fast zwei Jahre nach dem Schweden seinen Mitgliedsantrag zur Nato gestellt hat, übergab Ministerpräsident Ulf Kristersson gestern in Washington die Beitrittsurkunde an US-Außenminister Antony Blinken. Vor dem offiziellen Beitritt hat Nana Brink den schwedischen Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin gefragt, wie er das traditionell pazifistische Land militärisch resilienter machen will.
Ein Element Schwedens Gesamtverteidigung ist sein Wehrpflichtmodell, für das Verteidigungsminister Boris Pistorius ein “Faible” habe, wie er vor seiner Reise nach Schweden, Norwegen und Finnland sagte. Auf der Reise sucht er nach weiterer Inspiration für ein mögliches deutsches Modell. Heute beendet er seinen viertägigen Trip in Finnland, das sich eine über 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt.
Wegen der Nähe zu Russland und der ständigen Bedrohungswahrnehmung hat Finnland die Wehrpflicht nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht abgeschafft. Deutschland hingegen fehle der “notwendige Wehrwille”, schreibt die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander in ihrem Standpunkt. Die Diskussionen um die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland hält sie deshalb für eine Scheindebatte.
Ich wünsche eine erkenntnisreiche Lektüre
Bei seinem Besuch Anfang der Woche hat Verteidigungsminister Boris Pistorius das schwedische Wehrpflichtmodell als wegweisend auch für Deutschland gelobt. Auch in Sachen Zivilschutz hat das Land einiges zu bieten. In einer viel beachteten Rede sagte Schwedens Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin im Januar: “Es kann Krieg in Schweden geben”. Der 38-jährige Konservative, der der Partei von Ministerpräsident Ulf Kristersson angehört, erklärt im Gespräch mit Table.Briefings, wie Schweden sein Gesamtverteidigungskonzept modernisiert.
Ihre Rede hat eine Menge Kritik ausgelöst. Würden Sie die gleichen Worte noch einmal wählen?
Sie haben auf jeden Fall eine öffentliche Debatte ausgelöst und die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker dazu veranlasst, ein sinnvolles Gespräch über dieses wichtige Thema zu führen. Wir versuchen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie die Sicherheitslage um uns herum aussieht. Wir behaupten ja nicht, dass eine unmittelbare Kriegsgefahr gegen Schweden besteht. Aber angesichts des Risikos eines bewaffneten Angriffs ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit das Verantwortungsvollste, was man tun kann.
Wie wollen Sie eine stärkere Sensibilisierung erreichen? Schweden hat eine lange pazifistische Tradition, sich nicht zu sehr in militärische Angelegenheiten einzumischen.
Und das mag einer der Gründe sein, warum die Rede, die ich und andere Minister und unser Oberbefehlshaber gehalten haben, warum dies gesagt werden musste. Wir haben seit sehr langer Zeit Frieden. Wir haben keine institutionelle Erinnerung an einen bewaffneten Konflikt auf schwedischem Boden. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir einen ernannten Minister für Zivilschutz, und der bin ich. Und das unterstreicht die Priorität dieser Regierung, den Zivilschutz in Schweden wieder aufzubauen.
Jetzt fordern Sie mehr Tempo dabei. Wo ist die Modernisierung des schwedischen Zivilschutzes noch nicht vorangekommen?
Wir machen in allen Bereichen Fortschritte. Zum Beispiel im Gesundheitssektor, wo wir die medizinische Vorratshaltung wieder einführen. Wir kümmern uns um unseren Katastrophenschutz, unsere Schutzräume, die in Schweden zu den größten Schutzräumen pro Einwohner in ganz Europa gehören, die aber seit langem nicht mehr genutzt werden. Wir stecken mehr Geld in den Bereich der Rettungsdienste, weil wir sehen, dass sie nur für den Einsatz in Friedenszeiten ausgelegt sind. Außerdem ist der Energiesektor wichtig, wo wir im Falle eines bewaffneten Angriffs zusätzliches Personal benötigen, um kritische Infrastrukturen zu betreuen und zu reparieren.
Die schwedische Bürgerwehr (Hemvärnet), eine Freiwilligenorganisation innerhalb der schwedischen Streitkräfte, bekommt gerade großen Zulauf. Allein in den ersten beiden Januarwochen haben sich 1200 Freiwillige gemeldet.
Ja, viele Schweden denken: Ich möchte etwas für mein Land tun. Der Wille, Schweden zu verteidigen, hat in der schwedischen Öffentlichkeit nach der Invasion in der Ukraine zugenommen, und ich denke, das ist auf das gestiegene Bewusstsein zurückzuführen.
In Deutschland sprechen wir von “Kriegstüchtigkeit” und es gibt eine Menge Diskussionen darüber, was das bedeutet. Sie gehen noch einen Schritt weiter. Sie fragen ihre Landsleute: Haben Sie Ihren Arbeitgeber gefragt, wie er sich Ihre Rolle in einer Kriegssituation vorstellt?
Diese Frage zielt im Grunde darauf ab, dass jede Organisation, die kritische Dienstleistungen erbringt, als Folge des schwedischen “Total-Defense”-Konzepts mit dieser Frage vertraut sein muss, um die notwendigen Vorbereitungen treffen zu können. Und das ist ein wichtiger kultureller Wandel. Der Hintergrund ist, dass wir nach dem Kalten Krieg einen großen Teil des Zivilschutzes und des schwedischen Gesamtverteidigungskonzepts abgebaut haben. Und jetzt müssen wir uns wieder mit einem bewaffneten Angriff auf Schweden befassen.
Sie sprachen davon, jede Schwedin und jeder Schwede müsse ein batteriebetriebenes Radio und Wasservorräte zu Hause lagern. Welche Vorbereitungen haben Sie privat getroffen?
Natürlich habe ich die Verantwortung für meine persönlichen Vorbereitungen übernommen. Aber im Falle eines bewaffneten Angriffs werde ich nicht in meinem Häuschen sitzen. Ich werde hier im Verteidigungsministerium sein. Aber die Frage unterstreicht einen wichtigen Aspekt. Damit das Gesamtverteidigungskonzept funktioniert, muss jeder einzelne Bürger in Schweden persönliche Verantwortung für seine eigene Bereitschaft übernehmen. Als Grundlage dafür haben wir die sogenannte “totale Verteidigungspflicht”, die jeden Schweden zwischen 16 und 70 Jahren umfasst. Und sie besagt im Wesentlichen, dass jeder sich an der Gesamtverteidigung beteiligen muss. Gesellschaftliche Resilienz ist eine Art Grundstein für die moderne Verteidigungshaltung eines Landes.
Die Ankündigung von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Juni vergangenen Jahres, Deutschland sei bereit, “dauerhaft eine robuste Brigade” in Litauen zu stationieren, kam nicht nur für die Deutschen überraschend. Auch in Litauen gab es erstaunte Gesichter. Laurynas Kasčiūnas, Abgeordneter der christdemokratischen Partei Homeland Union Litauen, sagte damals zu Table.Briefings: “Wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben machen, um bis 2026 fertig zu sein. Dann bleibt es abzuwarten, ob Deutschland auch wirklich bereit ist.” Das Vorkommando, bestehend aus acht bis 15 Personen, soll am 8. April nach Litauen verlegt werden. Auch ein Aufstellungsstab soll noch in diesem Jahr folgen.
Zwar hat Litauen nach aktueller Roadmap bis 2027 Zeit, seine Hausaufgaben zu machen. Aber welche das sind, da widersprechen sich Vilnius und Berlin. Der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas sichert zu: Litauen werde für den Bau der Infrastruktur verantwortlich sein, während Deutschland sich um die zivilen Belange wie Schulen für die 5.000 geplanten Soldatinnen und Soldaten und ziviles Personal kümmern solle. “Wir werden das grenzüberschreitende Abkommen im August/September abschließen”, sagt Anušauskas. Der Termin 2027 werde eingehalten.
In Deutschland scheint man andere Erwartungen zu haben. “Die deutsche Position hierbei ist weiterhin, dass Litauen sowohl die Errichtung der zivilen als auch der militärischen Infrastruktur finanziert”, heißt es aus dem deutschen Verteidigungsministerium.
Gabriel Landsbergis, Außenminister Litauens, weiß um die Zweifel in Berlin. Der Spiegel hatte im Dezember über einen Brief berichtet, in dem die Finanzierung der für die Brigade benötigten Infrastruktur ein “großes finanzielles Problem” besprochen wird, die für Litauen darstellen soll. Außerdem wird ein Mangel an Unterkünften für die Soldaten und ihre Familien befürchtet.
