abgeordnete, die ihren Mandatsverlust nicht zuletzt Klingbeil und einem wenig überzeugenden Wahlkampf anlasten. Und während er sich nach dem schlechtesten Wahlergebnis der neueren SPD-Geschichte quasi die parteipolitische Allmacht sicherte, müssen sich viele von ihnen beruflich neu orientieren. Unterstützer konnte er in diesen Reihen kaum erwarten.

Hinzu kommt der Erneuerungsprozess an der Parteispitze und im Kabinett. Hubertus Heil und Svenja Schulze, Karl Lauterbach und Nancy Faeser: Sie alle haben Unterstützer in ihren Landesverbänden und Parteiströmungen. Unterstützer, die nicht nur mit dem Koalitionsvertrag haderten, sondern auch das Ausmaß des Kabinettsrevirements für ungerecht erachteten.

Zu sicher hatte sich die Parteispitze gefühlt, in puncto Koalitionsvertrag die große Mehrheit der Partei hinter sich zu haben. Tatsächlich hatten 84,6 Prozent der Mitglieder den Koalitionsvertrag unterstützt. Aber nur 56 Prozent der Mitglieder hatten sich an der Online-Abstimmung beteiligt. Keine Veränderungen beim Thema Verteilungsgerechtigkeit, der Stopp des Familiennachzugs, Rückschritte in der Klimapolitik oder das Festhalten am Paragraf 218 sind schwere Kost für viele Parteimitglieder. Auch dafür wird der Parteivorsitzende maßgeblich verantwortlich gemacht, zumal er und seine Mitstreiter in der Parteiführung den Vertrag immer wieder als Erfolg gefeiert hatten.

Der Kanzler war eine Belastung im Wahlkampf

Reihenweise können Wahlkämpfer berichten, als welche Belastung sich Kanzler Olaf Scholz im Lauf der Kampagne entpuppte. In Fußgängerzonen und an Haus- und Wohnungstüren schallte es vielen Genossen entgegen: Die SPD ist ja ok, aber der Kanzler ist ein Problem. Viele haben diese Hürde im Wahlkampf nicht vergessen – und machen vor allem den Parteichef dafür verantwortlich, dass nicht der vermeintlich beliebtere Verteidigungsminister ins Rennen geschickt wurde.

Und natürlich haben viele den Wahlabend nicht vergessen: Das erschütternde Wahlergebnis, und ein Parteichef, der rhetorisch zwar Verantwortung übernimmt, zugleich aber verkündete, den Fraktionsvorsitz an sich zu ziehen. Er konnte den Eindruck nicht zerstreuen, dass er den beliebten Rolf Mützenich sachte zur Seite geschoben hatte. Und es waren nicht nur die Irritation der Frauen in der Partei, dass sich ein Mann in den Chefsessel hinaufschwingt, während die Co-Vorsitzende dem Erneuerungs- und Verjüngungsprozess zum Opfer fällt. Dass er nach den Koalitionsverhandlungen den Kurzzeit-Fraktionsvorsitz an Matthias Miersch weiterreichte, machte die Sache nicht besser.

Klingbeil hat es nicht geschafft, die Widersprüche zwischen den Rollen als Parteichef und Finanzminister aufzulösen. Ein Beispiel: Vor vier Wochen in Hamburg hatte er noch verkündet, dass Deutschland weiter zu seinen internationalen Verpflichtungen stehe und dem Globalen Süden gegenüber ein verlässlicher Partner bleiben werde. In seinem ersten Haushaltsentwurf als Finanzminister strich er dem BMZ über eine Milliarde Euro, die humanitäre Hilfe halbierte er. Gerade in Zeiten von rabiaten Sparzwängen ist das Spannungsverhältnis zwischen Etatkürzungen und neuen Ideen eines Parteivorsitzenden kaum produktiv aufzulösen.

Es werde beim Parteitag eine gründliche Aufarbeitung der Wahlschlappe geben, hatte Klingbeil schon kurz nach dem Wahltag angekündigt. Und dass er schon die Analyse des Wahlergebnisses von 2017 als Generalsekretär aktiv mit unterstützt habe. Was stimmt. Was nicht stimmt, ist der Umstand, dass er die Aufarbeitung 2025 mit hohem Druck vorangetrieben hätte. Einige, empirisch kaum abgestützte Überlegungen flossen in den Leitantrag ein. Aber in der Generalaussprache vom Samstag war das Thema Schadensursache nur eine Randerscheinung, und für eine gründliche Befassung ist die Zeit inzwischen abgelaufen.

