Executive Summary
Erscheinungsdatum: 11. Oktober 2025

Wo die Börse jetzt auflebt – und wo die Gefahren lauern

Anders als wie hier im Jahr 2001 in Frankfurt am Main findet der Handel heute weitestgehend digital statt. (picture alliance / VisualEyze | Sascha Deforth)

Nach Jahren der Flaute hellt sich die Stimmung am IPO-Markt auf. Investoren zeigen zunehmendes Interesse, die Aktienmärkte laufen auch über längere Zeit stabil, der Anlagedruck ist hoch.

Kapitalmarktexperte Holger Schmieding macht den Punkt: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Das Marktumfeld sieht der Chefvolkswirt der Berenberg Bank im Gespräch mit Table.Briefings derzeit als günstig an: „Geopolitische Risiken sind eingepreist, die Volatilität hat sich normalisiert, der Discount für Neulistings sinkt.“

Die globalen Zahlen stützen den Optimismus: Im dritten Quartal 2025 gingen weltweit 370 Unternehmen an die Börse – ein Plus von 19 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Das Emissionsvolumen stieg laut dem EY IPO-Barometer sogar um 89 Prozent auf 48,3 Milliarden US-Dollar. In den ersten neun Monaten erreichten 914 IPOs ein Platzierungsvolumen von 110,1 Milliarden Dollar – 41 Prozent mehr als im Vorjahr.

Die USA treiben die Erholung. 180 Börsengänge mit 33 Milliarden Dollar Volumen in den ersten neun Monaten bedeuten ein deutliches Plus gegenüber 121 IPOs und 27,3 Milliarden Dollar im Vorjahr. Bemerkenswert: Die Hälfte der US-Börsengänge stammte von ausländischen Unternehmen. M&A-Experte Caspar Graf Stauffenberg ordnet ein: „In den USA ist das gesamte Capital Raised, also das durch IPOs aufgenommene Kapital, per September schon 29 Prozent mehr als im gesamten Jahr 2024. Und 2024 war es schon 42 Prozent mehr als 2023.“

Europa hingegen hat deutlich Boden verloren: 73 IPOs mit 9,4 Milliarden US-Dollar stehen 97 IPOs und 15,4 Milliarden Dollar im Vorjahr gegenüber.

Deutschland bleibt dabei Schlusslicht. Fünf Börsengänge gab es bis Mitte Oktober 2025 – Innoscripta, TIN INN Holding, Pfisterer Holding, Aumovio und zuletzt der Prothesenhersteller Ottobock. Stauffenberg bringt die Zahlen in Relation: „Wenn wir in Deutschland drei oder vier IPOs haben, dann muss man schon fast von einer Welle sprechen. Das ist natürlich gemessen an dem, was in der Volkswirtschaft passiert, generell sehr wenig.“ Ökonom Schmieding ergänzt nüchterner: „Wenn wir drei, vier, fünf noch bekommen in diesem Jahr, wäre das schon gut.“

Währenddessen haben sich in Deutschland auch mehrere Kandidaten bewusst gegen einen Börsengang entschieden. Der Stromnetzbetreiber Tennet entschloss sich im September gegen den geplanten IPO und für eine Privatplatzierung über 9,5 Milliarden Euro bei APG, dem norwegischen Staatsfonds und GIC. Der Hintergrund: „Wir haben sowohl einen Börsengang als auch eine private Beteiligung intensiv geprüft – beides waren vielversprechende Optionen“, so Tim Meyerjürgens, CEO von Tennet Germany, zu Table.Briefings. „Für die private Beteiligung sprachen eine hohe Transaktionssicherheit, ein verlässlicher Prozess und langfristig orientierte Partner.“ Der Pharmahersteller Stada ging im August einen ähnlichen Weg. M&A-Experte Stauffenberg erklärt das Kalkül: „Auf diesem Weg erhalten Unternehmen auf einen Schlag einen Milliardenbetrag. Diese Transaktionssicherheit kann der IPO-Markt ihnen oft nicht liefern.“

Deutschland fehlt strukturell die Kapitalmarkttradition. Deutschland ist als Volkswirtschaft fast zehnmal so groß wie etwa Schweden, hat aber 20 Prozent weniger gelistete Firmen. „Wir haben die Börse immer als einen Zockerzirkus gesehen“, sagt Stauffenberg. „Und in Schweden ist die Börse das solide Anlageinstrument.“ Zwei Weltkriege vernichteten die deutsche Asset-Basis komplett, das umlagenfinanzierte Rentensystem funktioniert ohne Kapitalstock. „Andere Länder haben hier 60 Jahre Vorsprung.“

In Schweden schufen steuerliche Anreize seit den 1980er Jahren derweil eine lebendige Aktienkultur. Spätestens seit dem Zusammenschluss des Börsenbetreibers in Stockholm mit der US-amerikanischen Techbörse Nasdaq im Jahr 2007 sorgt ein dichtes Netzwerk an Börsendienstleistern für geringe Transaktionskosten. „Die kennen sich alle und treffen sich zum Lunch. Es ist völllig unkompliziert zu netzwerken. Das gibt es in London und Frankreich zwar auch, in Deutschland aber nicht.“

Die Zahlen deuten darauf hin, dass insbesondere Tech-Börsengänge boomen. Die globalen Sektoren-Favoriten: Technologie führt mit 23,8 Milliarden US-Dollar Emissionsvolumen in den ersten neun Monaten, gefolgt von Mobility (14,2 Milliarden) und Real Estate (13,2 Milliarden).

Die aktuelle KI-Euphorie sehen beide Experten kritisch. Schmieding warnt: „Ein Drittel des Wirtschaftswachstums in den USA ist direkt im Bereich des Erzeugens von KI – Geschäftsmodelle, die durch die Nutzung von KI explodieren, gibt es noch nicht.“ Das Grundproblem formuliert Stauffenberg so: „Man kann sich nicht leisten, nichts mit KI zu machen, aber wie man damit mehr Geld verdienen soll, diese Frage haben die meisten noch nicht beantwortet.“

Defense und Aerospace gelten als aussichtsreiche Sektoren. Schmieding: „In diesen Segmenten ist die Nachfrage auf lange Zeit sicher – und wenn man es da ein bisschen diversifiziert, dann ist das der große Markt.“

Die Liste an Börsenkandidaten ist lang geworden, einer der prominentesten ist der U-Boot-Hersteller Thyssenkrupp Marine Systems. Stauffenberg relativiert: „Die Pipeline ist eigentlich seit drei Jahren gut gefüllt. Die Schlange wird ja immer länger, wenn vorne niemand an die Börse geht.“ Allerdings stelle sich auch die Frage, wie viele IPOs der Markt tatsächlich aufnehmen kann. Die Gefahr: „Die letzten drei IPOs noch in der Hochphase der schäumenden Blase, bevor es dann abbricht, haben das größte Rechtfertigungsproblem. Und die, die es dann gerade nicht mehr geschafft haben, sind meistens ganz froh.“

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Letzte Aktualisierung: 11. Oktober 2025

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