“Litauen bittet nicht um Geschenke. Litauen ist ein Staat, der seine eigene Verantwortung sehr ernst und verantwortungsbewusst wahrnimmt. Wir werden alles finanzieren, was die deutsche Brigade benötigt”, sagte er bei der Münchner Sicherheitskonferenz und fügte hinzu, dass Deutschland mit der Entsendung der Brigade “nicht nur Litauen, sondern auch sich selbst verteidigt”. Die politische Unterstützung für die militärische Finanzierung auf litauischer Seite bleibe bestehen.
Neben der Infrastruktur, die die deutsche Brigade braucht, baut Litauen seine gesamte militärische Infrastruktur großflächig aus, vor allem für die “Very high readiness Joint Task Force” (VJTF) der Nato. “Jedes neue militärische Infrastrukturprojekt trägt zur Abschreckung bei. Zusammen mit der kollektiven Verteidigung ist dies die wichtigste Priorität für die nationale Verteidigung Litauens”, hatte Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas bei der Vorstellung des Projekts betont.
Für Gintaras Ažubalis, ehemaliger litauischer Verteidigungsattaché in Berlin, der Erfahrung mit dem Aufbau der von Deutschland geführten Nato-Battlegroup in Litauen 2017 hat, ist es nicht verwunderlich, dass das endgültige Budget für die Brigade in Litauen nicht feststeht. Vor allem, weil nicht klar ist, wie viel von der neuen zivilen Infrastruktur benötigt wird. “Die Dinge wurden auf militärische Art erledigt. Man erwartete damals keine Fünf-Sterne-Hotels, vieles wurde vor Ort aufgebaut, es gab Container, auch für die Technik. Ich bin sicher, dass sie jetzt genauso arbeiten, denn der Termin 2027 ist sehr ehrgeizig […] Wenn das Panzerbataillon nächstes Jahr eintrifft, bezweifele ich, dass sie in einer schönen Kaserne wohnen werden, wir haben noch nichts über den Bau einer solchen gehört”, sagt Ažubalis.
Zumindest die öffentliche Stimmung gegenüber der deutschen Brigade ist positiv. 82 Prozent der Litauer unterstützen die Entsendung deutscher Truppen – in Deutschland sind es 49 Prozent.
Das Projekt wird bereits von der russischen Propaganda ins Visier genommen. Vor wenigen Wochen kursierte in den sozialen Netzwerken der Aufruf zu einer Kundgebung gegen die deutsche Brigade, der von verdächtigen Accounts erstellt wurde, die offen ihre Unterstützung für die russische Regierung zum Ausdruck brachten. Mit Lisa-Martina Klein
Höhere Lebensmittelpreise, teure Energie, Wechselkursschwankungen – viele Staaten im sogenannten Globalen Süden leiden unter den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Doch dafür wird allzu oft die westliche Sanktionspolitik kritisiert und nicht der eigentliche Verursacher dieser Widrigkeiten. Wie schafft es Russland, vielen Staaten sein Narrativ aufzudrücken? Der Kreml nutzt seine Softpower. Alte sowjetische Netzwerke helfen dabei.
Als Softpower wird die Fähigkeit von Staaten verstanden, ihre Ziele zu erreichen, ohne dafür mit kostenintensiven Instrumenten Druck ausüben zu müssen: Kultur statt Androhungen von Gewalt; Austausch in der Wissenschaft statt Abschottung; ein attraktives Rechtssystem statt Willkür – besonders gut schneidet Russland im Ranking der wichtigsten Softpower-Nationen nicht ab. Aber das Land leistet sich eines der weitreichendsten diplomatischen Netzwerke weltweit. Und damit hat es durchaus Erfolg.
So analysiert das strategische Kommunikationsteam Ost des diplomatischen Dienstes der Europäischen Union, dass “Russland ein Desinformationsökosystem kultiviert, in dem erfundene und ungeprüfte Informationen häufig Tatsachenberichte und unabhängigen Journalismus in etlichen afrikanischen Ländern überlagern.”
Das globale russische Engagement, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, beginnt in der Zeit des Generalsekretärs Nikita Chruschtschow um 1960. Damals mischt sich die Sowjetunion opportunistisch in die Entkolonisierungskämpfe ein. Es sollen möglichst viele Staaten des Erdballs in den sowjetischen Einflussbereich übergehen. Hierzu wird eigens die “Universität der Völkerfreundschaft” als sozialistische Kaderschmiede für die heute als Globaler Süden zusammengefassten Staaten gegründet. So entstehen die weitverzweigten diplomatischen Verbindungen, welche das heutige Russland reaktiviert.
Um Ideologie geht es heute noch weniger als damals. Vielmehr soll die neoimperiale Aggression des Kremls als Kampf gegen die Hegemonie des Westens umgedeutet werden. Tatsächlich wird der Multilateralismus der Vereinten Nationen durch Moskaus (und Pekings) Großmachtgehabe geschädigt und Abstimmungen der UN-Vollversammlung destruktiv, kontrafaktisch und antiwestlich aufgeladen. Nicht zuletzt bei dem Versuch, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren, als sich die globale Aufmerksamkeit nach dem Angriff der Hamas auf Israel verschob.
Doch sieht der Experte für Russlands Afrika-Politik, Samuel Ramani, trotz des geringen Anteils an den gesamten Auslandsinvestitionen von lediglich einem Prozent auf dem afrikanischen Kontinent, Russland nicht nur als einen antiwestlichen Akteur. Ramani betont überdies das strategische Engagement Moskaus in Afrika, welches auf die historisch gewachsene Beständigkeit seiner Beziehungen setzt. Dies trifft insbesondere auf Südafrika zu.
Gleichwohl hat der Kreml die professionelle Risikoabschätzung und verhandlungsbasierte Diplomatie gegen aggressives Großmachtgehabe und Durchsetzung eigener Narrative ausgetauscht. So propagiert Moskau zwar eine sogenannte Multipolare Welt, tatsächlich aber bekämpft es den Multilateralismus.
Die Forderungen nach Mitgestaltung aus den Ländern des Globalen Südens werden entsprechend gekapert. Nicht zuletzt in der Anfang des Jahres erweiterten BRICS-Gruppe, welche nun die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht. Schließlich gibt es keinerlei konstruktive Bestrebungen aus Moskau, den Forderungen nach globaler Mitgestaltung Gestalt zu verleihen. Vielmehr gilt Russland inzwischen als ein “one-issue country”, welches alle Bemühungen auf ein einziges Thema konzentriert: seinen imperialen Angriffskrieg in der Ukraine in den Augen der Weltöffentlichkeit zu legitimieren.
Die vom russischen Imperialismus direkt betroffenen Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE) werden von den Staaten des Globalen Südens nicht als gleichfalls vom Imperialismus betroffene Staaten erkannt. Vielmehr wird ihr Freiheits- und Emanzipationskampf durch die Linse Moskaus eingefärbt und als langer Arm westlicher Imperialismen betrachtet. Dass Russland im Gegensatz zum Westen keine nennenswerte Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sondern vielmehr durch halbstaatliche Gewaltakteure destruktiv agiert, wird so nicht erkannt.
Gleichzeitig waren die MOE-Staaten sowie die baltischen Staaten in der Vergangenheit mit dem eigenen Empowerment beschäftigt. Sie hatten sich kaum um Zusammenarbeit mit den Staaten des Globalen Südens bemüht. Diese Kontakte fehlen jetzt nicht nur der Ukraine, um die eigene Position sowie die Aggression und die Manipulation Russlands global erkennbar zu machen.
Erste Korrekturschritte sind aber schon zu sehen: Nicht zuletzt gibt es signifikante Parallelen der vormals als Peripherien marginalisierten “communities of suffering” der Staaten des Globalen Südens und MOE. So fand im Oktober 2023 an der Universität Pretoria in Südafrika eine Konferenz statt, wo eben diese “Schnittpunkte der Unterdrückung” diskutiert wurden. Dabei wurde auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine gemeinsam “durch die Linse des Kolonialismus” nachvollzogen und analysiert, sagte Rasa Jankauskaitė, die teilnehmende Botschafterin Litauens in Südafrika.
Derweil bildet sich mit der Gruppe “der Freien Völker Postrusslands” eine eigene innerrussische Dekolonialismus-Bewegung. Über 100 verschiedene Ethnien wurden einst auf imperiale Weise zwangsvereinigt. Von den 83 Staatssubjekten sind im heutigen Russland 21 nicht slawisch. Viele weitere haben gar keine Repräsentanz, werden marginalisiert und strukturell benachteiligt. So werden besonders viele Menschen aus den ethnischen Minderheiten für Putins Vernichtungskrieg mobilisiert.