Einen Gesellschaftsentwurf für 2035 gab es nicht

Wie überhaupt seine Rede auf dem Parteitag nicht unbedingt eine war, die entschlossenen Aufbruch versprach. Es müsse der Partei gelingen, das deutsche Wohlstandsmodell, den Sozialstaat, das Bildungsmodell „sozialdemokratisch zu reformieren“. Und dass die Verteilungsfrage erneut gestellt werden müsse. Die Genossinnen und Genossen nickten beifällig. Aber eine zündende Idee von einer Gesellschaft im Jahr 2035, wer und was sie zusammenhält, was der Kitt sein und welche Rolle die Sozialdemokratie dabei spielen könnte, bot er nicht an. Wie die SPD zu einer gerechter strukturierten Gesellschaft beitragen will, wie sie glaubwürdig die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte etwa im Bildungs- oder im Wohnungsbereich auflösen will, war nicht zu erkennen.

Und dann war da die Parteitagsregie, die die Generalaussprache und die Wahl der Vorsitzenden gleich in die ersten Stunden des Konvents gepackt hatte. Das war riskant – und ging prompt schief. Eine andere Reihung der Höhepunkte – Generaldebatte, Verabschiedungen und Ehrungen, Wahlen, Anträge – hätte mutmaßlich zu einem anderen Ergebnis geführt. Aber eine Ex-post-Betrachtung ist immer vergleichsweise einfach.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Partei macht es ihrem Führungspersonal nicht leicht. Auch das Verhalten der Delegierten bei diesem Parteitag trug mitunter bigotte Züge. Olaf Scholz wurde mit minutenlangem, stehenden Applaus verabschiedet. Der gleiche Scholz, den im Zuge der Kandidatenfrage im vergangenen November viele Parteimitglieder, womöglich sogar eine Mehrheit, am liebsten aus dem Rennen genommen und durch Boris Pistorius ersetzt hätten.

Die Partei ist nicht mehr gut organisiert

Ähnlich empathisch wurde Saskia Esken nach sechs Jahren als Parteivorsitzende verabschiedet. Viel Beifall, Jubelrufe, stehende Ovationen. Viele derer, die da jetzt applaudierten, hätten die unerschrockene Selfmade-Frau aus Baden-Württemberg nie und nimmer im Kabinett sehen wollen. Viele Kreisverbände und Unterbezirke hielten sie für eine Belastung im Wahlkampf, und auch die Appelle, sie nicht mehr in Talkshows zu entsenden, sind nicht vergessen. So gesehen war der Umgang mit Esken für Kollege Klingbeil eine lose-lose-Situation. Eine Entscheidung, bei der er nur verlieren konnte.

Auffällig ist aber auch, dass die SPD, einst zu Recht stolz auf ihre Organisation, nicht mehr gut organisiert auftritt. Denn das schlechte Ergebnis für Klingbeil war – soweit erkennbar – nicht abgesprochen, nicht koordiniert, wie im Jahr 2005 das Negativvotum gegen einen möglichen Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel im Parteivorstand. Oder seinerzeit der Sturz von Andrea Nahles durch die Landesverbände NRW und Niedersachsen. Es war vielmehr die Summe von vielen Einzelentscheidungen. Dass zu erfolgreicher Parteiarbeit auch eine gut geführte Organisation gehört, ist in vielen Landesverbänden und Bezirken in Vergessenheit geraten.

Und womöglich noch schlimmer: Offensichtlich gibt es auch keine Frühwarnsysteme in den Reihen der Landesverbände und Flügel mehr, keine Sensoren, die rechtzeitig Hinweise auf schlechte Stimmungen und potenzielle Folgen geben könnten. „Die Leute sind selbstbewusster geworden“, befand eine führende Genossin. Und sie sind anders vernetzt als in der Vergangenheit, möchte man hinzufügen, in eigenen Blasen und Chatgruppen, für Führungsgenossen nur noch schwer erreichbar.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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