Die kasachische Osteuropahistorikerin Botakoz Kassymbekova, die an der Universität Basel lehrt, konstatiert: “Es ist Zeit, die russische imperiale Unschuld infrage zu stellen.” Das von Putin selbst geschaffene Interesse an der Vergangenheit habe eine neue Reflexion über die Hierarchien des Sowjetregimes hervorgerufen. “Das sowjetische Konstrukt von Russland als altruistische Nation, die sich für nichtrussische Republiken opferte”, gilt nicht mehr.
Das Zusammenfinden der Empowerment-Diskurse der MOE-Staaten und denen des Globalen Südens kann die Resilienz gegen Moskaus Narrative stärken. Das ist eine Chance: Dafür müssten jedoch die Staaten des Westens beziehungsweise des Globalen Nordens nicht nur im Kontext des Kampfes gegen das imperiale Moskau mehr Mitbestimmung aus dem Globalen Süden zulassen. Felix Riefer
Einen erneuten Geisel-Deal zwischen Israel und der Hamas wird es vor Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am kommenden Sonntag wohl nicht mehr geben. Damit würde das ausdrückliche Ziel der US-Regierung verfehlt werden.
Der amerikanische Präsident Joe Biden sieht die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen bei der Hamas. Die Israelis bezeichnete er als “kooperativ”. Die Hamas will einen Waffenstillstand und den Rückzug der Besatzungstruppen aus Gaza – aus israelischer Sicht ist lediglich eine vorübergehende Feuerpause in Gaza denkbar.
In seiner Rede zur Lage der Nation hat Biden in der Zwischenzeit angekündigt, einen temporären Hafen an der Küste des Gazastreifens einrichten, um auf dem Seeweg unverzüglich mehr humanitäre Hilfe in das Palästinensergebiet zu bringen. Der amerikanische Präsident stand bei Anhängern wegen seiner Haltung zu Israel zuletzt unter Druck.
Azar Gat, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Tel Aviv, glaubt, dass die Hamas keine Notwendigkeit sieht, eine Einigung vor Beginn des Ramadans zu finden. Die Hamas rechne in dieser Zeit ohnehin nicht mit einer größeren militärischen Operation Israels in Rafah – denn die hätte “katastrophale Folgen” für das angeschlagene Ansehen Israels in der Öffentlichkeit.
Derzeit leben hier etwa 1,5 Millionen Palästinenser auf engstem Raum und unter elenden Bedingungen. “Durch den Ramadan hat die Hamas somit einen Monat gewonnen”, so Gat. Es wird geschätzt, dass etwa 100 israelische Geiseln noch lebend in Gaza festgehalten werden, darunter ungefähr 40 Alte, Kranke und Frauen, die unter einem Deal als erstes freigelassen werden sollen.
Auch Guido Steinberg, Nahost- und Terrorismusforscher von der Stiftung Wissenschaft und Politik, rechnet nicht mit einem Geisel-Deal während des Ramadan. Die Verhandlungen seien generell – auch unabhängig vom nahenden Fastenmonat – festgefahren, erklärt er. Delegationen der Hamas sowie der Vermittler Katar und USA hatten Berichten zufolge am Donnerstag die ägyptische Hauptstadt Kairo ohne Ergebnisse verlassen.
In der Vergangenheit kam es während des Ramadan vor allem auf der sensiblen Stätte des Tempelbergs in Jerusalem zu schweren Zusammenstößen zwischen Palästinensern und der israelischen Grenzpolizei. Experten schätzen aber, dass die Gefahrenlage mit Beginn des Ramadan nicht signifikant steigen wird. “Das Gewaltlevel ist ohnehin schon hoch, sodass ich mir nicht vorstellen kann, dass das noch einmal deutlich mehr steigt”, sagt Steinberg.
Trotzdem sind alle Augen derzeit auf den rechtsradikalen israelischen Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, gerichtet, der im Vorhinein angekündigt hatte, den Zugang zu der heiligen Stätte für muslimische Besucher einschränken zu wollen – eine Provokation für gläubige Muslime.
Die Regierung des israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu hat erklärt, sich diesen Forderungen nicht anzuschließen. Doch dass israelische Politiker wie Ben-Gvir versuchen werden, während des Ramadan den internen Konflikt nochmal anzuheizen, hält Steinberg “nicht für ausgeschlossen”. wp
Frankreich ist am Donnerstag mit der Unterzeichnung eines Sicherheitsabkommens mit Moldau einen weiteren Schritt zur Vertiefung der Beziehungen nach Osteuropa gegangen. Beim Besuch der moldauischen Präsidentin Maia Sandu mit ihrem Verteidigungsminister Anatolie Nosatîi und dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Dumitru Alaiba in Paris unterschrieb der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu einen entsprechenden Vertrag. In den kommenden Monaten solle eine französische Militärmission in Chişinău beginnen.
In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigte Frankreich seine “entschiedene Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und die territoriale Integrität der Republik Moldau”. Russland solle seine illegal auf moldauischem Territorium stationierten Streitkräfte zurückziehen. Moldau ist immer wieder russischen Cyberangriffen oder Desinformationsattacken ausgesetzt. Vergangene Woche riefen Separatisten in der von Russland unterstützten Separatistenregion Transnistrien nach russischem Schutz.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor der Unterzeichnung, dass er mit Sandu die Gespräche fortführen wolle, die sie bei der Ukraine-Konferenz in Paris am 26. Februar geführt hatten. Im Nachgang zur Konferenz hatte er den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht ausgeschlossen. Am Donnerstag bekräftigte er erneut seine Unterstützung für einen baldigen Beitritt Moldaus in die EU. “Moldaus Inspiration für seine europäische Zukunft wie auch die der Ukraine sind eine Herausforderung für Wladimir Putins Russland”, sagte Macron bei dem Treffen.
Außerdem war seine Wende zur außereuropäischen Beschaffung von Artilleriemunition wegen seiner umstrittenen Äußerungen zu einem möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine in den Hintergrund gerückt.
Eigentlich hätte Macron am Donnerstag gerne die Unterstützung der Ukraine mit Artilleriemunition besprochen. Weil zahlreiche Ministerinnen und Minister absagten, fand in Paris kein Gipfel statt, wie Politico berichtete. Am Dienstag war er nach Tschechien gereist, wo er zwar sagte, dass er sich dem tschechischen Plan anschließen wolle, 800.000 Schuss Munition für 1,4 Milliarden Euro außereuropäisch zu beschaffen.
In welcher Höhe Frankreich sich beteiligen werde, präzisierte er aber nicht. Bis zur Konferenz am 26. Februar hatte Frankreich sich gewehrt, mit europäischen Geldern außereuropäisch Munition zu kaufen. Am Mittwoch zog der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit nach und sagte, dass auch Deutschland sich mit einem dreistelligen Millionenbetrag beteilige. bub
Siemtje Möller (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, hat am Donnerstag die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigt, keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern: “Von der Taurus-Lieferung als Signal der fehlenden Unterstützung für die Ukraine zu sprechen, das überschätzt das Waffensystem. Obwohl ich weiß, welchen Effekt Taurus hat und warum es wichtig für die Ukraine ist, das System in ihrem Arsenal zu haben”, sagte sie auf der “Annual Conference on Russia” im estnischen Tartu. Auch bekräftigte sie, dass Bundeswehr-Soldaten nie in der Ukraine kämpfen und Deutschland damit zur Kriegspartei machen würden.
Deutschland werde seine Unterstützung für die Ukraine dieses Jahr weiter ausbauen, vor allem im Bereich der Luftverteidigung. Die USA blieben für Europa ein wichtiger Partner bei Schlüsselfähigkeiten wie nukleare Garantien, “aber Europa, vor allem West- und Südeuropa, muss mehr tun für die eigene Sicherheit”, sagte Möller. Der Fokus liege auf der Stärkung der Zusammenarbeit und Fähigkeiten. “Die Allianz ist klar und eindeutig bezüglich des Artikel 5 des Nordatlantikvertrages: Wenn notwendig, werden wir zusammen jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen.”
Die geleakte Telefonkonferenz der Luftwaffe bezeichnete sie als hybride Attacke Russlands auf Deutschlands Regierung. “Wir sind uns bewusst, dass Russland uns eine offensichtliche Falle gestellt hat und versuchen wollte, Unruhe zwischen unseren Alliierten und uns zu stiften.” Die Publizierung dieses Telefonats sei ein Versuch gewesen, die deutsche Politik zu unterminieren.
Gefragt zur Wehrpflicht, sagte Möller, dass sich Verteidigungsminister Boris Pistorius bald für ein Modell, das “gut für Deutschland” sei, festlegen werde, dann werde er mit dem Kanzler sprechen. Im Parlament allerdings sehe sie derzeit keine Mehrheit für die Wehrpflicht. klm
Oberstleutnant Torben Arnold ist derzeit als Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig. Sein Papier “Handlungsnotwendigkeiten durch technische Innovationen” kann nur als deutliche Warnung an Verteidigungsministerium, Haushalts- und Verteidigungspolitiker gelesen werden, die anstehenden Veränderungen und Notwendigkeiten nicht zu unterschätzen.
Darin heißt es unter anderem: Ein Mangel an “zielgerichteter Umsetzung” der bekannten Notwendigkeiten würde sich “in besonderem Maße an der ausbleibenden oder nicht ausreichenden Einführung und Nutzung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) oder unbemannter Systeme unterschiedlicher Größe und an der unzureichenden Nutzung neuartiger Munition wie Loitering-Munition” zeigen. Die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, schreibt Arnold, habe “das Potential, Veränderungen für das Militär herbeizuführen wie einst das Schießpulver, der Verbrennungsmotor oder das Internet.” Er fordert eine viel intensivere Beschäftigung mit dem Großthema.
Der Kern seiner Kritik aber setzt viel früher an. Der Fokus aller Debatten liege in aller Regel auf Großgerät – was kleinere Projekte verdränge, die aber maßgeblich für das Zusammenwirken seien. “Die Bundeswehr ist weit von der Fähigkeit entfernt, Echtzeitinformationen auszutauschen und bei Unterstützungsaufgaben Informationen schnell und stringent zu verarbeiten”, schreibt Arnold in der Analyse. “Damit aber überhaupt modernste technologische Mittel wie digitale Führungssysteme, unbemannte Systeme und KI eingesetzt werden können, müssen immer noch Grundvoraussetzungen geschaffen werden.”
Tatsächlich führt die Bundeswehr erst nach und nach Systeme wie Systematics SitaWare als digitales Battle-Management-System mit Nahezu-Echtzeitdarstellungen ein. Sie kämpft zudem an vielen Stellen mit der ausgebliebenen Digitalisierung der vergangenen 30 Jahre. Das wohl bekannteste Beispiel für Legacy-Probleme sind die digitalen Funkgeräte, die im Sprechbetrieb teilweise die Datenverbindung unterbrechen müssen.
Derzeit wird zudem um Prioritätensetzung bei der Nutzung der Mittel aus dem Sondervermögen in Bendlerblock und Bundestag intensiv gerungen. fst
Foreign Policy: The ‘Military Schengen’ Era Is Here. Der geplante Militärkorridor zwischen den Niederlanden, Deutschland und Polen als erster Schritt hin zu einem “militärischen Schengenraum” kommt spät, aber er könnte Nachahmer finden – etwa von Griechenland nach Rumänien.
Financial Times: Germany, France and how not to do deterrence. “In einer Zeit, in der sich die Sicherheitsherausforderungen vervielfachen, ist die überwältigende Botschaft aus Europa die eines Durcheinanders“, urteilt die FT und kritisiert Widersprüchlichkeiten, sowie außenpolitische Fehltritte der zentralen Akteure Kontinentaleuropas.
TIME – The New Age of Naval Power. Die Ukraine hat mit ihren Drohnen etwa ein Drittel der russischen Schwarzmeer-Flotte versenkt. Sind Marineflotten deshalb obsolet? Nein – die Abhängigkeit von der See und der Seemacht ist heute größer denn je. In einem umkämpften maritimen Jahrhundert sollten wir anfangen, über Seestreitkräfte als die ultimative nationale Sicherheitsversicherung nachzudenken.
Spiegel: Wer traut sich durchs Rote Meer? Aufgrund der Angriffe der Huthi konnte im Roten Meer zuletzt nur ein Fünftel der erwarteten Frachtmenge transportiert werden. Erste Reedereien nehmen den Schiffsverkehr wieder auf, andere Logistikkonzerne setzten auf Alternativen, wie Landtransite durch Saudi-Arabien oder Zugrouten über die Eurasische Landbrücke – die teilweise auch durch Russland führen.
International Crisis Group: Armenia Struggles to Cope with Exodus from Nagorno-Karabakh. 100.000 Menschen mussten im September 2023 aus Bergkarabach fliehen. Ein neues Leben in Armenien ist für die meisten die einzige Option. Eine Herausforderung für das Land, in dem ein Viertel der Einwohner unter der Armutsgrenze leben. Internationale Hilfszahlungen decken nicht einmal die Hälfte des finanziellen Bedarfs.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern hat Finnland die Wehrpflicht nach dem Kalten Krieg nicht abgeschafft oder ausgesetzt. Dafür gibt es drei Hauptgründe.
Für viele kleinere europäische Länder ist die Wehrpflicht die einzige Möglichkeit, eine ausreichende Truppenstärke zu gewinnen. Das haben auch die baltischen Staaten erkannt: Estland hat bereits in den 1990er-Jahren die Wehrpflicht eingeführt, 2015 Litauen, und ab Januar 2024 folgte Lettland dem Beispiel der beiden Nachbarn. In Schweden wurde ebenfalls eine teilweise Wehrpflicht 2017 wiedereingeführt.
In Deutschland ist jedoch die Wiedereinführung der 2011 pausierten Wehrpflicht eine Scheindebatte. Die Bundeswehr verfügt momentan ohnehin nicht über ausreichende Kapazität, um jährlich ganze Alterskontingente zu trainieren. In Finnland sind die Streitkräfte in Friedenszeiten eine Trainingsorganisation, und das kann sich Deutschland mit all den Versprechen an die Nato in den nächsten Jahren nicht leisten. Personal und Ausrüstung wird anderswo gebraucht, beispielsweise in Litauen.
Das schwedische Beispiel zeigt, wie einfach es ist, die Streitkräfte herunterzufahren – und wie schwer, teuer und langsam, sie wiederaufzubauen. Wenn in Finnland jährlich 23.000 Wehrpflichtige plus weitere tausende Reservisten trainiert werden, haben die schwedischen Streifkräfte seit 2017 bisher die Kapazität ausgebaut, jährlich circa 7.000 Wehrpflichtige aufzunehmen.
Zudem ist Deutschland nicht mehr ein Frontstaat wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Selbst in einem noch so unwahrscheinlichen Nato-Russland-Krieg wäre das Ziel, dass das Kampfgeschehen nie deutschen Boden erreicht. Landesverteidigung ist im deutschen Fall im wahrsten Sinne des Wortes Bündnisverteidigung. Hätte Deutschland also eine massive, auf einer Wehrpflicht basierende Reserve, würden die deutschen Reservistinnen und Reservisten höchstwahrscheinlich irgendwo an der Ostflanke kämpfen.
Das wiederum wirft Fragen darüber auf, zu welchen Aufträgen Reservisten außerhalb Deutschlands verpflichtet werden könnten – eine Frage, die momentan in Finnland gesetzlich neu geregelt werden muss. Eine alternative Idee wäre, Berufssoldaten in den Kampf an die Ostflanke zu schicken, und Logistik und Zivilschutz in Deutschland durch Reservisten zu besetzen. Dies könnte jedoch wahrscheinlich auch auf eine andere Weise realisiert werden.
Letztlich fehlt in Deutschland der notwendige Wehrwille, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Wehrpflicht beitragen würde. Umfragen zeichnen Werte zwischen unter 20 und bis zu 40 Prozent für die Bereitschaft, Deutschland mit Waffen zu verteidigen, wobei mehr als die Hälfte eigene Beteiligung ablehnen. Im Vergleich ist die Verteidigungsbereitschaft in Finnland momentan mit 85 Prozent auf Rekordhöhe, und auch die Wehrpflicht genießt hohe Zustimmung.
Dies erklärt sich durch die in der Bevölkerung eindringlich internalisierte Bedrohungswahrnehmung, die in Deutschland – auch aufgrund eines anderen unmittelbaren Bedrohungsumfelds – nicht gegeben ist. Mit einer voreiligen Wiedereinführung einer staatlich aufgezwungenen Verteidigungspflicht riskiert man, die Bevölkerung weiter zu entfremden.
Minna Ålander ist Sicherheitsexpertin des Finnish Institute of International Affairs.
fast zwei Jahre nach dem Schweden seinen Mitgliedsantrag zur Nato gestellt hat, übergab Ministerpräsident Ulf Kristersson gestern in Washington die Beitrittsurkunde an US-Außenminister Antony Blinken. Vor dem offiziellen Beitritt hat Nana Brink den schwedischen Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin gefragt, wie er das traditionell pazifistische Land militärisch resilienter machen will.
Ein Element Schwedens Gesamtverteidigung ist sein Wehrpflichtmodell, für das Verteidigungsminister Boris Pistorius ein “Faible” habe, wie er vor seiner Reise nach Schweden, Norwegen und Finnland sagte. Auf der Reise sucht er nach weiterer Inspiration für ein mögliches deutsches Modell. Heute beendet er seinen viertägigen Trip in Finnland, das sich eine über 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt.
Wegen der Nähe zu Russland und der ständigen Bedrohungswahrnehmung hat Finnland die Wehrpflicht nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht abgeschafft. Deutschland hingegen fehle der “notwendige Wehrwille”, schreibt die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander in ihrem Standpunkt. Die Diskussionen um die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland hält sie deshalb für eine Scheindebatte.
Ich wünsche eine erkenntnisreiche Lektüre
Bei seinem Besuch Anfang der Woche hat Verteidigungsminister Boris Pistorius das schwedische Wehrpflichtmodell als wegweisend auch für Deutschland gelobt. Auch in Sachen Zivilschutz hat das Land einiges zu bieten. In einer viel beachteten Rede sagte Schwedens Zivilschutzminister Carl-Oskar Bohlin im Januar: “Es kann Krieg in Schweden geben”. Der 38-jährige Konservative, der der Partei von Ministerpräsident Ulf Kristersson angehört, erklärt im Gespräch mit Table.Briefings, wie Schweden sein Gesamtverteidigungskonzept modernisiert.
Ihre Rede hat eine Menge Kritik ausgelöst. Würden Sie die gleichen Worte noch einmal wählen?
Sie haben auf jeden Fall eine öffentliche Debatte ausgelöst und die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker dazu veranlasst, ein sinnvolles Gespräch über dieses wichtige Thema zu führen. Wir versuchen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie die Sicherheitslage um uns herum aussieht. Wir behaupten ja nicht, dass eine unmittelbare Kriegsgefahr gegen Schweden besteht. Aber angesichts des Risikos eines bewaffneten Angriffs ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit das Verantwortungsvollste, was man tun kann.
Wie wollen Sie eine stärkere Sensibilisierung erreichen? Schweden hat eine lange pazifistische Tradition, sich nicht zu sehr in militärische Angelegenheiten einzumischen.
Und das mag einer der Gründe sein, warum die Rede, die ich und andere Minister und unser Oberbefehlshaber gehalten haben, warum dies gesagt werden musste. Wir haben seit sehr langer Zeit Frieden. Wir haben keine institutionelle Erinnerung an einen bewaffneten Konflikt auf schwedischem Boden. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir einen ernannten Minister für Zivilschutz, und der bin ich. Und das unterstreicht die Priorität dieser Regierung, den Zivilschutz in Schweden wieder aufzubauen.
Jetzt fordern Sie mehr Tempo dabei. Wo ist die Modernisierung des schwedischen Zivilschutzes noch nicht vorangekommen?
Wir machen in allen Bereichen Fortschritte. Zum Beispiel im Gesundheitssektor, wo wir die medizinische Vorratshaltung wieder einführen. Wir kümmern uns um unseren Katastrophenschutz, unsere Schutzräume, die in Schweden zu den größten Schutzräumen pro Einwohner in ganz Europa gehören, die aber seit langem nicht mehr genutzt werden. Wir stecken mehr Geld in den Bereich der Rettungsdienste, weil wir sehen, dass sie nur für den Einsatz in Friedenszeiten ausgelegt sind. Außerdem ist der Energiesektor wichtig, wo wir im Falle eines bewaffneten Angriffs zusätzliches Personal benötigen, um kritische Infrastrukturen zu betreuen und zu reparieren.
Die schwedische Bürgerwehr (Hemvärnet), eine Freiwilligenorganisation innerhalb der schwedischen Streitkräfte, bekommt gerade großen Zulauf. Allein in den ersten beiden Januarwochen haben sich 1200 Freiwillige gemeldet.
Ja, viele Schweden denken: Ich möchte etwas für mein Land tun. Der Wille, Schweden zu verteidigen, hat in der schwedischen Öffentlichkeit nach der Invasion in der Ukraine zugenommen, und ich denke, das ist auf das gestiegene Bewusstsein zurückzuführen.
In Deutschland sprechen wir von “Kriegstüchtigkeit” und es gibt eine Menge Diskussionen darüber, was das bedeutet. Sie gehen noch einen Schritt weiter. Sie fragen ihre Landsleute: Haben Sie Ihren Arbeitgeber gefragt, wie er sich Ihre Rolle in einer Kriegssituation vorstellt?
Diese Frage zielt im Grunde darauf ab, dass jede Organisation, die kritische Dienstleistungen erbringt, als Folge des schwedischen “Total-Defense”-Konzepts mit dieser Frage vertraut sein muss, um die notwendigen Vorbereitungen treffen zu können. Und das ist ein wichtiger kultureller Wandel. Der Hintergrund ist, dass wir nach dem Kalten Krieg einen großen Teil des Zivilschutzes und des schwedischen Gesamtverteidigungskonzepts abgebaut haben. Und jetzt müssen wir uns wieder mit einem bewaffneten Angriff auf Schweden befassen.
Sie sprachen davon, jede Schwedin und jeder Schwede müsse ein batteriebetriebenes Radio und Wasservorräte zu Hause lagern. Welche Vorbereitungen haben Sie privat getroffen?
Natürlich habe ich die Verantwortung für meine persönlichen Vorbereitungen übernommen. Aber im Falle eines bewaffneten Angriffs werde ich nicht in meinem Häuschen sitzen. Ich werde hier im Verteidigungsministerium sein. Aber die Frage unterstreicht einen wichtigen Aspekt. Damit das Gesamtverteidigungskonzept funktioniert, muss jeder einzelne Bürger in Schweden persönliche Verantwortung für seine eigene Bereitschaft übernehmen. Als Grundlage dafür haben wir die sogenannte “totale Verteidigungspflicht”, die jeden Schweden zwischen 16 und 70 Jahren umfasst. Und sie besagt im Wesentlichen, dass jeder sich an der Gesamtverteidigung beteiligen muss. Gesellschaftliche Resilienz ist eine Art Grundstein für die moderne Verteidigungshaltung eines Landes.
Die Ankündigung von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Juni vergangenen Jahres, Deutschland sei bereit, “dauerhaft eine robuste Brigade” in Litauen zu stationieren, kam nicht nur für die Deutschen überraschend. Auch in Litauen gab es erstaunte Gesichter. Laurynas Kasčiūnas, Abgeordneter der christdemokratischen Partei Homeland Union Litauen, sagte damals zu Table.Briefings: “Wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben machen, um bis 2026 fertig zu sein. Dann bleibt es abzuwarten, ob Deutschland auch wirklich bereit ist.” Das Vorkommando, bestehend aus acht bis 15 Personen, soll am 8. April nach Litauen verlegt werden. Auch ein Aufstellungsstab soll noch in diesem Jahr folgen.
Zwar hat Litauen nach aktueller Roadmap bis 2027 Zeit, seine Hausaufgaben zu machen. Aber welche das sind, da widersprechen sich Vilnius und Berlin. Der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas sichert zu: Litauen werde für den Bau der Infrastruktur verantwortlich sein, während Deutschland sich um die zivilen Belange wie Schulen für die 5.000 geplanten Soldatinnen und Soldaten und ziviles Personal kümmern solle. “Wir werden das grenzüberschreitende Abkommen im August/September abschließen”, sagt Anušauskas. Der Termin 2027 werde eingehalten.
In Deutschland scheint man andere Erwartungen zu haben. “Die deutsche Position hierbei ist weiterhin, dass Litauen sowohl die Errichtung der zivilen als auch der militärischen Infrastruktur finanziert”, heißt es aus dem deutschen Verteidigungsministerium.
Gabriel Landsbergis, Außenminister Litauens, weiß um die Zweifel in Berlin. Der Spiegel hatte im Dezember über einen Brief berichtet, in dem die Finanzierung der für die Brigade benötigten Infrastruktur ein “großes finanzielles Problem” besprochen wird, die für Litauen darstellen soll. Außerdem wird ein Mangel an Unterkünften für die Soldaten und ihre Familien befürchtet.
“Litauen bittet nicht um Geschenke. Litauen ist ein Staat, der seine eigene Verantwortung sehr ernst und verantwortungsbewusst wahrnimmt. Wir werden alles finanzieren, was die deutsche Brigade benötigt”, sagte er bei der Münchner Sicherheitskonferenz und fügte hinzu, dass Deutschland mit der Entsendung der Brigade “nicht nur Litauen, sondern auch sich selbst verteidigt”. Die politische Unterstützung für die militärische Finanzierung auf litauischer Seite bleibe bestehen.
Neben der Infrastruktur, die die deutsche Brigade braucht, baut Litauen seine gesamte militärische Infrastruktur großflächig aus, vor allem für die “Very high readiness Joint Task Force” (VJTF) der Nato. “Jedes neue militärische Infrastrukturprojekt trägt zur Abschreckung bei. Zusammen mit der kollektiven Verteidigung ist dies die wichtigste Priorität für die nationale Verteidigung Litauens”, hatte Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas bei der Vorstellung des Projekts betont.
Für Gintaras Ažubalis, ehemaliger litauischer Verteidigungsattaché in Berlin, der Erfahrung mit dem Aufbau der von Deutschland geführten Nato-Battlegroup in Litauen 2017 hat, ist es nicht verwunderlich, dass das endgültige Budget für die Brigade in Litauen nicht feststeht. Vor allem, weil nicht klar ist, wie viel von der neuen zivilen Infrastruktur benötigt wird. “Die Dinge wurden auf militärische Art erledigt. Man erwartete damals keine Fünf-Sterne-Hotels, vieles wurde vor Ort aufgebaut, es gab Container, auch für die Technik. Ich bin sicher, dass sie jetzt genauso arbeiten, denn der Termin 2027 ist sehr ehrgeizig […] Wenn das Panzerbataillon nächstes Jahr eintrifft, bezweifele ich, dass sie in einer schönen Kaserne wohnen werden, wir haben noch nichts über den Bau einer solchen gehört”, sagt Ažubalis.
Zumindest die öffentliche Stimmung gegenüber der deutschen Brigade ist positiv. 82 Prozent der Litauer unterstützen die Entsendung deutscher Truppen – in Deutschland sind es 49 Prozent.
Das Projekt wird bereits von der russischen Propaganda ins Visier genommen. Vor wenigen Wochen kursierte in den sozialen Netzwerken der Aufruf zu einer Kundgebung gegen die deutsche Brigade, der von verdächtigen Accounts erstellt wurde, die offen ihre Unterstützung für die russische Regierung zum Ausdruck brachten. Mit Lisa-Martina Klein
Höhere Lebensmittelpreise, teure Energie, Wechselkursschwankungen – viele Staaten im sogenannten Globalen Süden leiden unter den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Doch dafür wird allzu oft die westliche Sanktionspolitik kritisiert und nicht der eigentliche Verursacher dieser Widrigkeiten. Wie schafft es Russland, vielen Staaten sein Narrativ aufzudrücken? Der Kreml nutzt seine Softpower. Alte sowjetische Netzwerke helfen dabei.
Als Softpower wird die Fähigkeit von Staaten verstanden, ihre Ziele zu erreichen, ohne dafür mit kostenintensiven Instrumenten Druck ausüben zu müssen: Kultur statt Androhungen von Gewalt; Austausch in der Wissenschaft statt Abschottung; ein attraktives Rechtssystem statt Willkür – besonders gut schneidet Russland im Ranking der wichtigsten Softpower-Nationen nicht ab. Aber das Land leistet sich eines der weitreichendsten diplomatischen Netzwerke weltweit. Und damit hat es durchaus Erfolg.
So analysiert das strategische Kommunikationsteam Ost des diplomatischen Dienstes der Europäischen Union, dass “Russland ein Desinformationsökosystem kultiviert, in dem erfundene und ungeprüfte Informationen häufig Tatsachenberichte und unabhängigen Journalismus in etlichen afrikanischen Ländern überlagern.”
Das globale russische Engagement, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, beginnt in der Zeit des Generalsekretärs Nikita Chruschtschow um 1960. Damals mischt sich die Sowjetunion opportunistisch in die Entkolonisierungskämpfe ein. Es sollen möglichst viele Staaten des Erdballs in den sowjetischen Einflussbereich übergehen. Hierzu wird eigens die “Universität der Völkerfreundschaft” als sozialistische Kaderschmiede für die heute als Globaler Süden zusammengefassten Staaten gegründet. So entstehen die weitverzweigten diplomatischen Verbindungen, welche das heutige Russland reaktiviert.
Um Ideologie geht es heute noch weniger als damals. Vielmehr soll die neoimperiale Aggression des Kremls als Kampf gegen die Hegemonie des Westens umgedeutet werden. Tatsächlich wird der Multilateralismus der Vereinten Nationen durch Moskaus (und Pekings) Großmachtgehabe geschädigt und Abstimmungen der UN-Vollversammlung destruktiv, kontrafaktisch und antiwestlich aufgeladen. Nicht zuletzt bei dem Versuch, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren, als sich die globale Aufmerksamkeit nach dem Angriff der Hamas auf Israel verschob.
Doch sieht der Experte für Russlands Afrika-Politik, Samuel Ramani, trotz des geringen Anteils an den gesamten Auslandsinvestitionen von lediglich einem Prozent auf dem afrikanischen Kontinent, Russland nicht nur als einen antiwestlichen Akteur. Ramani betont überdies das strategische Engagement Moskaus in Afrika, welches auf die historisch gewachsene Beständigkeit seiner Beziehungen setzt. Dies trifft insbesondere auf Südafrika zu.
Gleichwohl hat der Kreml die professionelle Risikoabschätzung und verhandlungsbasierte Diplomatie gegen aggressives Großmachtgehabe und Durchsetzung eigener Narrative ausgetauscht. So propagiert Moskau zwar eine sogenannte Multipolare Welt, tatsächlich aber bekämpft es den Multilateralismus.
Die Forderungen nach Mitgestaltung aus den Ländern des Globalen Südens werden entsprechend gekapert. Nicht zuletzt in der Anfang des Jahres erweiterten BRICS-Gruppe, welche nun die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht. Schließlich gibt es keinerlei konstruktive Bestrebungen aus Moskau, den Forderungen nach globaler Mitgestaltung Gestalt zu verleihen. Vielmehr gilt Russland inzwischen als ein “one-issue country”, welches alle Bemühungen auf ein einziges Thema konzentriert: seinen imperialen Angriffskrieg in der Ukraine in den Augen der Weltöffentlichkeit zu legitimieren.
Die vom russischen Imperialismus direkt betroffenen Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE) werden von den Staaten des Globalen Südens nicht als gleichfalls vom Imperialismus betroffene Staaten erkannt. Vielmehr wird ihr Freiheits- und Emanzipationskampf durch die Linse Moskaus eingefärbt und als langer Arm westlicher Imperialismen betrachtet. Dass Russland im Gegensatz zum Westen keine nennenswerte Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sondern vielmehr durch halbstaatliche Gewaltakteure destruktiv agiert, wird so nicht erkannt.
Gleichzeitig waren die MOE-Staaten sowie die baltischen Staaten in der Vergangenheit mit dem eigenen Empowerment beschäftigt. Sie hatten sich kaum um Zusammenarbeit mit den Staaten des Globalen Südens bemüht. Diese Kontakte fehlen jetzt nicht nur der Ukraine, um die eigene Position sowie die Aggression und die Manipulation Russlands global erkennbar zu machen.
Erste Korrekturschritte sind aber schon zu sehen: Nicht zuletzt gibt es signifikante Parallelen der vormals als Peripherien marginalisierten “communities of suffering” der Staaten des Globalen Südens und MOE. So fand im Oktober 2023 an der Universität Pretoria in Südafrika eine Konferenz statt, wo eben diese “Schnittpunkte der Unterdrückung” diskutiert wurden. Dabei wurde auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine gemeinsam “durch die Linse des Kolonialismus” nachvollzogen und analysiert, sagte Rasa Jankauskaitė, die teilnehmende Botschafterin Litauens in Südafrika.
Derweil bildet sich mit der Gruppe “der Freien Völker Postrusslands” eine eigene innerrussische Dekolonialismus-Bewegung. Über 100 verschiedene Ethnien wurden einst auf imperiale Weise zwangsvereinigt. Von den 83 Staatssubjekten sind im heutigen Russland 21 nicht slawisch. Viele weitere haben gar keine Repräsentanz, werden marginalisiert und strukturell benachteiligt. So werden besonders viele Menschen aus den ethnischen Minderheiten für Putins Vernichtungskrieg mobilisiert.
Die kasachische Osteuropahistorikerin Botakoz Kassymbekova, die an der Universität Basel lehrt, konstatiert: “Es ist Zeit, die russische imperiale Unschuld infrage zu stellen.” Das von Putin selbst geschaffene Interesse an der Vergangenheit habe eine neue Reflexion über die Hierarchien des Sowjetregimes hervorgerufen. “Das sowjetische Konstrukt von Russland als altruistische Nation, die sich für nichtrussische Republiken opferte”, gilt nicht mehr.
Das Zusammenfinden der Empowerment-Diskurse der MOE-Staaten und denen des Globalen Südens kann die Resilienz gegen Moskaus Narrative stärken. Das ist eine Chance: Dafür müssten jedoch die Staaten des Westens beziehungsweise des Globalen Nordens nicht nur im Kontext des Kampfes gegen das imperiale Moskau mehr Mitbestimmung aus dem Globalen Süden zulassen. Felix Riefer
Einen erneuten Geisel-Deal zwischen Israel und der Hamas wird es vor Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am kommenden Sonntag wohl nicht mehr geben. Damit würde das ausdrückliche Ziel der US-Regierung verfehlt werden.
Der amerikanische Präsident Joe Biden sieht die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen bei der Hamas. Die Israelis bezeichnete er als “kooperativ”. Die Hamas will einen Waffenstillstand und den Rückzug der Besatzungstruppen aus Gaza – aus israelischer Sicht ist lediglich eine vorübergehende Feuerpause in Gaza denkbar.
In seiner Rede zur Lage der Nation hat Biden in der Zwischenzeit angekündigt, einen temporären Hafen an der Küste des Gazastreifens einrichten, um auf dem Seeweg unverzüglich mehr humanitäre Hilfe in das Palästinensergebiet zu bringen. Der amerikanische Präsident stand bei Anhängern wegen seiner Haltung zu Israel zuletzt unter Druck.
Azar Gat, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Tel Aviv, glaubt, dass die Hamas keine Notwendigkeit sieht, eine Einigung vor Beginn des Ramadans zu finden. Die Hamas rechne in dieser Zeit ohnehin nicht mit einer größeren militärischen Operation Israels in Rafah – denn die hätte “katastrophale Folgen” für das angeschlagene Ansehen Israels in der Öffentlichkeit.
Derzeit leben hier etwa 1,5 Millionen Palästinenser auf engstem Raum und unter elenden Bedingungen. “Durch den Ramadan hat die Hamas somit einen Monat gewonnen”, so Gat. Es wird geschätzt, dass etwa 100 israelische Geiseln noch lebend in Gaza festgehalten werden, darunter ungefähr 40 Alte, Kranke und Frauen, die unter einem Deal als erstes freigelassen werden sollen.
Auch Guido Steinberg, Nahost- und Terrorismusforscher von der Stiftung Wissenschaft und Politik, rechnet nicht mit einem Geisel-Deal während des Ramadan. Die Verhandlungen seien generell – auch unabhängig vom nahenden Fastenmonat – festgefahren, erklärt er. Delegationen der Hamas sowie der Vermittler Katar und USA hatten Berichten zufolge am Donnerstag die ägyptische Hauptstadt Kairo ohne Ergebnisse verlassen.
In der Vergangenheit kam es während des Ramadan vor allem auf der sensiblen Stätte des Tempelbergs in Jerusalem zu schweren Zusammenstößen zwischen Palästinensern und der israelischen Grenzpolizei. Experten schätzen aber, dass die Gefahrenlage mit Beginn des Ramadan nicht signifikant steigen wird. “Das Gewaltlevel ist ohnehin schon hoch, sodass ich mir nicht vorstellen kann, dass das noch einmal deutlich mehr steigt”, sagt Steinberg.
Trotzdem sind alle Augen derzeit auf den rechtsradikalen israelischen Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, gerichtet, der im Vorhinein angekündigt hatte, den Zugang zu der heiligen Stätte für muslimische Besucher einschränken zu wollen – eine Provokation für gläubige Muslime.
Die Regierung des israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu hat erklärt, sich diesen Forderungen nicht anzuschließen. Doch dass israelische Politiker wie Ben-Gvir versuchen werden, während des Ramadan den internen Konflikt nochmal anzuheizen, hält Steinberg “nicht für ausgeschlossen”. wp
Frankreich ist am Donnerstag mit der Unterzeichnung eines Sicherheitsabkommens mit Moldau einen weiteren Schritt zur Vertiefung der Beziehungen nach Osteuropa gegangen. Beim Besuch der moldauischen Präsidentin Maia Sandu mit ihrem Verteidigungsminister Anatolie Nosatîi und dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Dumitru Alaiba in Paris unterschrieb der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu einen entsprechenden Vertrag. In den kommenden Monaten solle eine französische Militärmission in Chişinău beginnen.
In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigte Frankreich seine “entschiedene Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und die territoriale Integrität der Republik Moldau”. Russland solle seine illegal auf moldauischem Territorium stationierten Streitkräfte zurückziehen. Moldau ist immer wieder russischen Cyberangriffen oder Desinformationsattacken ausgesetzt. Vergangene Woche riefen Separatisten in der von Russland unterstützten Separatistenregion Transnistrien nach russischem Schutz.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor der Unterzeichnung, dass er mit Sandu die Gespräche fortführen wolle, die sie bei der Ukraine-Konferenz in Paris am 26. Februar geführt hatten. Im Nachgang zur Konferenz hatte er den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht ausgeschlossen. Am Donnerstag bekräftigte er erneut seine Unterstützung für einen baldigen Beitritt Moldaus in die EU. “Moldaus Inspiration für seine europäische Zukunft wie auch die der Ukraine sind eine Herausforderung für Wladimir Putins Russland”, sagte Macron bei dem Treffen.
Außerdem war seine Wende zur außereuropäischen Beschaffung von Artilleriemunition wegen seiner umstrittenen Äußerungen zu einem möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine in den Hintergrund gerückt.
Eigentlich hätte Macron am Donnerstag gerne die Unterstützung der Ukraine mit Artilleriemunition besprochen. Weil zahlreiche Ministerinnen und Minister absagten, fand in Paris kein Gipfel statt, wie Politico berichtete. Am Dienstag war er nach Tschechien gereist, wo er zwar sagte, dass er sich dem tschechischen Plan anschließen wolle, 800.000 Schuss Munition für 1,4 Milliarden Euro außereuropäisch zu beschaffen.
In welcher Höhe Frankreich sich beteiligen werde, präzisierte er aber nicht. Bis zur Konferenz am 26. Februar hatte Frankreich sich gewehrt, mit europäischen Geldern außereuropäisch Munition zu kaufen. Am Mittwoch zog der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit nach und sagte, dass auch Deutschland sich mit einem dreistelligen Millionenbetrag beteilige. bub
Siemtje Möller (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, hat am Donnerstag die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigt, keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern: “Von der Taurus-Lieferung als Signal der fehlenden Unterstützung für die Ukraine zu sprechen, das überschätzt das Waffensystem. Obwohl ich weiß, welchen Effekt Taurus hat und warum es wichtig für die Ukraine ist, das System in ihrem Arsenal zu haben”, sagte sie auf der “Annual Conference on Russia” im estnischen Tartu. Auch bekräftigte sie, dass Bundeswehr-Soldaten nie in der Ukraine kämpfen und Deutschland damit zur Kriegspartei machen würden.
Deutschland werde seine Unterstützung für die Ukraine dieses Jahr weiter ausbauen, vor allem im Bereich der Luftverteidigung. Die USA blieben für Europa ein wichtiger Partner bei Schlüsselfähigkeiten wie nukleare Garantien, “aber Europa, vor allem West- und Südeuropa, muss mehr tun für die eigene Sicherheit”, sagte Möller. Der Fokus liege auf der Stärkung der Zusammenarbeit und Fähigkeiten. “Die Allianz ist klar und eindeutig bezüglich des Artikel 5 des Nordatlantikvertrages: Wenn notwendig, werden wir zusammen jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen.”
Die geleakte Telefonkonferenz der Luftwaffe bezeichnete sie als hybride Attacke Russlands auf Deutschlands Regierung. “Wir sind uns bewusst, dass Russland uns eine offensichtliche Falle gestellt hat und versuchen wollte, Unruhe zwischen unseren Alliierten und uns zu stiften.” Die Publizierung dieses Telefonats sei ein Versuch gewesen, die deutsche Politik zu unterminieren.
Gefragt zur Wehrpflicht, sagte Möller, dass sich Verteidigungsminister Boris Pistorius bald für ein Modell, das “gut für Deutschland” sei, festlegen werde, dann werde er mit dem Kanzler sprechen. Im Parlament allerdings sehe sie derzeit keine Mehrheit für die Wehrpflicht. klm
Oberstleutnant Torben Arnold ist derzeit als Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig. Sein Papier “Handlungsnotwendigkeiten durch technische Innovationen” kann nur als deutliche Warnung an Verteidigungsministerium, Haushalts- und Verteidigungspolitiker gelesen werden, die anstehenden Veränderungen und Notwendigkeiten nicht zu unterschätzen.
Darin heißt es unter anderem: Ein Mangel an “zielgerichteter Umsetzung” der bekannten Notwendigkeiten würde sich “in besonderem Maße an der ausbleibenden oder nicht ausreichenden Einführung und Nutzung neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) oder unbemannter Systeme unterschiedlicher Größe und an der unzureichenden Nutzung neuartiger Munition wie Loitering-Munition” zeigen. Die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, schreibt Arnold, habe “das Potential, Veränderungen für das Militär herbeizuführen wie einst das Schießpulver, der Verbrennungsmotor oder das Internet.” Er fordert eine viel intensivere Beschäftigung mit dem Großthema.
Der Kern seiner Kritik aber setzt viel früher an. Der Fokus aller Debatten liege in aller Regel auf Großgerät – was kleinere Projekte verdränge, die aber maßgeblich für das Zusammenwirken seien. “Die Bundeswehr ist weit von der Fähigkeit entfernt, Echtzeitinformationen auszutauschen und bei Unterstützungsaufgaben Informationen schnell und stringent zu verarbeiten”, schreibt Arnold in der Analyse. “Damit aber überhaupt modernste technologische Mittel wie digitale Führungssysteme, unbemannte Systeme und KI eingesetzt werden können, müssen immer noch Grundvoraussetzungen geschaffen werden.”
Tatsächlich führt die Bundeswehr erst nach und nach Systeme wie Systematics SitaWare als digitales Battle-Management-System mit Nahezu-Echtzeitdarstellungen ein. Sie kämpft zudem an vielen Stellen mit der ausgebliebenen Digitalisierung der vergangenen 30 Jahre. Das wohl bekannteste Beispiel für Legacy-Probleme sind die digitalen Funkgeräte, die im Sprechbetrieb teilweise die Datenverbindung unterbrechen müssen.
Derzeit wird zudem um Prioritätensetzung bei der Nutzung der Mittel aus dem Sondervermögen in Bendlerblock und Bundestag intensiv gerungen. fst
Foreign Policy: The ‘Military Schengen’ Era Is Here. Der geplante Militärkorridor zwischen den Niederlanden, Deutschland und Polen als erster Schritt hin zu einem “militärischen Schengenraum” kommt spät, aber er könnte Nachahmer finden – etwa von Griechenland nach Rumänien.
Financial Times: Germany, France and how not to do deterrence. “In einer Zeit, in der sich die Sicherheitsherausforderungen vervielfachen, ist die überwältigende Botschaft aus Europa die eines Durcheinanders“, urteilt die FT und kritisiert Widersprüchlichkeiten, sowie außenpolitische Fehltritte der zentralen Akteure Kontinentaleuropas.
TIME – The New Age of Naval Power. Die Ukraine hat mit ihren Drohnen etwa ein Drittel der russischen Schwarzmeer-Flotte versenkt. Sind Marineflotten deshalb obsolet? Nein – die Abhängigkeit von der See und der Seemacht ist heute größer denn je. In einem umkämpften maritimen Jahrhundert sollten wir anfangen, über Seestreitkräfte als die ultimative nationale Sicherheitsversicherung nachzudenken.
Spiegel: Wer traut sich durchs Rote Meer? Aufgrund der Angriffe der Huthi konnte im Roten Meer zuletzt nur ein Fünftel der erwarteten Frachtmenge transportiert werden. Erste Reedereien nehmen den Schiffsverkehr wieder auf, andere Logistikkonzerne setzten auf Alternativen, wie Landtransite durch Saudi-Arabien oder Zugrouten über die Eurasische Landbrücke – die teilweise auch durch Russland führen.
International Crisis Group: Armenia Struggles to Cope with Exodus from Nagorno-Karabakh. 100.000 Menschen mussten im September 2023 aus Bergkarabach fliehen. Ein neues Leben in Armenien ist für die meisten die einzige Option. Eine Herausforderung für das Land, in dem ein Viertel der Einwohner unter der Armutsgrenze leben. Internationale Hilfszahlungen decken nicht einmal die Hälfte des finanziellen Bedarfs.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern hat Finnland die Wehrpflicht nach dem Kalten Krieg nicht abgeschafft oder ausgesetzt. Dafür gibt es drei Hauptgründe.
Für viele kleinere europäische Länder ist die Wehrpflicht die einzige Möglichkeit, eine ausreichende Truppenstärke zu gewinnen. Das haben auch die baltischen Staaten erkannt: Estland hat bereits in den 1990er-Jahren die Wehrpflicht eingeführt, 2015 Litauen, und ab Januar 2024 folgte Lettland dem Beispiel der beiden Nachbarn. In Schweden wurde ebenfalls eine teilweise Wehrpflicht 2017 wiedereingeführt.
In Deutschland ist jedoch die Wiedereinführung der 2011 pausierten Wehrpflicht eine Scheindebatte. Die Bundeswehr verfügt momentan ohnehin nicht über ausreichende Kapazität, um jährlich ganze Alterskontingente zu trainieren. In Finnland sind die Streitkräfte in Friedenszeiten eine Trainingsorganisation, und das kann sich Deutschland mit all den Versprechen an die Nato in den nächsten Jahren nicht leisten. Personal und Ausrüstung wird anderswo gebraucht, beispielsweise in Litauen.
Das schwedische Beispiel zeigt, wie einfach es ist, die Streitkräfte herunterzufahren – und wie schwer, teuer und langsam, sie wiederaufzubauen. Wenn in Finnland jährlich 23.000 Wehrpflichtige plus weitere tausende Reservisten trainiert werden, haben die schwedischen Streifkräfte seit 2017 bisher die Kapazität ausgebaut, jährlich circa 7.000 Wehrpflichtige aufzunehmen.
Zudem ist Deutschland nicht mehr ein Frontstaat wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Selbst in einem noch so unwahrscheinlichen Nato-Russland-Krieg wäre das Ziel, dass das Kampfgeschehen nie deutschen Boden erreicht. Landesverteidigung ist im deutschen Fall im wahrsten Sinne des Wortes Bündnisverteidigung. Hätte Deutschland also eine massive, auf einer Wehrpflicht basierende Reserve, würden die deutschen Reservistinnen und Reservisten höchstwahrscheinlich irgendwo an der Ostflanke kämpfen.
Das wiederum wirft Fragen darüber auf, zu welchen Aufträgen Reservisten außerhalb Deutschlands verpflichtet werden könnten – eine Frage, die momentan in Finnland gesetzlich neu geregelt werden muss. Eine alternative Idee wäre, Berufssoldaten in den Kampf an die Ostflanke zu schicken, und Logistik und Zivilschutz in Deutschland durch Reservisten zu besetzen. Dies könnte jedoch wahrscheinlich auch auf eine andere Weise realisiert werden.
Letztlich fehlt in Deutschland der notwendige Wehrwille, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Wehrpflicht beitragen würde. Umfragen zeichnen Werte zwischen unter 20 und bis zu 40 Prozent für die Bereitschaft, Deutschland mit Waffen zu verteidigen, wobei mehr als die Hälfte eigene Beteiligung ablehnen. Im Vergleich ist die Verteidigungsbereitschaft in Finnland momentan mit 85 Prozent auf Rekordhöhe, und auch die Wehrpflicht genießt hohe Zustimmung.
Dies erklärt sich durch die in der Bevölkerung eindringlich internalisierte Bedrohungswahrnehmung, die in Deutschland – auch aufgrund eines anderen unmittelbaren Bedrohungsumfelds – nicht gegeben ist. Mit einer voreiligen Wiedereinführung einer staatlich aufgezwungenen Verteidigungspflicht riskiert man, die Bevölkerung weiter zu entfremden.
Minna Ålander ist Sicherheitsexpertin des Finnish Institute of International Affairs.